RUDOLF STEINER G E S A M T AU S G AB E
VORT RAGE
vortrAge vor mitgliedern
der anthroposophischen gesellschaft
RUDOLF STEINER
Der Wert des Denkens
fur eine den Menschen befriedigende
Erkenntnis
Das Verhaltnis der Geisteswissenschaft
zur Naturwissenschaft
Elf Vortrage, gehalten in Dornach
am 20. August 1915 und
zwischen dem 17. September und 9. Oktober 1915
1984
RUDOLF STEINER VERLAG
DORNACH/SCHWEIZ
Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Zuhorer-Mitschriften
herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung
Die Herausgabe besorgte Hella Wiesberger
unter Mitarbeit von Hans Huber fur Teil I,
und Gian A. Balaster und Maurice Martin fur Teil II
1. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1984
Teilausgabe
Dornach, 17., 18., 19-, 20. September 1915 «Der Wert des Denkens
fur eine den Menschen befriedigende Erkenntnis», Basel 1958
Bibliographic- Nr. 164
Zu den Zeichnungen siehe den Text zu Beginn der Hinweise
Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlafiverwakung, Dornach /Schweiz
© 1984 by Rudolf Steiner-NachlaKverwaltung, Dornach /Schweiz
Printed in Switzerland by Zbinden Druck und Verlag AG, Basel
ISBN 3-7274-1640-8
Zu den Veroffentlichungen
aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner
Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissen-
schaft bilden die von Rudolf Steiner (1861-1925) geschriebenen und
veroffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis
1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, sowohl offentlich wie auch fur
die Mitglieder der Theosophischen, spater Anthroposophischen Ge-
sellschaft. Er seJbst wollte ursprimglich, dafl seine durchwegs frei
gehaltenen Vortrage nicht schriftlich festgehalten wiirden, da sie
als «mundliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht
waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige und fehlerhafte
Horernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich
veranlafit, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe betraute
er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Stenogra-
phierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die fur die Her-
ausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner aus
Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschriften selbst kor-
rigieren konnte, mufi gegeniiber alien Vortragsveroffentlichungen
sein Vorbehalt berucksichtigt werden: «Es wird eben nur hinge -
nommen werden miissen, dafi in den von mir nicht nachgesehenen
Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.»
Uber das Yerhaltnis der Mkgliedervortrage, welche zunachst nur
als interne Manuskriptdrucke zuganglich waren, zu seinen offent-
lichen Schriften aufiert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie
«Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist
am Schlufi dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte gilt glei-
chermafien auch fur die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, welche
sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissen-
schaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten.
Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemafi
ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt-
ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil
dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nahere An-
gaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise.
INHALT
I
DER WERT DES DENKENS
FUR EINE DEN MENSCHEN BEFRIEDIGENDE ERKENNTNIS
Erster Vortrag, Dornach, 17. September 1915
Die Schwierigkeit, sich in ein Verhaltnis zur geistigen Welt zu setzen.
Die Frage nach dem Wert des Denkens. Der menschliche Erkenntnisweg
im Sinne des aristotelischen Satzes: Es ist nichts in der Intelligenz, was
nicht in den Sinnen ist. Der Zusatz des Leibniz. Das Denken, eine Tatig-
keit des Atherleibes. Frage nach der Realitat der Gedanken. Intellektuelle
Tatigkeit: tote Bilder. Vergessene Vorstellungen als lebenfordernde und
lebenhemmende Krafte. Welt der Erinnerungsmoglichkeit: Imagina-
tionen. Welt des unbewuflten Vorstellungslebens: Inspirationen.
Zweiter Vortrag, 18. September 1915
Das Hinuntersinken der Vorstellungen ins Unbewufite; ein Schwellenvor-
gang. Die Erinnerung. Unterschied zwischen Ruckschauiibung und ge-
wohnlicher Erinnerung. Die beweglichen Gedanken im Atherleib am
Beispiel von Goethes Metamorphosegedanken. Die Entwicklung von der
unbewufiten imaginativen Erkenntnis uber die physische zur bewufiten
imaginativen Erkenntnis: ein Hinuntersteigen und ein Wiederaufstieg.
Die Welt des Entstehens und Vergehens und die Welt des Zornes und
der Strafe.
Dritter Vortrag, 19. September 1915
Das atavistische, visionare Hellsehen: ein Zuriickfallen in die alte Monden-
intelligenz. (Beispiel: Die Gestalt der Theodora in den Mysterienspie-
len.) Imaginative Erkenntnis bei Jakob Bohme und Saint-Martin. Das
Hineinleben in die inspMerte Welt: ein Erleben der alten Sonnentatsa-
chen. Das alte Mondendasein fortwirkend in der Embryologie, das Son-
nendasein in den kiinstlerischen Inspirationen. Die intuitive Erkenntnis,
ein Zuruckkehren zum alten Saturndasein. Der Fortschritt vom Monden-
dasein zur Erdenentwicklung. Die schopferischen BegrrfFe der Engel auf
dem alten Mond und ihr Zusammenhang mit den Formen des heutigen
Tierreiches. Das Fortschreiten des Erdenmenschen zu emotionslosen,
objektiven BegrifFen.
VierterVortrag, 20. September 1915
Zusammenfassung des Vorhergegangenen: tote physische Erkenntnis, le-
bendige imaginative Erkenntnis, inspirierte Erkenntnis und ihr Zusam-
menhang mit dera alten Monden- und Sonnendasein. Die objektive Ge-
setzmafiigkeit der Inspirationserlebnisse. Das Empfinden der Naturtatsa-
chen als Angelegenheiten des eigenen Herzens. Die Unterscheidung von
Taten und Personlichkeit bei der Menschenbeurteilung. Falsche Tenden-
zen in der modernen Jurisprudenz. Aufgabe des Geisteswissenschafters:
nicht uber die Tat eines Menschen zu richten, sondern sie zu verstehen.
Notwendige Seelenanstrengung, um zur hoheren Erkenntnis zu kom-
men. Humor als Gegengewicht. Das Verknupftsein der menschlichen
Organisation mit der alten Sonnenentwicklung durch Luft und Warme.
Die Beziehung zwischen Atmung und Inspiration.
II
DAS VERHALTNIS DER GEISTES WISSENSCH AFT
ZUR NATURWISSENSCHAFT
Besprechung der Broschiire von F. von Wrangell «Wissenschaft und Theosophie»
als Beispiel, wie Schriften in Zweigen bespfochen werden konnen
Erster Vortrag, Dornach, 26. September 1915
Wrangells Charakterisierung der materialistisch-mechanischen Weltan-
schauung. Die geisteswissenschaftliche Methode der Charakterisierung
durch Sprechenlassen von Tatsachen oder Personlichkeiten. Besprechung
der ersten Kapitel der Wrangellschen Schrift: «Die Grundannahmen
materialistisch-mechanischer Weltanschauung - Pruning dieser Grund-
annahmen - Freiheit und Sittlichkeit - Das Weltratsel - Ursprung der
Vorstellung der Gesetzmafiigkeit - Freiheit des Willens kann nicht erfah-
rungsmaflig erwiesen werden - Erkenntnistheoretischer Ruckblick.»
Zweiter Vortrag, 27. September 1915
Dichtungen, Leben und Personlichkeit von Marie Eugenie delle Grazie
als Zeugnis wirklichen Ernstnehmens der materialistisch-mechanischen
Weltauffassung. Besprechung der weiteren Kapitel Wrangells: «Bildung
der Begriffe - Vorstellungen von Raum und Zeit - Das Kausalitatsprin-
zip - Anwendung der Vorstellung der Willkur auf die Umwelt - Beob-
achtung gleichmafiig verlaufender Erscheinungen - Wesen aller Wis-
senschaft - Sternenkunde, die alteste Wissenschaft - Gleichmafiige
Bewegung - Das Messen - Das den Uhren zugrunde liegende Prinzip.»
Dritter Vortrag, 2. Oktober 1915 145
Rekapituliefung der bisherigen Ausfuhrungen. Besprechung der weite-
ren Wrangellschen Kapitel: «Fehlergrenze beim Messen - Absolute Giil-
tigkeit logischet und mathematischer Wahrheiten - Alle Naturgesetze
sind der Erfahrung entnommen, haben daher nur bedingte Gultigkeit -
Chemische Gesetze - Physikalische Gesetze - Die Erkenntnis schreitet
vom Einfachen zum Verwickelten fort - Ausdehnung der mechanischen
Vorstellung auf das Organische - Unterschied zwischen leblosen und be-
lebten Korpern - Das Bewufitsein - Die geistigen Erscheinungen - Die
okkulten Fahigkeiten des Menschen - Wesen der Lehre Jesu».
Vierter Vortrag, 3. Oktober 1915 180
Fortfuhrung der Besprechung der Wrangellschen Kapitel: «Wesen der
Lehre Jesu - Wesen der Theosophischen Lehren - Geheimlehren - Unter-
schied zwischen Sinneswissenschaft und Geisteswissenschaft - Die Theo-
sophie, eine Religion».
Funfter Vortrag, 4. Oktober 1915 200
Die Bedeutung der materialistischen Kultur anhand der letzten Wran-
gellschen Kapitel: «Materialismus - Zweifel an der materialistischen Welt-
anschauung - Agnostizismus - Die Quellen des Irrtums okkulter Wahr-
nehmungen liegen sowohl im Subjekt wie auch im Objekt - Fortbestehen
der Seele nach dem Tode - Wiederverkorperung und Karma - Lessings
Ansicht iiber die Lehre der Wiedergeburt - Kurze Zusammenfassung des
Gedankengangs.» - Das atomistische Weltbild. Die Notwendigkeit
einer Hochschule fur Geisteswissenschaft. Die Auseinandersetzung mit
der zeitgenossischen Wissenschaft in den offentlichen Vortragen Rudolf
Steiners.
Sechster Vortrag, 9. Oktober 1915 230
Die Untersuchungen von Verbrechergehirnen durch den Kriminal-
anthropologen Moriz Benedikt. Der zu kurze Hinterhauptslappen bei
Verbrechern und sein Korrektiv durch eine entsprechende Erziehung.
Die psychologischen Forschungsergebnisse der Avenarius-Schule: Nicht
die Wahrheit einer Weltanschauung entscheidet iiber die Annahme der-
selben, sondern die gefuhlsmafiige Predestination.
Ill
EPISODISCHE BETRACHTUNG UBER
RAUM, ZEIT, BEWEGUNG
Dornach, 20. August 1915 251
Episodische Betrachtung der mechanischen Begriffe Raum, Zeit und Ge-
schwindigkeit. Unterscheidung von zwei Arten von Divisionen und Dis-
kussion der kinematischen Formel: Geschwindigkeit = Weg/Zeit. Die
Begriffe Weg und Zeit sind Abstraktionen; die Geschwindigkeit ist der
mechanische Fundamentalbegriff, der so zu den mechanischen Dingen
gehort wie das Leben zu den lebendigen Korpern. So sind Bewegungsvor-
gange mit Uberlichtungsgeschwindigkeit oder der Gedanke an ein auf
wenige Sekunden verkiirztes oder auf Jahrtausende verlangertes Men-
schenleben unreale Begriffe. Da jeder Korper mit dem Lichtather in Be-
ziehung steht und dieser der Beweger des Lichtes ist, kann sich kein Kor-
per schneller als mit Lichtgeschwindigkek bewegen. Bedeutende Physiker
der Gegenwart (z.B. Max Planck) werden auf Grund von experimentellen
Ergebnissen zu der Vorstellung gedrangt: Es gibt eigentlich keine Mate-
rie, sondern nur Locher in einem Ather, dem man selbst keine materiel -
len, sondern nur spirituelle Eigenschaften beilegen darf.
Hinweise 269
Personenregister 280
Register der Werke 282
Rudolf Steiner iiber die Vortragsnachschriften 283
Obersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 285
I
Der Wert des Denkens
fur eine den Menschen befriedigende Erkenntnis
ERSTER VORTRAG
Dornach, 17. September 1915
Fur das Forschen und Sinnen in der physischen Welt ist es vor alien
Dingen, man kann sagen, eine Herzensangelegenheit des Men-
schen, sich zurechtzufinden in den Beziehungen der physischen
Welt - in welcher er sein Dasein zubringt zwischen der Geburt und
dem Tode - zu den hoheren Welten, denen er eigentlich angehort.
Wir sind uns ja ganz klar dariiber, daft im Menschen, wenn auch ein
noch so unbestimmtes Denken, so doch ein eminent deutliches Ge-
fiihl, eine deutliche Empfindung davon lebt, daft er in irgendeiner
Form wenigstens etwas iiber diese Beziehungen wissen miisse. Denn
mag der Mensch auch noch so unbestimmt iiber die hoheren Welten
denken, mag er selbst aus verschiedenen Griinden heraus verzwei-
feln an einer Moglichkeit, iiber sie etwas wissen zu konnen: es ist
nun einmal dem menschlichen Fiihlen und Empfinden natiirlich
und angemessen, sich zu einer hoheren Welt in Beziehung zu setzen.
Gewifi laftt sich dagegen einwenden, daft es aber doch, insbeson-
dere in unserer heutigen materialistischen Zeit, zahlreiche Menschen
gibt, welche entweder in irgendeiner Form leugnen, daft es iiber-
haupt eine geistige Welt gibt, oder wenigstens leugnen, daft der
Mensch von ihr etwas wissen konne. Man kann aber auch sagen, daft
man erst lernen muft, sich gewissermafien «negativ» zur geistigen
Welt zu verhalten; denn «natiirlich» ist es dem Menschen nicht, eine
geistige, eine iibersinnliche Welt abzuleugnen. Man muft erst durch
allerlei Theorien dazu kommen; man muft erst, man konnte sagen
«verlehrt» werden, um eine geistige Welt mit irgendeinem Grade
des Ernstes zu leugnen. So daft, wenn man vom natiirlichen Men-
schen spricht, man doch so sprechen kann, daft es seinem Empfin-
den angemessen ist, den Seelenblick in irgendeiner Art hinaufzu-
wenden zu den geistigen Welten.
Nun muft aber, wenn iiberhaupt nur die Moglichkeit besteht,
daft es Leute gibt, die von geistigen Welten ganz und gar nichts wis-
sen wollen, in der Menschennatur irgend etwas vorliegen, das es
schwierig macht, das Verhaltnis zur geistigen Welt zu bestimmen.
Und schwierig, schwierig zu denken, scheint ja dieses Verhaltnis zu
sein. Denn wir sehen, dafi im Laufe der Geschichte, die wir verfol-
gen konnen, eine ganze grofie Anzahl von allerlei Philosophien und
Weitanschauungen aufgetreten sind, die sich scheinbar widerspre-
chen. Ich habe aber schon 6ft ers ausgefiihrt, dafi es nur scheinbar ist,
denn wenn es fur den Menschen leicht ware, sein Verhaltnis zur
ubersinnlichen Welt zu bestimmen, so wiirden nicht einander
scheinbar widersprechende Weitanschauungen die Weltanschau-
ungsgeschichte erfullen. Also schon daraus geht hervor, daft es ge-
wissermaften schwierig ist, das Verhaltnis zur geistigen Welt zu be-
stimmen. Und deshalb kann auch einmal die Frage aufgeworfen
werden, woher denn diese Schwierigkeit kommt, was da in der Seele
des Menschen eigentlich vorliegt, dafi er es schwer hat, sich in ein
Verhaltnis zur geistigen Welt zu setzen.
Nun, wenn man alle die Versuche pruft, die zunachst aufkrhalb
einer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, also sagen wir in der
blofien Philosophic oder in der aufieren Wissenschaft gemacht wer-
den und sich fragt, worauf denn diese Versuche eigentlich gehen, was
ihnen zugrundeliegt, dann mufi man sagen: Wenn man mit diesen
Versuchen sich beschaftigt, wenn man nachsieht, was fur eine Seelen-
kraft die Menschen hauptsachlich anwenden, um hinter das Verhalt-
nis der physischen zur geistigen Welt zu kommen, so findet man,
dafi die Menschen immer wieder und wieder - ich mochte sagen ver-
einzelte Versuche abgerechnet - vor alien Dingen doch in dem Den-
ken diejenige Seelenfahigkeit, Seelentatigkeit sehen, welche, richtig
angewendet, dahin fuhren konnte, etwas auszusagen, etwas zu be-
stimmen iiber die Beziehungen des Menschen zu den ubersinnlichen
Welten. Es ist also gewissermafien notwendig, das Denken, die Denk-
arbeit der Seele ins Auge zu fassen und sich zu fragen: Wie ist es
denn mit dem Denken, mit dem Sich-Gedanken-Machen gegeniiber
dem Verhaltnis des Menschen, der in der physischen Welt lebt, zu
den geistigen Welten? Wie ist es denn mit diesem Verhaltnis des
Denkens zu den geistigen Welten?
Also die Frage: Wie steht es mit dem Wert des Denkens fur eine
den Menschen befriedigende Erkenntnis? - diese Frage mochte ich
heute einmal vorbereitend ins Auge fassen, um dann anschliefiend
andere Fragen vor Ihnen zu besprechen. Ich mochte, dafi wir uns
gleichsam zu einer wiirdigen Besprechung dadurch vorbereiten, daft
wir einmal die Frage nach dem Wert des Denkens fur die Erkenntnis
ins Auge fassen.
Nun, wir kommen gewissermafien hinter das Denken, wenn wir
in der folgenden Weise zu Werke gehen. Wir haben ja im Laufe der
letzten Vortrage schon angedeutet, dafi gewisse Eigentumlichkeiten
gerade des Denkens, oder noch besser gesagt, der Gedanken, ins
Auge zu fassen sind. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie es
viele Menschen gibt, die geradezu einen Fehler alles wissenschaftli-
chen Denkens darinnen sehen, wenn dieses wissenschaftliche Den-
ken nicht nur ein blofier Abklatsch, gleichsam eine gedankliche Pho-
tographic einer aufieren Wirklichkeit ist. Denn diese Menschen sa-
gen: Wenn das Denken iiberhaupt irgendeine Beziehung haben soli
zum Realen, zur Wirklichkeit, so darf es aus sich selbst gar nichts zu
dieser Wirklichkeit dazubringen; denn in dem Augenblicke, wo das
Denken etwas zu der Wirklichkeit hinzubringt, habe man es eben
nicht mit einem Abbilde, mit einer Photographie einer Wirklichkeit
zu tun, sondern mit einer Phantasie, mit einem Phantasiebilde. Und
damit man es nicht mit einem solchen Phantasiebilde zu tun habe,
miisse man streng darauf sehen, dafi niemand in seine Gedanken et-
was hereinnehme, was nicht eine blofie Photographie der aufieren
Wirklichkeit ist.
Nun werden Sie durch einen leichten Gedankengang sogleich da-
hin kommen, sich zu sagen: Ja, fur die aufiere physische Welt, fur
das, was wir den physischen Plan nennen, scheint dies ohne weiteres
ganz richtig zu sein. Es scheint einer ganz richtigen Empfindung zu
entsprechen, dafi man durch das Denken nichts hinzutun diirfe zu
der Wirklichkeit, wenn man nicht statt eines Abbildes der Wirklich-
keit Phantasiebilder haben will. Fur den physischen Plan kann man
auch wirklich sagen, dafi es absolut richtig ist, sich jeder Zutat des
Denkens zu dem, was man da von aufien herein durch die Wahrneh-
mung empfangt, zu enthalten.
Nun mdchte ich Sie gegeniiber der Anschauung, die sich in dem
eben Ausgesprochenen findet, auf zwei Philosophen aufmerksam
machen: auf Aristoteles und Leibniz.
Aristoteles - gewissermafien der Zusammenfasser der griechi-
schen Weltanschauung - ist ein Philosoph, der selber nicht mehr in
die Geheimnisse der geistigen Welt irgendwie eingeweiht war, aber
in der allerersten Zeit nach dem, ich mochte sagen «Einweihungszeit-
alter» lebte. Wahrend vorher alle Philosophen noch irgendwie be-
riihrt waren von der Einweihung, wenn sie das, was sie als Einge-
weihte wulken, philosophisch ausdriickten - Plato zum Beispiel, der
im hochsten Grade eine Art Eingeweihter war, aber sich philoso-
phisch ausgesprochen hat -, mufi man bei Aristoteles sagen, daft er
auch keine Spur mehr von einer Einweihung hatte, aber doch noch
allerlei Nachwirkungen einer Einweihung da waren. Das ist also ein
Philosoph, der nur philosophisch spricht, ohne Einweihung, ohne
irgendeinen Initiationsimpuls, aber in seiner Philosophic dasjenige
auf verstandesmafiige Weise gibt, was die Eingeweihten, die vor ihm
waren, auf geistige Weise gegeben haben. Das ist also Aristoteles.
Von Aristoteles ruhrt der Satz her, den wir nun ins Auge fassen
wollen. [Es wurde an die Tafel geschrieben] :
Es ist nichts in der Intelligenz, was nicht in den Sinnen ist.
Also halten wir einmal diesen Satz fest: Es ist nichts in der - wir
konnen dazusetzen - «menschlichen» Intelligenz, was nicht in den
Sinnen ist.
Dieser Satz des Aristoteles darf in keiner Art materialistisch ge-
deutet werden, denn Aristoteles ist weit entfernt von einer jeden
auch nur irgendwie materialistisch gefarbten Weltanschauung. Die-
ser Satz ist bei Aristoteles nicht weltanschauungsmaftig, sondern er-
kenntnistheoretisch zu nehmen. Das heifit, Aristoteles lehnt es ab,
daran zu glauben, daft man von innen heraus Erkenntnisse iiber
irgendeine Welt erhalten konne, sondern behauptet, man kann
Erkenntnisse nur dadurch haben, dafi man die Sinne auf die Au-
flenwelt richtet, dafi man Sinneseindriicke empfangt und sich
dann durch den Verstand von diesen Sinneseindrucken Begriffe
macht; aber daft man mit den Sinneseindrucken Geistiges herein
empfangt, das leugnet er natiirlich nicht ab. Er denkt die Natur
durchdrungen von dem Geist; nur kann man, so meint er, nicht
auf das Geistige kommen, wenn man nicht hinausblickt in die
Natur.
Hier merken Sie doch den Unterschied zum Materialisten. Der
Materialist schliefit: draufien sei nur Materielles, und man mache
sich nur Begriffe vom Materiellen. Aristoteles denkt die ganze Natur
durchgeistigt, aber den Weg der menschlichen Seele, um zum Gei-
ste zu kommen, als einen solchen, daft man von der Sinnesanschau-
ung ausgehen und die Sinneseindriicke zu Begriffen verarbeiten
muft. Ware Aristoteles noch selber beriihrt gewesen von einem In-
itiationsimpuls, so wiirde er das nicht gesagt haben; denn dann wur-
de er gewufit haben, daft, wenn man sich frei macht von der Sinnes-
anschauung auf die Art, wie wir es geschildert haben, man von in-
nen heraus Erkenntnis der geistigen Welt erlangt. Also nicht ableug-
nen wollte er die geistige Welt, sondern nur den Weg zeigen, den
die menschliche Erkenntnis nehmen muft.
Dieser Satz hat dann im Mittelalter eine grofie Rolle gespielt und
ist in der materialistischen Zeit materialistisch umgedeutet worden.
Man braucht ja in diesem Satz des Aristoteles - es gibt nichts in der
Welt fur den Intellekt, was nicht in den Sinnen ist - nur ein Kleines
zu verandern, so haben wir gleich den Materialismus daraus gebil-
det. Nicht wahr, man braucht nur dasjenige, was im Sinne des Ari-
stoteles menschlicher Erkenntnisweg ist, zum Prinzip einer Welt-
anschauung zu machen, dann haben wir den Materialismus.
Leibniz trat mit einem ahnlichen Satze auf, und auch diesen Satz
wollen wir uns ansehen. Leibniz liegt ja noch gar nicht so weit hinter
uns; im 17. Jahrhundert. Diesen Satz des Leibniz wollen wir uns nun
auch vor die Seele fuhren. Also Leibniz sagt nun: Es ist nichts in der,
wir konnen wieder sagen, «menschlichen» Intelligenz - ich setze nur
«menschlichen» dazu -, was nicht in den Sinnen ist, aufier der Intel-
ligenz selbst, aufier dem Intellekt selbst.
[Es wurde an die Tafel geschrieben]:
Es ist nichts in der menschlichen Intelligenz, was nicht in den
Sinnenist, aufier der Intelligenz selbst, aufier dem Intellekt selbst.
Also der Intellekt, den der Mensch arbeitend in sich hat, der ist
nicht in den Sinnen. Gerade in diesen zwei Satzen sehen Sie so rech-
te Schulbeispiele davon, wie man ganz einverstanden sein kann mit
der Formulierung eines Satzes, und wie der Satz doch unvollstandig
sein kann.
Nun will ich mich jetzt nicht daruber ergehen, inwiefern auch
noch dieser Satz des Leibniz philosophisch unvollstandig ist. Hal ten
wir nur zunachst fest, daft Leibniz der Anschauung war, daft der In-
tellekt selber nicht in den Sinnen irgendwie schon begriindet ist,
sondern dafi der Mensch zu dem, was ihm die Sinne geben, die Ar-
beit des Intellekts hinzubringen musse. So dafi man sagen kann: Der
Intellekt selber ist eine innere Tatigkeit, die noch nicht durch die
Sinne gegangen ist.
Wenn Sie die letzten Vortrage verfolgt haben, so wissen Sie, dafi
diese innere Arbeit schon frei von den Sinnen ist und im Atherleib
des Menschen stattfindet. In unserer Sprache konnen wir sagen:
Es ist nichts in der im Atherleib arbeitenden Intelligenz, was nicht
in den Sinnen ist, aufier der im Atherleib arbeitenden Intelligenz
selber; was da drinnen arbeitet, das kommt nicht aus den Sinnen
herein.
Das Denken als solches ist aber in Wirklichkeit, wenn man es
recht in wahrer Selbsterkenntnis betrachtet, dieses Arbeiten im Ather-
leib, und das nennen die Philosophen den Intellekt. Dieses Den-
ken ist also eine Arbeit, ein Arbeiten konnen wir sagen. Und weil fur
unser geisteswissenschaftliches Einsehen Leibniz, wenn er auch nicht
absolut recht hat, doch mehr recht hat als Aristoteles, so konnen wir
sagen: Dieses Denken - besser ausgedriickt, diese denkerische Beta-
tigung, dieses denkerische Arbeiten im Menschen, das eine Verrich-
tung des Atherleibes ist -, das ist nicht in der aufieren Wirklichkeit
des physischen Planes. Denn der physische Plan erschopft sich ja in
dem, was er uns durch die Sinne erkennen lafit. Also, indem wir uns
als Mensch hineinstellen in den physischen Plan, bringen wir in die-
sen den Intellekt hinein, der aber selbst nicht in der physischen Welt
darinnen ist.
Und hier kommen wir nun darauf , worin die Schwierigkeit derje-
nigen Philosophen liegt, welche durch den Intellekt hinter das Welt-
ratsel kommen wollen. Die Leute mussen sich sagen: Ja, wenn ich es
recht bedenke, so gehort der Intellekt der Sinnenwelt ja nicht an;
aber ich bin nun in einer eigentumlichen Lage. Ich weifi von keiner
anderen geistigen Welt als nur dem Intellekt; der ist eine geistige
Welt hinter der Sinnlichkeit. Was habe ich also vom Intellekt? Er
kann ja nichts bekommen, keinen Inhalt, wenn er sich nicht von der
aufteren physischen Welt durch die Sinne unterrichtet. Er ist nur fur
sich dastehend. - Da aber steht dann der Philosoph vor einer eigent-
lich recht eigentumlichen Sache. Er mufi sich ja iiberlegen: Ich habe
in mir eine Tatigkeit, die Tatigkeit des Intellekts. Durch diese Tatig-
keit des Intellekts will ich hinter die Geheimnisse der Sinneswelt
kommen. Doch kann ich mir von dem, was da draufien in der Sin-
neswelt ist, ja nur Gedanken machen; diese entstehen aber durch et-
was, was selber nicht der Sinneswelt angehort. Also was haben diese
Gedanken denn mit der Sinneswelt zu tun? Wenn ich nun auch
weifi, daft der Intellekt ein Geistiges ist, so mull ich doch daran ver-
zweifeln, daft ich durch das Geistige, welches ich da habe, an irgend
etwas herankame, was Wirklichkeit ist.
Nun will ich durch einen Vergleich versuchen, der Sache nahezu-
kommen. Wir haben ja dieselbe Sache in den letzten Vortragen in
einer anderen Art ausgedriickt. Wir haben sie dadurch ausgedriickt,
daft wir uns dahin gefuhrt haben, zu erkennen, daft wir in dem, was
wir durch unser Denken zustandebringen, Spiegelbilder der Wirk-
lichkeit haben, daft diese Spiegelbilder eigentlich zur Wirklichkeit
hinzukommen und selber keine Realitaten sind.
Sehen Sie , das ist dieselbe Wahrheit, die hier nur philosophisch an-
ders ausgedriickt wird. Wir muftten sagen: der Intellekt bildet Spie-
gelbilder. Diese Spiegelbilder als Bild der Wirklichkeit, die abge-
spiegelt wird, sind der Wirklichkeit gleichgiiltig, denn die Wirklich-
keit, die abgespiegelt wird, die braucht ja diese Spiegelbilder nicht.
So daft man dazu kommen konnte, iiberhaupt an der ganzen Reali-
tat, an dem ganzen Realitatswert des Denkens, der Intelligent zu
zweifeln, sich zu fragen: Hat denn das Denken eine reale Bedeu-
tung? Bringt es nkht eigentlich schon durch das, was es ist, etwas zu
der auiteren Wirklichkeit hinzu? Hat irgendein einzelner Gedanke
einen realen Wert, wenn er eigentlich im Verhaltnis zur Wirklich-
keit nichts anderes ist als ein Spiegelbild?
Wir wollen uns nun aber bemuhen, richtig die Realitat des Ge-
dankens aufzusuchen. Mit anderen Worten, wir wollen die Frage be-
antworten: Ist denn der Gedanke nun wirklich etwas blofi Eingebil-
detes, das gar keinen realen Wert hat? Oder, wir konnen von einer
anderen Seite die Frage anfassen: Wo hat denn der Gedanke eine
Realitat? - Nun, ich sagte schon, ich will versuchen, durch einen
Vergleich das anschaulich zu machen. Hier liegt eine Uhr; ich hebe
die Uhr auf, habe die Uhr jetzt in der Hand. Alles was an der Uhr
ist, ist aufierhalb der Muskeln und der Nerven meiner Hand. Meine
Hand und die Uhr sind zweierlei. Aber nehmen wir nun an, es sei
hier finster, ich hatte die Uhr nie gesehen und wiirde die Uhr nur
durch das Gefuhl wahrnehmen, so wiirde ich etwas von der Uhr
wahrnehmen dadurch, dafi ich meine Hand ausstrecke und die Uhr
ergreife. Lenken Sie die Aufmerksamkeit auf die Uhr, so werden Sie
sich sagen, von der Realitat der Uhr kann ich dadurch etwas erfah-
ren, daft ich sie in der Hand habe, daft ich sie ergreife. Aber nehmen
wir zunachst fur einen Augenblick hypothetisch an, ich hatte nur
eine Hand und keine zwei, so wiirde ich nicht mit der zweiten Hand
die erste ergreifen konnen, wie ich sie nun tatsachlich ergreifen
kann. Mit meiner einen Hand wiirde ich wohl die Uhr ergreifen kon-
nen, aber die Hand selber wiirde ich nicht anfassen konnen mit einer
anderen Hand, hochstens mit der Nase beriihren, davon wollen wir
aber jetzt absehen, nicht wahr. Dennoch ist die Hand ebenso real
wie die Uhr. Wie iiberzeuge ich mich von der Realitat der Uhr? Da-
durch, daft ich sie in die Hand nehme, anfasse. Wie iiberzeuge ich
mich von der Realitat der Hand? Ich konnte mich nicht dadurch
iiberzeugen, daft ich sie anfasse, wenn ich nicht eine zweite Hand
hatte; aber ich weifi doch aus innerer Gewifiheit heraus, dafi ich eine
Hand habe, dafi ich das, was ich an mir habe, urn die Uhr zu ergrei-
fen, ebenso real habe, wie ich die Uhr real verburgen kann, indem
ich sie angreife. Merken Sie den Unterschied zwischen der realen
Hand und der realen Uhr? Ich mufi die Realitat der Hand auf eine
andere Art erfahren als die Realitat der Uhr.
Sie konnen diesen Vergleich ganz iibertragen auf das Menschen-
denken, auf den Intellekt. Sie konnen niemals dasjenige, was der In-
tellekt begreift, durch den Intellekt selber so unmittelbar erfassen;
geradesowenig wie Sie mit einer Hand die Hand selber anfassen
konnen. Der Intellekt kann sich selbst nicht so wahrnehmen, wie er
die anderen Dinge wahrnimmt; aber er ist doch von seiner Realitat
durch innere Gewifiheit iiberzeugt. Es ist eine innere Gewifiheit, wo-
durch der Intellekt von seiner Realitat iiberzeugt ist. Aber man mufi
dann diesen Intellekt, dieses Arbeiten des Intellektes eben als eine
Tatigkeit des menschlichen Subjektes auffassen; man mufi sich klar
sein, daft der Intellekt geistig gleichsam nur eine Hand ist, die aus-
gestreckt wird, um etwas zu ergreifen. Das alles ist bildlich gespro-
chen, aber es sind sehr reale Bilder. Und ebenso, wie einerseits mei-
ne Hand imstande ist, mich von der Realitat der Uhr zu uberzeugen
- dadurch namlich, daft ich zum Beispiel in der Lage bin, mit der
Hand die Schwere der Uhr, die Glatte der Uhr zu fuhlen, ich also in
der Lage bin, durch die Beschaffenheit meiner Hand alles das zu er-
fahren, was an der Uhr real ist -, so bin ich auf der anderen Seite
durch das Reale des Intellekts in der Lage, anderes iiber die Dinge zu
erfahren, als was die Sinne erfahren. Der Intellekt ist also ein Greif-
organ im geistigen Sinne, das wir an uns wahrnehmen miissen,
nicht in der Aufienwelt.
Und sehen Sie, hier liegt die Schwierigkeit fur die Philosophen.
Sie glauben, wenn sie Gedanken bekommen iiber die Welt, dann
miifiten ihnen die Gedanken von aufien herein kommen, und dann
merken sie, sie kommen gar nicht von aufien herein, sondern der In-
tellekt macht diese Gedanken. Und da sie den Intellekt als fremd
der aufieren Wirklichkeit betrachten, so miissen sie eigentlich alle
Gedanken als Phantasiebilder betrachten. Aber man mufi dem In-
tellekt eine subjektive Realitat zuschreiben, eine Realitat, die inner-
lich erlebt ist. Dann hat man das Gebiet der Realitat, in dem der In-
tellekt wahrgenommen wird. So kommen wir, indem wir die eigent-
liche Natur des Intellektes priifen, dahin, uns sagen zu konnen: Ja-
wohl, alles, was der Intellekt zustande bringt, darf oder braucht nur
ein Spiegelbild von der aufieren Realitat zu sein, aber es ist dieses
Spiegelbild entstanden durch die Arbeit des realen Intellekts. Das ist
eine menschliche Betatigung. Deren Realitat besteht darin, dafi der
Mensch arbeitet, indem er sich durch den Intellekt von der Realitat
des Intellekts Kenntnis verschafft. So dafi wir sagen konnen, die in-
tellektuelle Tatigkeit des Menschen, die arbeitet in dem Menschen,
aber sie arbeitet zunachst so, dafi es ganz berechtigt ist zu sagen:
Das, was dieser Intellekt erarbeitet, hat fur die Welt, in der er arbei-
tet, keine Bedeutung - so wie fur die Uhr die Hand keine Bedeu-
tung hat; fur die Uhr ist es hochst gleichgultig, ob sie von der Hand
ergriffen ist oder nicht -, es ist etwas, was fur den Menschen und am
Menschen da ist, dafi er sich durch den Intellekt irgendwelche Bilder
von den Dingen macht. In bezug auf die Dinge des physischen Pla-
nes ist aber alles, was dieser Intellekt erarbeitet, unreal, Spiegelbild,
tot, nichts Lebendiges. Wir konnen sagen, die im Intellekt erarbeite-
ten Bilder der physischen Welt sind leblose, tote Bilder.
[Es wurde an die Tafel geschrieben] :
Intellektuelle Tatigkeit - tote Bilder.
So sind auch die Bilder, die sich der Mensch von der physischen Welt
macht, tote Bilder. Man verkennt die eigentliche Natur dieses Inhal-
tes des Intellekts, wenn man ihm etwas anderes zuschreibt, als dafi er
ein Abklatsch sein kann von der physischen Welt.
Aber die Sache wird sogleich ganz anders, wenn der Mensch da-
zu kommt, mit den Erlebnissen seines Daseins in der Zeit zu leben.
Wenn wir den Dingen der Aufienwelt gegeniiberstehen und uns
durch den Intellekt Bilder von ihnen machen, so bekommen wir tote
Begriffe; aber wenn wir diese Begriffe in unserer Seele anwesend sein
lassen, so konnen wir nach einiger Zeit, wenn das Erlebnis, von dem
wir uns ein Bild gemacht haben, langst vorbei ist, durch die Erinne-
rung, wie wir sagen, das Bild dieses Erlebnisses aus der Erinnerung
heraufholen. Wir konnen sagen: Ja, jetzt weift ich nichts von dem
Erlebnis; aber wenn ich mich erinnere, dann kommt es herauf. Zwar
war es nicht in meinem Bewufitsein, bevor ich mich erinnert habe,
aber es ist da, irgendwo in meiner Seele unten, also unbewuflt, ich
mufi es nur erst aus dem Unbewufiten heraufholen.
Das Bild eines vergangenen Erlebnisses, das ich gesehen habe in
der Vergangenheit, ist also da unten im Unbewufiten. Schon, da un-
ten ist es, da hole ich es herauf. Aber da unten ist es nicht so bedeu-
tungslos. Sie brauchen nur den ganz gewohnlichen Unterschied zu
nehmen zwischen einer Vorstellung, die wir von einem Erlebnis so
empfangen, daft sie uns Freude gemacht hat, uns erhoben hat, und
einer Vorstellung von irgendeinem Erlebnis, das uns keine Freude
gemacht hat. Wir konnen nun eine Vorstellung, die uns Freude ge-
macht, ins Unbewufite hinunterdrangen, und konnen eine Vorstel-
lung, die uns keine Freude gemacht hat, ins Unbewuftte hinunter-
drangen. Das, was nun iiber den Unterschied solch einer freudebe-
reitenden und einer trauer-, einer schmerzbereitenden Vorstellung
zu sagen ist, das iiberlegen sich die wenigsten Menschen. Aber es ist
ein gewaltiger Unterschied. Und dieser Unterschied tritt insbesonde-
re dann auf, wenn man versucht, hinter den Wirklichkeitswert von
solchen Vorstellungen zu kommen, die eigentlich schon aus der nor-
malen Erinnerung geschwunden sind.
Wir wollen uns also an eine Vorstellung halten, an der der
Mensch wohl Freude gehabt hat, aber an die er keine Veranlassung ge-
habt hat, im spateren Leben wieder zuriickzudenken, oder an eine
Vorstellung, die ihm Schmerz gemacht hat, und an die er auch we-
nig Veranlassung hatte zuriickzudenken. Sie kommen nicht in sein
Bewufttsein herauf, aber sie spielen im unbewuftten Seelenleben ei-
ne Rolle. Wenn die Menschen nur aus Geisteswissenschaft heraus er-
kennen wollten, was in der Seele aufgespeicherte Vorstellungen be-
deuten, auch wenn sie ganz vergessen sind. Wir sind eigentlich im-
mer das Ergebnis unserer Erlebnisse. Welches Antlitz wir an uns tra-
gen, namentlich in der intimeren Gebarde, das ist wirklich ein Ab-
klatsch desjenigen, was wir erlebt haben in unserer diesmaligen In-
karnation. Man kann Menschen, die in ihrer Kindheit viel Trauriges
erlebt haben, dies an ihrem Gesicht ablesen. Also das, was da unten
vorgeht, ist, mit andern Worten, an den Lebensvorgangen des Men-
schen beteiligt. Was an hemmenden, traurigen Vorstellungen in die
Vergessenheit, ins Unbewuftte hinuntergedrangt wird, das zehrt an
uns, es unterbindet uns die Lebenskraft. Das, was wir an Freudigem,
an Erhebendem erlebt haben, das belebt uns. Und wenn man das
Schicksal unseres Vorstellungslebens im Unbewufken studiert, dann
findet man, wie ungeheuer abhangig die gegenwartige Stimmung,
die ganze Verfassung eines Menschen von dem ist, was da in seinem
Unterbewufttsein unten ruht.
Jetzt verglekhen Sie die Erinnerungsvorstellungen, die Vorstel-
lungen, die dann schon in das unbewuftte Seelenleben hineingegan-
gen sind, mit den Vorstellungen, die wir gegenwartig im Bewufttsein
haben. Dann werden Sie sich sagen: Die Vorstellungen, die wir ge-
genwartig im Bewufttsein haben, sind tot. Tote Vorstellungen betei-
ligen sich nicht an unserem Lebensprozefi. Erst wenn sie ins Unbe-
wuftte hinuntertauchen, fangen sie an, sich am Lebensprozeft zu be-
teiligen und werden dann lebenfordernde oder lebenhemmende
Vorstellungen. So daft die Vorstellungen dadurch, daft sie hinunter-
gedrangt werden in die tieferen Untergriinde der Seele, erst so rich-
tig zu leben beginnen. Ich habe in den Vortragen, die ich an ver-
schiedenen Orten liber die verborgenen Griinde des Seelenlebens
gehalten habe, immer darauf aufmerksam gemacht. Also die Vor-
stellungen, die zunachst tote Vorstellungen sind, fangen an zu
leben, wenn sie unserem Seelenleben eingepflanzt werden; aber sie
leben um so mehr, je unbewuftter sie uns werden.
Wenn man nun mit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis den Pro-
zeft verfolgt, dann geschieht da etwas sehr Eigentumliches, das ich
eigentlich nur so bezekhnen kann [es wird zu zeichnen begonnen]:
Nehmen Sie an, hier sei die Grenze zwischen bewufit und unbe-
wufit; diese Linie, dieser Strich sei die Grenze zwischen «bewuftt»,
das oben ist, und «unbewufit», das unten ist. Und nun haben wir
uns in unserem Bewufitsein allerlei Vorstellungen gebildet. Ich will
sie schematisch bezeichnen durch allerlei Figuren. Diese Vorstellun-
gen haben wir uns gebildet; nehmen wir an, diese Vorstellungen ge-
hen ins Unbewufite hinunter. Sie gehen da hinunter [es wurden die
Pfeile gezeichnet].
bewu&t
f f
Ja, sehen Sie, wenn nun mit geisteswissenschaftlichen Erkennt-
nissen diese Vorstellungen, die da hinuntergehen, verfolgt werden,
dann verwandeln sie sich. Aufierlkh haben wir erkannt, dafi sie le-
benfordernd oder lebenhemmend werden; innerlich zeigt sich durch
die geisteswissenschaftliche Erkenntnis, dafi sie, indem sie gleichsam
unter die Oberflache hinuntergleiten, Imaginationen werden. Da
im Un- oder Unterbewufiten, da wird alles, was hinimtergeht, Ima-
gination, alles wird Bild. Sie konnen in Ihrem gewohnlichen Tages-
bewufitsein die abstraktesten Vorstellungen haben: wenn Sie unter
die Schwelle des gewohnlichen Tagesbewufitseins hinuntergehen, so
wird alles Imagination. Das heifit, es ist im Menschen ein Prozefi,
eine Summe von Vorgangen, die stets bemuht ist - dadurch, dafi
die toten Vorstellungen des irdischen, gewohnlichen, materialisti-
schen Bewufitseins ins Unterbewufite gehen -, in jedem Menschen,
bevor er zum imaginativen Erkennen kommt, im Unbewufiten alle
seine Bewufitseinsvorstellungen in Bilder, in Imaginationen zu
verwandeln.
Wollen wir also das, was wir im Unbewufiten von unserem Vor-
stellungsleben haben, bezekhnen, wollen wir es kennenlernen,
dann mussen wir eigentlich sagen: das alles besteht aus unbewufiten
Imaginationen, und alle Vorstellungen, die wir wiederum aus dem
Unbewufiten ins Bewufite heraufheben konnen, mussen wir durch
eine Tatigkeit, die uns auch unbewufit bleibt, heraufbringen. Wir
mussen sie wieder ins Bewufitsein zuruckbringen, aber sie ihres Bild-
charakters entkleiden, sie wieder in abstrakte, in unbildliche Vorstel-
lungen zuriickverwandeln. Und wenn Sie in der Tatigkeit sind, dafi
Sie nachdenken: Ach, ich habe da etwas erlebt; was war es denn
nur? - und sich bemiihen - Sie kennen ja alle den Prozefi -, sich an
etwas zu erinnern, dann ist es die Anstrengung, der Sie sich hin-
geben miissen, um das Bild, das da unten sitzt, des Bildcharakters
zu entkleiden und in die Vorstellungsform des Bewufitseins wieder
zuriickzuverwandeln .
Daraus aber werden Sie ersehen, dafi die Vorstellungen, wenn
wir sie in das Unbewufite hinunterdrangen, geistiger werden. Wir
miissen also sagen: Wenn wir das, was uns der Intellekt bietet, ins
Unbewufite aufnehmen, dann miissen wir die Vorstellungswelt, die
da in uns ist und die wir hinuntergestofien haben, als eine hohere,
als eine geistigere Welt charakterisieren. Wir miissen also sagen: Die
Welt der Erinnerungsmoglichkeit - bitte wohl zu beachten, dafi ich
sage, die Welt der Erinnemngs^Qg/z^^y,* es brauchen ja nicht alle
Vorstellungen, die da hinuntergehen, wieder einmal erinnert zu
werden, aber sie sind doch alle da unten im unbewufiten Seelen-
leben -, die Welt der Erinnerungsmoglichkeit besteht eigentlich in
Imaginationen, in unbewufiten Imaginationen.
[Es wurde an die Tafel geschrieben]:
Welt der Erinnerungsmoglichkeit - Imaginationen.
Nun besteht fur das normale Bewufitsein des Menschen zuweilen
die Moglichkeit - und iiber andere solche Moglichkeiten werden wir
ja vielleicht in den nachsten Tagen sprechen konnen -, diese Bilder,
die sonst niemals von der Erinnerungsmoglichkeit in die Erinne-
rungswirklichkeit iibergehen wiirden, ins Bewufitsein heraufzube-
kommen. Nehmen Sie die Erfahrungen, die manchmal Ertrinkende
machen! Und konnten Sie damit vergleichen die Erfahrungen, die
diejenigen Menschen machen, welche durch die Pforte des Todes ge-
gangen sind, so wiirden Sie finden, dafi selbst da manche Vorstel-
lung, wo die Anstrengung im gewohnlichen physischen Leben nicht
ausreicht, sie wieder heraufzubringen, dann wie von selbst herauf-
geht. Aber Episoden, Teile gehen audi herauf in der gewohnlichen
Traumeswelt. Auch der Traum, so wie er uns entgegentritt, ist ja eine
komplizierte Wirklichkeit, denn dasjenige, was erlebt wird, liegt
eigentlich vielfach dahinter. Aber die Vorstellungen, die wir dar-
uberhuilen, die sind aus der Erinnerung entnommen. Also der
Traum, die Erfahrungen der mit dem Tode Ringenden, wie Ertrin-
kende und dergleichen, und Erfahrungen, die unmktelbar nach
dem Durchgehen durch die Todespforte gemacht werden, die zei-
gen diese Welt der Imagination, die eine geistigere Welt ist als die
Welt der gewohnlichen menschlichen Intelligenz auf dem physi-
schen Plan.
Wenn Sie aber das nehmen, was ich vorhin geschildert habe, daft
diese Vorstellungen, die in die Region der Erinnerungsmoglichkeit
iibergegangen sind, an der Lebensforderung oder Lebenshemmung
arbeiten, so werden Sie sich sagen: Da ist etwas Leben drinnen.
Wahrend die Vorstellungen des gewohnlichen Intellektes tot sind,
kommt da etwas Leben hinein, doch es ist kein besonders starkes Le-
ben drinnen. Aber auch da kann schon die gewohnliche Erfahrung
etwas bieten, was Ihnen zeigen kann, daft doch das, was mit diesen
in die unterbewulke Region hinabtretenden Vorstellungen vorgeht,
ein noch starkeres Leben bedeuten kann.
Ich habe die sehr gewohnliche Tatsache schon hervorgehoben,
daft Leute, die etwas auswendig zu lernen haben, um es dann auf-
zusagen, zu rezitieren, das lernen und beschlafen, und daft dieses
Beschlafen dazugehort, um das Gedachtnis fahiger zu machen.
Das ist allerdings nur eine leise Hindeutung auf etwas, was die
Geisteswissenschaft viel klarer, ja vollstandig klar zeigt, namlich,
daft unsere gesamte Vorstellungswelt, indem wir sie ausbilden
und ins Unterbewufite hinunterdrangen, im Unterbewufiten im-
mer lebendiger und lebendiger wird, wahrend sie im Bewufitsein
tot ist.
Nun sind aber die Vorstellungen, welche wieder heraufkommen,
noch gar nicht einmal diejenigen, die am meisten an der Lebensfor-
derung oder Lebenshemmung beteiligt sind, sondern diejenigen
Vorstellungen sind es, die sich viel inniger noch mit uns verbinden.
Vorstellungen, die wir oftmals sogar nur wie das Leben begleitend
aufnehmen, gar nicht einmal so ungemein stark im Leben beachten,
die verbinden sich mit unseren lebenfordernden oder lebenhem-
menden Kraften in viel starkerem Mafie. Nehmen wir einmal an, je-
mand beschaftige sich mit Geisteswissenschaft. Er nimmt sie zu-
nachst auf, diese Geisteswissenschaft, als erarbeitet durch den physi-
schen Intellekt. Davon mull er ja ausgehen. Wir miissen ankniipfen
an das, was der physische Intellekt durch die Sinne wahrnimmt. Ich
konnte ja sonst gar nicht iiber die geistige Welt sprechen, weil die
Sprache fur die physische Welt da ist. Aber es ist doch ein Unter-
schied, wie wir, ich mochte sagen, in das Leben eingekleidet solch
eine Vorstellungswelt aufnehmen.
Nehmen Sie einmal an, ein Mensch nimmt die Wahrheiten der
Geisteswissenschaft in Ernst und Wiirde auf, gleichsam so, daft er
fuhlt: Ernst, tiefer Ernst ist dabei. Ein anderer Mensch nimmt die
Vorstellungen der Geisteswissenschaft so auf, dafi er sie eigentlich
nur theoretisch anhort und sie nicht sehr ernst an sich herankommen
lafit. Der eine nimmt sie gleichsam in einer Atmosphare der Ober-
flachlichkeit, der andere in einer Atmosphare des Ernstes auf. Es
braucht uns gar nicht stark zum Bewufltsein zu kommen, wie wir sie
aufnehmen; das hangt so mehr zusammen mit dem, wie man durchs
Leben geht, ohne immer dariiber nachzudenken. Wer dazu veran-
lagt ist oder sich gewohnt hat, die Dinge, die ernst zu nehmen sind,
eben ernst zu nehmen und nicht frivol oder zynisch, der denkt nicht
immer erst nach, wie er sie aufzufassen hat, er benimmt sich ernst
und naturlich. Ebenso nimmt sie der, der nur oberflachlich veran-
lagt ist, in Oberflachlichkeit auf; er kann nicht anders. Damit be-
gleiten wir unser Vorstellungsleben mit etwas, was wir uns nicht zur
Vorstellung bringen, was wirklich etwas ist, das neben dem Bewufi-
ten einhergeht. Aber was da neben dem Bewulksein einhergeht,
geht viel tiefer ins Unbewufite hinunter als dasjenige, was wir ganz
bewufit denken. Die Art, wie wir also unsere Vorstellungen uns bil-
den, die geht viel tiefer ins Unbewufite hinunter als das, was wir be-
wufit denken. Und wenn der Mensch schlaft und sein astralischer
Leib und sein Ich heraus sind aus dem physischen und Atherleib,
dann spielt in dem astralischen Leib und Ich diese Art, die Vorstel-
lungen sich zu bilden, eine unendlich grofie Rolle. Da kann man sa-
gen: Wer mit dem notigen Ernst irgendwelche Vorstellungen auf-
nimmt, der hat diese Vorstellungen in seinem Astralleibe und in sei-
nem Ich so, daft sie da drinnen sind wie belebende Sonnenkraft fur
die Pflanze. Es sind wirklich im hochsten Grad belebende Krafte.
Und er nimmt in diese Vorstellungen das hinein, was belebend ist,
belebend und iiber die gegenwartige Inkarnation hinausgehend,
und die Vorbedingungen schaffend fur die nachste Inkarnation. Da
zeigt sich schon durch die schaffende Seele, daft Sie etwas im Unter-
bewufiten haben, was geistiger ist als das, was durch den Traum her-
aufgeholt werden kann.
Da haben wir eine Welt des unbewufiten Vorstellungslebens, zu-
sammenhangend mit dem ganzen Wesenskern des Menschen. Es
dringt diese Art, das Leben zu nehmen, gleichsam in unsere gcisti-
gen Lebenskrafte ein, und es ist ganz gleich unbewufker Inspiration.
[Es wurde an die Tafel geschrieben]:
Welt des unbewufiten Vorstellungslebens - Inspirationen.
Ich werde Ihnen dann darlegen - heute ist nicht mehr die Zeit
dazu - wie schon das gewohnliche Leben zeigt, daft diese unbewufi-
ten Inspirationen unbewufit dann doch im Menschen auch schon in
der Inkarnation, in der sie gebildet werden, wirken, aber eben unbe-
wufit. Dann werde ich Ihnen weiter zeigen, daft es noch eine hohere
Welt fur den Menschen gibt. Aber Sie sehen aus dem heute Darge-
stellten, dafi das menschliche Seelenleben eine innere Bewegung
hat, dafi dasjenige, was auf dem physischen Plan durch die physische
Intelligenz erlebt wird, weiter unten erlebt wird, dafi es dann hin-
aufsteigt in geistigere Regionen, in noch geistigere Regionen zuletzt,
als wir es auf dem physischen Plan erleben. [Es wurden die Pfeile ge-
zeichnet.] Also das Vorstellungsleben ist in innerer Bewegung, in
aufsteigender Bewegung. Und jetzt erinnern Sie sich an das, was ich
Ihnen gestern aufgezeichnet habe: wie gewisse Prozesse des Men-
schen in absteigender Bewegung dargestellt waren. So daft Sie sich
sagen konnen: Wenn ich den Menschen vor mir habe, so ist im Men-
schen eine absteigende Stromung und eine aufsteigende Stromung,
und die wirken zusammen. Wie sie zusammenwirken, das wird
dann morgen zu besprechen sein.
[Schema an der Tafel]:
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Welfde* i/nbewufVfcm VonteHunqslebens • Jnspi'rcitionen |
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Welt det- 6nnnei-ungsm6q!ichKeit : ka gmati onen \
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Jnf-ellektuelle Tdti^keit : tote Bil^ f
ZWEITER VORTRAG
Dornach, 18. September 1915
Ich habe gestern iiber eine Art aufsteigender Bewegung, die in der
Menschennatur begrundet ist, gesprochen. Und im Grunde haben
wir durch die Betrachtung dieser aufsteigenden Bewegung alles das-
jenige wiedergefunden, was wir schon kennen, namlich auf der un-
tersten Stufe die Erkenntnis, die nur fur die Tatsachen des physi-
schen Planes anwendbar ist, die physische Erkenntnis, die in «Wie
erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?» die gegenstandliche
Erkenntnis genannt ist. Also physische Erkenntnis will ich sie heute
nennen. Wir haben dann die nachsthohere Stufe der Erkenntnis
kennengelernt, die sogenannte imaginative Erkenntnis; aber wir ha-
ben sie betrachtet als unbewufite imaginative Erkenntnis; bewufite
imaginative Erkenntnis kann ja nur vorhanden sein bei dem Men-
schen, der versucht, sich zu ihr durchzuringen auf die in dem Buche
«Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?» angegebene
Weise. [Die Worte «physische Erkenntnis», «unbewulke imaginative
Erkenntnis», «bewufite imaginative Erkenntnis» wurden an die Tafel
geschrieben, siehe Schema auf Seite 47.]
Aber als Tatsache ist der Inhalt der imaginativen Erkenntnis, das
heifit, sind Imaginationen in jedem Menschen. So dafi eigentlich die
Entwickelung der Menschenseele in dieser Beziehung nichts anderes
ist als ein Ausdehnen des Bewufitseins auf ein Gebiet, das immer in
der Menschenseele drinnen ist. Man kann also sagen: Mit dieser ima-
ginativen Erkenntnis verhalt es sich nicht anders, als es sich etwa ver-
halten wiirde mit Gegenstanden, welche in einem zunachst finsteren
Zimmer sind. Denn in den Tiefen der Menschenseele sind alle Ima-
ginationen, die fur den Menschen zunachst in Betracht kommen,
genauso vorhanden, wie die Gegenstande eines finsteren Zimmers.
Und wie diese um keinen einzigen vermehrt werden, wenn man
Licht in das Zimmer hineinbringt, sondern wie alle bleiben, wie sie
sind, nur daft sie beleuchtet sind, ebenso sind, nachdem das Be-
wufitsein fur die imaginative Erkenntnis erwacht ist, in der Seele kei-
ne anderen Inhalte da, als schon vorher da waren; sie werden nur
von dem Licht des Bewufltseins erleuchtet. Also wir erfahren gewis-
sermaflen durch das Sich-Hinaufringen zur imaginativen Erkenntnis-
stufe nichts anderes, als was langst vorher in unserer Seele als eine
Summe von Imaginationen vorhanden ist.
Blicken wir noch einmal zurikk auf dasjenige, was uns gestern
hat klar werden konnen, so wissen wir ja: Wenn unsere Vorstellun-
gen, die wir an den Gegenstanden ringsherum durch unsere physi-
schen Wahrnehmungen gewinnen, hinuntertauchen in das Gebiet
der Erinnerungsmoglichkeiten, also ins Unbewuflte hinunterver-
senkt werden, so dafi wir in die Lage kommen, einige Zeit nichts von
ihnen zu wissen, aber sie doch nicht verloren haben, sondern sie wie-
der heraufbringen konnen aus der Seele, dann miissen wir sagen,
dafi wir in das Unbewulke hinunterversenken dasjenige, was wir im
gewohnlichen physischen Bewufitsein haben. Es wird also die Welt
der Vorstellungen, die wir durch die physische Erkenntnis an der
Aufienwelt gewinnen, ja immerfort von unserem Geistigen, von
dem Ubersinnlichen aufgenommen; sie schliipft fortwahrend in das
Ubersinnliche hinein. In jedem Moment ist es so, dafi wir an der Au-
fienwelt durch die physischen Wahrnehmungen Vorstellungen ge-
winnen, und diese Vorstellungen unserer ubersinnlichen Natur
iibergeben werden. Es wird Ihnen nicht schwierig sein, dieses zu
iiberdenken nach alle dem, was im Laufe der Jahre gesprochen wor-
den ist, weil das ja gerade der alleroberflachlichste ubersinnliche
Prozerl ist, der nur denkbar ist, ein Prozefi, der sich fortwahrend ab-
spielt: der Ubergang der gewohnlichen Vorstellungen in Vorstellun-
gen, an die wir uns erinnern konnen. So liegt es nahe, zu denken,
was auch wahr ist gemafi der Geistesforschung, dafi alles dasjenige,
was sich abspielt, indem wir die aufiere Welt wahrnehmen, ein Vor-
gang des physischen Planes ist. Auch dann, wenn wir an der physi-
schen Aufienwelt uns Vorstellungen bilden, ist das noch einVorgang
des physischen Planes. In dem Augenblicke aber, wo wir die Vorstel-
lungen hinuntersinken lassen ins Unbewufite, da stehen wir bereits
beim Eingange in die ubersinnliche Welt.
Das ist sogar ein sehr wichtiger Punkt, der beriicksichtigt werden
mufi von dem, welcher nicht durch allerlei okkultistisches Ge-
schwatz, sondern durch ernstliche menschliche Seelenanstrengung
ein Verstandnis der okkulten Welt erlangen will. Denn es liegt schon
eine ganz wesentliche Tatsache verborgen in dem Ausspruch, den
ich eben angewendet habe: Wenn wir als Menschen den Dingen der
Aufienwelt gegenuberstehen und uns Vorstellungen bilden, so ist
das ein Vorgang des physischen Planes. In dem Augenblick, wo die
Vorstellung hinuntersinkt ins Unbewufite und dort aufbewahrt
wird, bis sie wieder einmal heraufgeholt wird durch eine Erinne-
rung, vollzieht sich ein ubersinnlicher Vorgang, ein richtiger uber-
sinnlicher Vorgang. So daft Sie sich sagen konnen: Ist man imstande,
diesen Vorgang zu verfolgen, der darinnen besteht, daft ein Gedan-
ke, der oben im Bewufitsein ist, hinuntersinkt ins Unterbewufite
und da unten als ein Bild vorhanden ist, kann man, mit anderen
Worten, eine Vorstellung verfolgen, wie sie unten im Unbewufiten
ist, dann beginnt man eigentlich schon in das Gebiet des Ubersinnli-
chen hineinzugleiten. Denn denken Sie doch nur einmal: Wenn Sie
den gewohnlichen Prozefi der Erinnerung vollziehen, so muft ja erst
die Vorstellung in das Bewufttsein heraufkommen, und Sie gewah-
ren sie dann heroben im Bewufttsein, niemals unten im Unbewuft-
ten. Sie miissen das gewohnliche Erinnern unterscheiden von dem
Verfolgen der Vorstellungen bis hinunter ins Unbewufite. Das, was
im Erinnern stattfindet, konnen Sie vergleichen mit einem Schwim-
mer, der unter das Wasser sinkt und den Sie so lange sehen, bis er
ganz untergetaucht ist. Jetzt ist er unten, und Sie sehen ihn nicht
mehr. Wenn er wieder heraufkommt, sehen Sie ihn wieder! [Es wurde
gezeichnet.] Ebenso ist es mit den menschlichen Vorstellungen: Sie
haben sie, solange sie auf dem physischen Plan sind; gehen sie hin-
unter, so haben Sie sie vergessen; erinnern Sie sich wieder, dann
kommen sie wieder wie der Schwimmer herauf. Aber dieser Prozefi,
den ich jetzt meine, der also schon in die imaginative Erkenntnis
hineinweist, der wiirde damit zu vergleichen sein, daft Sie selber
untertauchen und dadurch den Schwimmer auch unten im Wasser
sehen konnen, so daft er Ihnen nicht entschwindet, wenn er unter-
taucht.
Daraus aber folgt nichts Geringeres, als dafi die Linie, die ich vor-
hin gezeichnet habe, gleichsam die Niveauflache - unter welche hin-
untersinkt die Vorstellung ins Unbewuftte, in die Erinnerungsmog-
lichkeit -, die Schwelle der geistigen Welt selber ist, die erste
Schwelle der geistigen Welt. Das folgt daraus mit absoluter Notwen-
digkeit. Es ist die erste Schwelle der geistigen Welt! Denken Sie nur
einmal, wie nahe der Mensch dieser Schwelle der geistigen Welt
steht. [Die Worte «Schwelle der geistigen Welt» wurden neben das
Schema geschrieben.]
p hy s i $ t he € r ke n n tni s
''< i
/,/'///^ ro t
'fffiif'
Und nun nehmen Sie einmal einen Vorgang, durch den man ver-
suchen kann, richtig da hinunterzukommen, unterzutauchen. Der
Vorgang wiirde der sein, dafi Sie sich bemiihen, Vorstellungen zu
verfolgen bis hinunter ins Unbewufite. Das kann eigentlich nur
durch Probieren geschehen. Es kann dadurch geschehen, dafi man
etwa folgendes macht. Man hat sich eine Vorstellung an der Aufien-
welt gebildet; man versucht unabhangig von der Aufienwelt kiinst-
lich den Prozefi der Erinnerung hervorzurufen. Denken Sie, wie das
empfohlen wird in «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Wel-
ten?», indem die ganz gewohnliche Regel des Riickschauens auf die
Tagesereignisse angegeben wird. Wenn man ruckschaut auf die Ta-
geserlebnisse, dann ubt man sich darin, gleichsam in die Wege hin-
einzukommen, welche die Vorstellung selber macht, indem sie un-
tergetaucht ist und wiederum aufsteigt. Also der ganze Prozefi der
Ruckerinnerung ist darauf angelegt, nachzugehen den Vorstellun-
gen, die unter die Schwelle des Bewufitseins hinuntergesunken sind.
Aber aufierdem wird dort in «Wie erlangt man Erkenntnisse der
hoheren Welten?» gesagt, dafi man gut tut, die Vorstellungen, die
man sich gebildet hat, umgekehrt, also von dem Ende nach dem
Anfang zuriickzuverfolgen; und wenn man den Tag iiberschauen
will, den Strom der Ereignisse vom Abend zum Morgen hin riick-
warts verlaufend zu verfolgen. Dadurch mufi man eine andere Kraft-
anstrengung machen, als sie gemacht wird auf dem Wege der ge-
wohnlichen Erinnerungen. Und diese andere Kraftanstrengung
bringt einen dahin, gewissermafien unter der Schwelle des Bewufit-
seins das zu erfassen, was man als Erlebnisvorstellung gehabt hat.
Und im Laufe des Probierens kommt man darauf, zu empfinden, in-
nerlich zu erleben, wie man da den Vorstellungen nachlauft, ihnen
unter diese Schwelle des Bewufitseins hinunter nachlauft. Es ist wirk-
lich hier ein Vorgang des inneren erlebnismafiigen Probierens, der in
Betracht kommt. Doch handelt es sich darum, dafi man diese Ruck-
schau wirklich ernsthaftig macht, nicht so macht, dafi man nach ei-
niger Zeit in bezug auf den Ernst der Sache erlahmt. Dann aber,
wenn man diesen Prozefi des Riickschauens langere Zeit macht, oder
uberhaupt den Prozefi des Heraufholens eines Erlebnisses aus der Er-
innerung, einer erlebten Vorstellungswelt macht, so dafi man die Sa-
che umgekehrt vorstellt, also eine grofiere Kraft anwendet, als man
anwenden mufi, wenn man sich in der gewohnlichen Folge erinnert,
dann erlebt man nun auch, dafi man nicht mehr in der Lage ist, die
Vorstellung von einem gewissen Punkte an so auf zufassen , wie man sie
im gewohnlichen Leben eben auf dem physischen Plan aufgefafit hat.
Auf dem physischen Plan lebt sich ja die Erinnerung so aus - und
es ist fur die Erinnerung auf dem physischen Plan das Beste, wenn
sie sich so auslebt -, dafi, wenn man die Vorstellung, die man erin-
nern will oder erinnern soil, dem Lebenszusammenhang nach treu
heraufbekommt, man sie so heraufbekommt, wie man sie eben auf
dem physischen Plan sich gebildet hat. Wenn man aber allmahlich
durch das angedeutete Probieren sich daran gewohnt, den Vorstel-
lungen gleichsam nachzulaufen unter die Schwelle des Bewufitseins,
so entdeckt man sie da unten nicht so, wie sie im Leben sind. Das ist
ja der Fehler, den die Menschen immer machen, wenn sie glauben,
sie finden in der geistigen Welt einen Abklatsch dessen, was in der
physischen Welt ist. Sie miissen voraussetzen, daft die Vorstellungen
da unten anders aussehen werden. In Wirklichkeit sehen sie unter
der Schwelle des Bewufitseins so aus, dafi sie alles dasjenige, was sie
gerade als Charakteristisches auf dem physischen Plane haben, abge-
streift haben. Da unten werden sie ganz und gar zu Bildern; und sie
werden ganz und gar so, dafi wir in ihnen Leben spuren. Leben spii-
ren wir in ihnen. Das ist sehr wesentlich, gerade diesen Satz ins Auge
zu fassen: Leben spuren wir in ihnen. Sie konnen sich erst dann
iiberzeugt haben, dafi Sie einer Vorstellung da unter der Schwelle
des Bewufitseins wirklich nachgelaufen sind, wenn Sie das Gefiihl
haben: die Vorstellung beginnt zu leben, sich zu regen. Ich habe ja,
als ich das Hinaufsteigen zur imaginativen Erkenntnis mit dem Hin-
einstecken des Kopfes in einen Ameisenhaufen verglichen habe, von
einem anderen Gesichtspunkte aus das erklart. Ich habe gesagt: es
beginnt sich alles zu regen, alles regsam zu werden.
Nehmen Sie also zum Beispiel an, Sie haben wahrend des Tages -
ich will ein ganz gewohnliches Erlebnis nehmen - an einem Tische
gesessen und ein Buch in der Hand gehabt. Jetzt, zu irgendeiner
Zeit am Abend, da stellen Sie sich lebhaft vor, wie das war: den
Tisch, das Buch, Sie dabeisitzend, wie wenn Sie aufierhalb Ihrer wa-
ren. Und es ist dabei immer gut, sich die ganze Sache von vornhe-
rein bildhaft, nicht in abstrakten Gedanken vorzustellen, weil die
Abstraktion, das Abstraktionsvermogen gar keine Bedeutung hat fur
die imaginative Welt. Also Sie stellen sich dieses Bild vor: sich sit-
zend an einem Tisch, mit einem Buch in der Hand. - Mit Tisch und
Buch will ich einfach sagen, stellen Sie sich so lebhaft als nur mog-
lich, irgendeinen Ausschnitt aus dem taglichen Leben vor. Dann,
wenn Sie wirklich den Seelenblick auf diesem Bild ruhen lassen,
wenn Sie wirklich intensiv meditierend das vorstellen, dann werden
Sie von einem gewissen Moment ab anders als sonst fiihlen; ja, ich
will vergleichsweise sagen, so ahnlich, wie wenn Sie ein lebendiges
Wesen in die Hand nehmen wiirden.
Wenn Sie einen toten Gegenstand in die Hand nehmen, dann
haben Sie das Gefuhl: der Gegenstand ist ruhig, der kribbelt und
krabbelt nicht in Ihrer Hand. Selbst wenn Sie einen bewegten toten
Gegenstand in der Hand haben, so beruhigen Sie sich durch das Ge-
fuhl, dafi das Leben eben ein solches ist, das nicht von dem Gegen-
stand ausgeht, sondern ihm mechanisch zugeteilt ist. Etwas anderes
ist es, wenn Sie einen lebendigen Gegenstand, sagen wit eine Maus,
zufallig in der Hand haben. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie haben
in einen Schrank hineingegriffen und glauben, irgendeinen Gegen-
stand in die Hand zu nehmen und entdecken, Sie haben eine Maus
in die Hand bekommen. Und dann, nicht wahr, dann fuhlen Sie das
Krabbeln und Kribbeln der Maus in Ihrer Hand! Es gibt Leute, die
fangen ein ganz riesiges Geschrei an, wenn sie plotzlich eine Maus in
ihrer Hand fuhlen. Und das Geschrei ist nicht kleiner, wenn sie noch
nicht sehen, was da krabbelt und kribbelt in der Hand. Es ist also
ein Unterschied, ob man einen toten oder einen lebendigen Gegen-
stand in der Hand hat. Man mufi sich erst an den lebendigen Gegen-
stand gewohnen, um ihn in gewisser Weise zu ertragen. Nicht wahr,
die Menschen sind gewohnt, Hunde und Katzen zu beriihren; aber
sie mussen sich erst daran gewohnen. Wenn man aber in der Nacht,
in finsterer Nacht, jemandem ein lebendiges Wesen in die Hand
gibt, ohne dafi er es weifi, so findet er sich auch schockiert.
Diesen Unterschied, den Sie fuhlen zwischen dem Beriihren ei-
nes toten und eines lebendigen Gegenstandes, den mussen Sie sich
klarmachen. Wenn Sie einen toten Gegenstand anfassen, haben Sie
ein anderes Gefuhl, als wenn Sie einen lebendigen anfassen. Wenn
Sie nun eine Vorstellung haben auf dem physischen Plan, so haben
Sie ein Gefuhl, das Sie vergleichen konnen mit dem Anfassen eines
toten Gegenstandes. Aber sobald Sie wirklich hinunterkommen un-
ter die Schwelle des Bewufitseins, andert sich das; so dafi Sie das Ge-
fuhl bekommen: Der Gedanke hat innerlich Leben, beginnt sich zu
regen. Es ist die gleiche Entdeckung, die Sie haben - als Vergleich
fur das seelische Gefuhl -, wie wenn Sie meinetwillen eine Maus
erfafit haben: es kribbelt und krabbelt der Gedanke.
Es ist sehr wichtig, dafi wir auf dieses Gefuhl achtgeben, wenn
wir einen Begriff von der imaginativen Erkenntnis bekommen sol-
len; denn wir sind in der imaginativen Welt in dem Augenblicke,
wo die Gedanken, die wir heraufholen aus dem Unterbewulken, an-
fangen zu kribbeln und zu krabbeln, anfangen so sich zu beneh-
men, daft wir das Gefuhl haben: da unten, unter der Schwelle, da
quirk und wurlt ja eigentlich alles. Und wahrend es da oben im
Oberstiibchen ganz ruhig ist und die Gedanken sich so hubsch be-
herrschen lassen, so wie Maschinen sich beherrschen lassen, lauft
da unten ein Gedanke dem anderen nach, da kribbeln und krab-
beln, da quirlen und wurlen die Gedanken, da unten werden sie
plotzlich eine ganz regsame Welt. Es ist wichtig, dafi man sich
dieses Gefuhl aneignet, denn in diesem Augenblick, wenn man das
Leben der Gedankenwelt zu fuhlen anfangt, ist man in der imagina-
tiven oder elementarischen Welt drinnen. Da ist man drinnen! Und
man kann so leicht hineinkommen, wenn man nur die aller-, aller-
einfachsten Regeln befolgt, welche in «Wie erlangt man Erkennt-
nisse der hoheren Welten?» gegeben sind; wenn man nur nicht ver-
sucht, auf dem Wege von allerlei in den letzten Tagen ja angedeute-
ten «Praktiken» hineinzukommen. Man kann wirklich so leicht hin-
einkommen. Denken Sie sich doch nur, daft als etwas vom allerer-
sten in dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Wel-
ten?» klar angegeben ist, man solle zum Beispiel versuchen, das Le-
ben einer Pflanze zu verfolgen: wie sie nach und nach wachst, wie sie
nach und nach wiederum vergeht. Ja, wenn Sie das wirklich verfol-
gen, so miissen Sie ja in Gedanken dieses Leben der Pflanze durch-
machen. Da haben Sie zuerst den Gedanken des ganz kleinen Sa-
menkorns und wenn Sie den Gedanken nicht beweglich machen, so
kommen Sie ja der Pflanze nicht nach in ihrem Wachsen. Sie miis-
sen den Gedanken beweglich machen. Und dann wiederum, wenn
Sie die Pflanze sich entblattern, allmahlich absterbend, abwelkend
denken, dann miissen Sie sich wiederum das Zusammenschrump-
fen, das Zusammenrunzeln denken. Sobald Sie anfangen, das Le-
bendige zu denken, miissen Sie den Gedanken selber beweglich ma-
chen. Der Gedanke mull durch Ihre eigene Kraft anfangen, innere
Beweglichkeit zu bekommen.
Es gibt zwei schone Gedichte von Goethe. Das eine heifit «Die
Metamorphose der Pflanzen», das andere «Die Metamorphose der
Tiere». Diese zwei Gedichte kann man lesen, man kann sie schon
finden, aber man kann auch folgendes machen. Man kann versu-
chen, den Gedanken in diesen Gedichten wirklich so zu denken, wie
ihn Goethe gedacht hat, von der ersten Zeile bis zur letzten und
dann wird man finden: wenn man das durchmacht, kann sich der
Gedanke innerlich bewegen vom Anfang bis zum Ende. Und wer
den Gedanken dieser Gedichte nicht so verfolgt, hat die Metamor-
phose nicht verstanden. Wer aber den Gedanken so verfolgt und ihn
dann hinuntersinken lafit ins Unbewufite, und sich wiederum, nach-
dem er das ofters gemacht hat, erinnert gerade an diesen Gedanken
der Metamorphose - denn es ist dies kein anderes Denken, als wie
Sie es in «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?» ver-
folgen sollen -, wer also das ausfuhrt, wer diesen Gedanken hinun-
tersenkt und dann sich bemiiht, dies funfzig-, sechzig-, hundertmal
zu machen, und hundertundeinmal wird es vielleicht brauchen, der
wird ihn einmal heraufkriegen. Dann aber wird dieser Gedanke, den
er so praktiziert hat, ein beweglicher sein. Man wird erleben, dafi er
nicht so heraufkommt, wie etwa eine kleine Maschine, sondern -
verzeihen Sie nochmals das Beispiel - wie eine kleine Maus; man
wird erleben, wie er selber ein innerlich bewegliches, lebendiges Ele-
ment ist.
Ich sagte, man kann so leicht hinuntertauchen in diese elementa-
rische Welt, wenn man sich nur ein wenig losreifit von dem Hang al-
ler Menschen nach abstrakten Gedanken. Dieser Hang, begrenzte,
abstrakte Gedanken zu haben statt innerlich bewegliche Gedanken,
der ist ja so furchtbar grofi. Nicht wahr, die Menschen gehen so dar-
auf aus, bei allem zu sagen, was das oder jenes ist und was damit ge-
meint ist, und sind so zufrieden, wenn sie sagen konnen, das oder
jenes ist damit gemeint, weil ihnen das einen Gedanken gibt, der
wie eine Maschine sich nicht regt. Und die Menschen werden im ge-
wohnlichen Leben so furchtbar ungeduldig, wenn man mit alien
Mitteln versucht, ihnen bewegliche und nicht solche abstrakte
Schachtelgedanken zu iibermitteln. Denn alles aufiere Leben des
physischen Planes und alles Leben der aufteren Wissenschaft besteht
aus solchen to ten Schachtelgedanken, aus eingeschachtelten Gedan-
ken. Wie oft habe ich es erleben miissen, daft Menschen mich bei
dem oder jenem fragten: Ja, wie ist es denn? Was ist das? - Sie woll-
ten einen abgeschlossenen, abgerundeten Gedanken, den sie sich
aufschreiben konnen, um ihn dann wieder ablesen, ihn wiederholen
zu konnen, so oft sie wollen, wahrend das Bestreben sein mufi, einen
innerlich beweglichen Gedanken zu haben, einen Gedanken, der
fortlebt, richtig fortlebt.
Aber sehen Sie, die Sache mit der Maus hat doch auch ihre ganz
ernste Seite. Denn warum schreien manche Menschen, wenn sie ent-
decken, sie haben in einen Schrank hineingegriffen und eine Maus
in der Hand? Weil sie sich furchten! Und dieses Gefuhl tritt wirklich
auch auf in dem Moment, wo man merkt, richtig merkt: der Gedan-
ke lebt! Da fangt man auch an, sich zu furchten! Und darin besteht
eben die gute Vorbereitung fur die Sache, daft man sich die Furcht
vor dem lebendigen Gedanken abgewohnt. Die Materialisten wollen
zu solch lebendigen Gedanken nicht kommen, ich habe das oft be-
tont. Warum? Weil sie Furcht haben. Ja, der Meister des Materialis-
mus, Ahriman, erscheint einmal im Mysteriendrama mit dem Aus-
druck «Furcht». Da haben Sie die Stelle in den Mysterien, wo das an-
gedeutet ist, wie man empfindet, wenn die Gedanken beginnen,
beweglich zu werden. Nun aber sind ja alle Angaben in «Wie erlangt
man Erkenntnisse der hoheren Welten?», wenn sie befolgt werden,
eben dahin bringend, daft man sich diese Furcht vor dem bewegli-
chen, vor dem lebendigen Gedanken abgewohnt, richtig abge-
wohnt.
Sie sehen also, man kommt in eine ganz andere Welt hinein, in
eine Welt, an deren Schwelle man das abstrakte Denken, das den
ganzen physischen Plan beherrscht, richtig ablegen mufi. Das Be-
streben der Menschen, die mit einer gewissen Bequemlichkeit in die
okkulte Welt hineinkommen wollen, besteht immer darin, daft sie
das gewohnliche Denken des physischen Planes da hinein mitneh-
men wollen. Das kann man nicht. Man kann nicht in die okkulte
Welt das gewohnliche physische Denken hineinnehmen. Man muft
das bewegliche Denken hineinnehmen. Das ganze Denken mufi reg-
sam, beweglich werden. Wenn man dies nicht spurt in sich - und
wie gesagt, man macht es nur nicht richtig, wenn man es nicht ver-
haltnismafiig bald spurt -, wenn man das nicht beachtet, was ich
jetzt gesagt habe, dann kommt man sehr leicht dazu, eben nicht die
Eigentiimlichkeit der geistigen Welt zu erfassen. Und man sollte sie
erfassen, wenn man sich iiberhaupt mit der geistigen Welt beschafti-
gen will.
Sehen Sie, es ist so schwierig, auf diesem Gebiet zu kampfen mit
der menschlichen Abstraktheit; denn wenn Sie dies Bewegliche des
Gedankens erfafit haben, dann werden Sie auch begreifen, dafi ein
beweglicher Gedanke nicht in beliebiger Weise da und dort auftre-
ten kann. Sie konnen zum Beispiel ein Landtier nicht im Wasser fin-
den; Sie konnen dem Vogel, der fur die Luft geeignet ist, nicht an-
gewohnen, tief unten im Wasser zu leben. Sie konnen, wenn Sie auf
das Lebendige gehen, nicht anders, als zu der Vorstellung sich be-
quemen, dafl man es aus seinem Element nicht herausnehmen darf.
Das mufi man beachten.
Ich habe einmal in einer ganz strikten Weise, zunachst auf einem
kleinen Gebiet - ich versuche es immer so zu machen, aber ich will
es jetzt nur als Beispiel anfiihren - mit einem sehr wichtigen Gedan-
ken versucht, gerade an einem Beispiel anschaulich zu zeigen, wie
die Dinge sein miissen, wenn man mit diesem innerlkhen Leben des
Gedankens rechnet. Ich habe in Kopenhagen einen kleinen Vor-
tragszyklus gehalten iiber «Die geistige Fiihrung des Menschen und
der Menschheit», der auch gedruckt vorliegt. An einer bestimmten
Stelle dieses Vortragszyklus habe ich aufmerksam gemacht auf das
Geheimnis von den zweijesusknaben. Nun nehmen Sie es einmal, wie
die Sache dort dargestellt ist. Wir haben einen Vortragszyklus, der in
einer gewissen Weise beginnt. Es wird da aufmerksam gemacht, wie
der Mensch sich schon gewisse Erkenntnisse aneignen kann, wenn er
hinzublicken versucht auf die ersten Entwickelungsjahre des Kindes,
zuriickzublicken versucht auf diese Dinge. Das Ganze ist gestaltet.
Dann geht es weiter. Es wird der Anteil der Hierarchien an dem
Menschheitsfortschritt dargestellt - das Buch ist ja gedruckt, es ist
wahrscheinlich in aller Hande, ich spreche also von etwas ganz Be-
kanntem -, dann wird in einem gewissen Zusammenhange, an einer
ganz bestimmten Stelle, von den zwei Jesusknaben gesprochen. Das
gehort zu der Besprechung der zwei Jesusknaben, daft es an der be-
stimmten Stelle geschieht. Und wer sagt: Ja, warum soil man denn
nicht das herausnehmen konnen, diese Besprechung der zwei Jesus-
knaben, und sie auch so herausgerissen exoterisch vortragen? - der tut
dieselbe Frage, wie einer, der fragt: Warum mufi denn die Hand just
hier am Arm sitzen, an diesem Teil des Korpers? Er konnte ja sogar
sagen: Warum sitzt die Hand nicht am Knie? Da konnte sie ja viel-
leicht auch sein. - Der versteht den ganzen Organismus nicht als Le-
bewesen, der glaubt, die Hand konnte auch woanders sitzen, nicht
wahr? Die Hand kann nirgends anders als am Arm sitzen! So kann in
diesem Zusammenhang der Gedanke von den zwei Jesusknaben
nicht an einer anderen Stelle sein, weil versucht ist, die Sache so auszu-
bilden, daft der lebendige Gedanke in der Darstellung drinnen liegt.
Nun kommt einer und schreibt eine Schrift und nimmt diesen
Gedanken grobklotzig heraus und setzt ihn mit anderen Gedanken
in Zusammenhang, mit denen er gar nichts zu tun hat! Das heiftt
aber nichts anderes als: er setzt die Hand ans Knie! Was tut einer,
der die Hand ans Knie setzt? Ja, an einem Organismus wird man es
nicht machen konnen, aber man konnte es ja zeichnen. Das Papier
ist geduldig, es konnte einer einfach eine menschliche Figur auf-
zeichnen, hier abgestutzt, und die beiden Knie so, daft Hande dar-
aus herauswachsen. [Diese Zeichnung ist nicht uberliefert.] Nicht
wahr, das konnte einer zeichnen, dann hatte er aber einen unmogli-
chen Organismus gezeichnet; er hatte bewiesen, daft er vom wirkli-
chen Leben nichts versteht! Man konnte ja auch den Vergleich ge-
brauchen: er hat den Adler, den Vogel, der fur die Luft bestimmt
ist, in die Tiefe des Meeres hinunterversetzt oder dergleichen.
Was hat ein solcher denn versucht? Ja, sehen Sie, dasjenige, was
er versucht hat, kann man mit alien Dingen, die sich nur auf Er-
kenntnisse des physischen Planes beziehen, ruhig tun. Da kann der
eine Professor ein Buch schreiben, indem er mit dem einen anfangt,
der andere kann mit dem anderen anfangen, und da kommt es nicht
so darauf an: da kann man die Dinge herausnehmen und so weiter.
Aber da hat man es nicht mit lebendigen Wesen zu tun, sondern
mit Gedankenmaschinen. Das ist das Wesentlkhe.
Es hat also ein Mensch, der so etwas macht, indem er eine solche
Sache aus dem Zusammenhang herausreifit und in einen unmogli-
chen Zusammenhang hineinversetzt, bewiesen, dafi er ganz und gar
nicht bekannt ist mit dem Wesen, das unsere ganze geisteswissen-
schaftliche Stromung seit ihrem Anbeginne durchfeuert und durch-
gluht, weil er versucht, nach dem ganz gewdhnlichen materialist! -
schen Schema auch das Geistige zu behandeln. Das ist sehr wesent-
lich. Es ist sehr wichtig, daft man diese Dinge ins Auge fafit, sonst ver-
steht man nicht von innen her den Nerv der hoheren Erkenntnisse.
Man kann nicht an jeder beliebigen Stelle alles sagen. Und es ist
wirklich in bezug auf das Exoterische, das etwas an das Esoterische
anstoflt, von Hegel schon ausgesprochen worden, daft ein Gedanke
an seine Stelle gehort im Zusammenhang. Ich habe das neulich ein-
mal angedeutet, als ich am Geburtstag Hegels einige Andeutungen
nach dieser Richtung hin zu machen versuchte. Man kommt also zu
nichts Geringerem auf diese Weise, als daft man mit dem Denken
ins Leben untertaucht, wahrend man sonst immer im Toten lebt;
man taucht ins Leben unter.
Dadurch aber enthullt sich einem auch etwas, was man vorher
iiberhaupt nicht hat erkennen konnen und was auf dem physischen
Plane gar nicht zu priifen ist, namlich das Entstehen und Vergehen.
Auch das konnen Sie schon aus «Wie erlangt man Erkenntnisse der
hoheren Welten?» ersehen. Auf dem physischen Plane ist ja nichts
anderes zu beobachten als das, was entstanden ist. Das Entstehen
kann gar nicht beobachtet werden, nur was entstanden ist, kann auf
dem physischen Plan beobachtet werden. Auch das Vergehen kann
nicht beobachtet werden, denn wenn der Gegenstand ins Vergehen
ubergeht, ist er nicht mehr auf dem physischen Plan, oder er geht
wenigstens weg vom physischen Plan.
Man kann also das Entstehen und Vergehen auf dem physischen
Plan nicht beobachten. Die Folge davon ist, daft wir sagen konnen:
Wir treten in ein ganz neues Weltenelement ein, wenn wir den be-
weglichen Gedanken entdecken, namlich in die Welt des Lebens und
das ist die Welt des Entstehens und Vergehens.
Okkultistisch gesprochen wiirde das auch in der folgenden Weise
ausgedriickt werden konnen: Der Mensch war wahrend der alten
Mondenzeit - allerdings nur im Traumbewufitsein - in der Welt des
Entstehens und Vergehens darinnen. Da war es nicht so, daft der
Mensch erst das Entstandene mit den Sinnen gesehen hat, denn er
hat ja die Sinne noch nicht zur Sinnenanschauung ausgebildet ge-
habt, sondern steckte noch in den Dingen drinnen. Er stellte zwar
traumhaft vor, aber die Bilder, welche er traumhaft vorstellte, die
liefien ihn wirklich das Entstehen und Vergehen verfolgen. Und das
ist es, wozu er sich erst wiederum aufschwingen mufi, indem er zu
beweglichen Gedanken kommt. So ist das Aufsteigen zur imaginati-
ven Erkenntnis zugleich eine Riickkehr, nur eine Ruckkehr auf der
Stufe des Bewufkseins. Wir kehren zuriick zu etwas, aus dem wir
herausgewachsen sind; wir kehren richtig zuriick.
So daft wir sagen konnen: Diese imaginative Erkenntnis ist die
Ruckkehr in die Welt des Entstehens und Vergehens. Entstehen und
Vergehen entdecken wir, wenn wir also zuriickkehren. Und wir kon-
nen gar nicht etwas erfahren iiber Entstehen und Vergehen, wenn
wir nicht zur imaginativen Erkenntnis kommen. Es ist ganz unmog-
lich, etwas iiber Entstehen und Vergehen auszumachen, ohne zur
imaginativen Erkenntnis zu kommen.
Daher ist ja das, was Goethe iiber die Metamorphose der Pflan-
zen und der Tiere geschrieben hat, so unendlich bedeutungsvoll,
weil Goethe das wirklich vom Standpunkte der imaginativen Er-
kenntnis aus geschrieben hat. Und deshalb konnten die Leute nicht
verstehen, was eigentlich gemeint war, als ich meine Kommentare
schrieb zu «Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften», die in den
verschiedensten Wendungen immer wieder ausdriicken, daft es gar
nicht darauf ankomme, an den gegenwartigen naturwissenschaftli-
chen Erkenntnissen diejenigen Goethes zu bemessen, sondern sich
in diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Goethes selbst zu ver-
tiefen und in ihnen etwas ungeheuer Uberragendes zu sehen, etwas
ganz anderes als die gegenwartigen Naturwissenschaftserkenntnisse
zu sehen. Deshalb habe ich hingewiesen auf einen Satz, den Goethe
so wunderschon ausgesprochen hat und in dem er andeutet, worauf
es bei ihm ankommt. Goethe machte die Italienische Reise und ver-
folgte dabei mit Interesse nicht nur die Kunst, sondern auch die Na-
tur. Man sieht, wenn man die «Italienische Reise» liest, wie er Schritt
fur Schritt sich in alles das, was ihm Mineralisches, Pflanzliches und
so weker bieten konnte, vertiefte. Und dann, als er in Sizilien ange-
kommen war, da sagte er, nach dem, was er da beobachtet hatte, nun
mochte er eine Reise nach Indien machen, nicht um Neues zu ent-
decken, sondern um das Entdeckte, das schon von anderen Entdeckte,
in seiner Kit anzuschauen. Das heifit mit anderen Worten: mit be-
weglichen Begriffen anzuschauen! Das ist es, worauf es ankommt:
Das, was andere entdeckt haben, mit beweglichen Begriffen anzu-
schauen. Das ist das so ungeheuer Bedeutungsvolle, daiS Goethe diese
beweglichen BegrifFe eingefuhrt hat in das wissenschaftlkhe Leben.
Daher ist fur den, der okkultistisch begreift, das Folgende ein
Faktum, das sonst verkannt wird. Ernst Haeckel und andere materia-
listische, oder wie man auch sagt, monistische Gelehrte, haben sich
sehr anerkennend iiber Goethes Metamorphose der Pflanzen und
der Tiere ausgesprochen. Aber daft sie sich anerkennend aussprechen
konnten, das beruht auf einem sehr merkwiirdigen Prozesse, den ich
Ihnen auch durch einen Vergleich klarmachen will.
Nehmen Sie an, Sie haben eine Pflanze in einem Blumentopf vor
sich, oder gar, was noch besser ist, draufien im Garten, und Sie wol-
len diese Pflanze geniefien. Sie gehen hinaus in den Garten, um sie
zu geniefien, um sich in ein Verhaltnis zu ihr zu bringen. Und nun
denken Sie sich, es gabe einen Menschen, der mit der Pflanze gar
nichts anfangen kann. Und wenn man sich fragt, warum, dann ent-
deckt man: Den stort ja eigentlich das Leben! Und darum macht er
einen Abgufi der Pflanze ganz fein nach, so dafi die Pflanze jetzt so
ist wie die wirkliche, aber in Papiermache. Das stellt er sich ins Zim-
mer und jetzt hat er seine Freude daran. Das Leben hat ihn gestort;
er hat erst jetzt seine Freude daran!
Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Qualen ich als Bub ausge-
standen habe bei dem Vergleich, der auch charakterisierend ist fur
die Gesinnung der Menschen, ich habe oftmals horen miissen als Kna-
be, dafi jemand das Schone einer Rose dadurch besonders hervor-
heben wollte, dafi er sagte: Wahrhaftig, wie aus Wachs! - Es ist zum
Aus-der-Haut-Fahren! Aber es gibt das. Es gibt das wirklich, daft je-
mand das Vorziigliche eines Lebendigen dadurch hervorhebt, indem
er in seiner Redewendung sagt, es ware wie ein Totes. Das gibt es
wirklich. Fiir den, der eine Empfindung fur die Sache hat, ist das et-
was Furchtbares. Aber wenn man nicht solche Empfindungen hat, so
kann man sich wirklich nicht der Realitat gemafi weiter entwickeln.
Nun also, bei Ernst Haeckel ist folgendes passiert. Goethe hat
«Die Metamorphose der Pflanzen» und «Die Metamorphose der Tie-
re» geschrieben, Haeckel liest sie und Ahriman verwandelt ihm das
Lebendige, das Goethe geschrieben hat, in Attrappen, in etwas, was
aus Papiermache eigentlich ist, und das begreift er. Das gefallt ihm
eigentlich. So dafi man in dem, was er lobt, gar nicht das gelobt hat,
was Goethe wirklich gemeint hat, sondern Haeckel hat es erst ins
Mechanistische umgesetzt. Da tritt eben zwischen Goethe und
Haeckel der Ahriman, der das Lebendige in ein Totes verwandelt.
Nun ist, wie ich gesagt habe, dieses sich zur imaginativen Er-
kenntnis bewufk Hinaufschwingen ein Riickkehren. Ich habe schon
im Anfang des Vortrages gesagt: eigentlich sind die Imaginationen
schon in uns, sie sind in uns seit der Mondenzeit, und die Erdenent-
wickelung besteht darinnen, daft wir die gewohnlichen Bewufitseins-
schichten dariibergelegt haben. Jetzt kehren wir durch das, was wir
uns im gewohnlichen Erdenbewufitsein angeeignet haben, wieder-
um zuriick. Es ist eine wirkliche Riickkehr.
Und nun kann man sich fragen: Wie kann man denn das Ganze
bezeichnen? Man kann jetzt sagen: Es ist ein Hinuntersteigen und
ein Wiederaufsteigen. Jetzt hat man erst eine Berechtigung, iiber-
haupt diese Linie hinzuzeichnen [die an der Tafel stehenden Worte
werden durch eine Linie verbunden, siehe Schema]; sie von vorn-
herein hinzuzeichnen hatte keinen Sinn. Und jetzt kann man erst sa-
gen: Auf der Stufe des gewohnlichen physischen Erkennens, da ist
man unten. Hier ist das unbewufite imaginative Erkennen, das jetzt
unten in unserer Natur sitzt, das zu tun hat mit den Kraften des
Entstehens und Vergehens; und auf der anderen Seite, bei dem Hin-
aufstieg, ist das bewufite imaginative Erkennen. [Beides wurde an der
Tafel angekreuzt.]
physischc
Grkenntnij
r
/
t
/ bewt/0te
/ imaginative
/X €rKenntnis
Wenn man nun gerade Goethe als ein naheliegendes Beispiel
nimmt - ich will ihn nur als ein Beispiel ansehen -, so kann man
sagen: Bei Goethe ist in der neueren Epoche der Punkt gekommen,
wo die auflere Entwickelung der Menschheit das imaginative Erken-
nen erfafk, wo es wirklich in die Wissenschaft eingefuhrt wird.
Nun kann man sich fragen: Jetzt kann man studieren, ob nicht
ganz merkwurdige Dinge damit verkniipft sind? Ja, sie sind damit
verkniipft, denn im Grunde genommen ist die ganze Goethesche
Denkweise eine durchaus andere als die anderer Menschen. Und
Schiller, der eben diese Denkweise nicht entwickeln konnte, der
konnte deshalb Goethe doch nur aus aufterster Anstrengung verste-
hen, wie Sie aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe er-
sehen konnen an der Stelle, die ich ofters anfuhrte, wo Schiller an
Goethe schreibt am 23. August 1794:
«... Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Feme, dem
Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorge-
zeichnet haben, mit immer erneuter Bewunderung bemerkt. Sie su-
chen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwer-
sten Wege, vor welchem jede schwachere Kraft sich wohl hiiten
wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um iiber das Einzelne
Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen
Sie den Erklarungsgrund fur das Individuum auf. Von der einfachen
Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickel-
ten hinauf, um endlich die verwickeltste von alien, den Menschen,
genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebaudes zu erbau-
en. Dadurch, dafi Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, su-
chen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine grofie und
wahrhaft heldenmafiige Idee, die zur Geniige zeigt, wie sehr Ihr
Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schonen Einheit
zusammenhalt. Sie konnen niemals gehofft haben, dafl Ihr Leben zu
einem solchen Ziele zureichen werde, aber einen solchen Weg auch
nur einzuschlagen, ist mehr wert als jeden anderen zu endigen, und
Sie haben gewahlt, wie Achill in der Ilias zwischen Phthia und der
Unsterblichkeit. Waren Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener
geboren worden und hatten schon von der Wiege an eine auserlese-
ne Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so ware Ihr
Weg unendlich verkiirzt, vielleicht ganz iiberflussig gemacht wor-
den. Schon in die erste Anschauung der Dinge hatten Sie dann die
Form des Notwendigen aufgenommen und mit Ihren ersten Erfah-
rungen hatte sich der grofie Stil in Ihnen entwickelt. Nun, da Sie ein
Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische
Schopfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als
entweder selbst zum nordischen Kunstler zu werden, oder Ihrer
Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nach-
hilfe der Denkkraft zu ersetzen, und so gleichsam von innen heraus
und auf einem ratio nalen Wege ein Griechenland zu gebaren. In
derjenigen Lebensepoche, wo die Seele sich aus der aufieren Welt ih-
re innere bildet, von mangelhaften Gestalten umringt, hatten Sie
schon eine wilde und nordische Natur in sich aufgenommen, als Ihr
siegendes, seinem Material uberlegenes Genie diesen Mangel von in-
nen entdeckte, und von auften her durch die Bekanntschaft mit der
griechischen Natur davon vergewissert wurde. Jetzt muftten Sie die
alte, Ihrer Einbildungskraft schon aufgedrungene schlechtere Natur
nach dem besseren Muster, das Ihr bildender Geist sich erschuf, kor-
rigieren, und das kann nun freilich nicht anders als nach leitenden
Begriffen vonstatten gehen. Aber diese logische Richtung, welche
der Geist bei der Reflexion zu nehmen genotigt ist, vertragt sich
nicht wohl mit der asthetischen, durch welche allein er bildet. Sie
hatten also eine Arbeit mehr, denn so wie Sie von der Anschauung
zur Abstraktion ubergingen, so muftten Sie nun ruckwarts Begriffe
wieder in Intuitionen umsetzen, und Gedanken in Gefiihle verwan-
deln, weil nur durch diese das Genie hervorbringen kann ...»
Er halt ihn fur einen in die nordische Welt versetzten Griechen,
und so weiter. Ja, da sehen Sie die ganze Schwierigkeit Schillers,
Goethe zu verstehen! Manche Leute konnten daraus etwas lernen,
die glauben, im Handumdrehen Goethe verstehen zu konnen und
sich dadurch iiber Schiller zu erheben, trotzdem Schiller auch nicht
gerade ein Tor war gegeniiber denjenigen Menschen, die da glau-
ben, Goethe so ohne weiter es zu verstehen!
Aber das Eigentumliche, das man entdecken kann, das ist das,
dafi Goethe auch in bezug auf andere Gebiete eine ganz eigentum-
lich abweichende Anschauung hat, zum Beispiel in bezug auf die
ethische Entwickelung des Menschen, namentlich in der Art zu
denken, was der Mensch als Belohnung oder Strafe verdient oder
nicht.
Man kann Goethe schon von Anfang an in seinem Wirken nicht
verstehen, wenn man nicht seine, ich mochte sagen, von seiner gan-
zen Umgebung abweichende Art, iiber den Menschen in bezug auf
Belohnung und Strafe zu denken, ins Auge fafit. Lesen Sie das Ge-
dicht «Prometheus», wo er sich sogar gegen die Gotter auflehnt. Pro-
metheus, das ist naturlich ein Auflehnen gegen die Denkweise der
Menschen iiber Belohnen und Strafen. Fur Goethe existiert die Mog-
lichkeit, sich ganz besondere Begriffe zu machen iiber Belohnen und
Strafen. Und in seinem «Wilhelm Meister» hat er das ja wirklich, ich
mochte sagen, wunderbar schiirfend in den Geheimnissen der Welt,
darzustellen versucht. Man versteht den «Wilhelm Meister» nicht,
wenn man das nicht ins Auge fafit.
Woher kommt denn das? Das kommt daher, weil man auf dem
Gebiet des physischen Erkennens iiberhaupt nicht sich eine Vorstel-
lung machen kann, welche Strafe oder welche Belohnung in bezug
auf die Welt fur irgend etwas Menschliches anzusetzen ist, denn das
kann erst aufgehen auf dem Gebiet der Imagination. Die Okkulti-
sten haben daher immer auch gesagt: Wenn man hinaufkommt in
die imaginative Erkenntnis, erlebt man nicht nur die elementarische
Welt, sondern auch - wie sie sich ausdriickten - «die Welt des Zor-
nes und der Strafe». Also nicht nur ist es hier eine Ruckkehr in die
Welt des Entstehens und Vergehens, sondern zu gleicher Zeit ein
Hinaufklettern zur Welt des Zornes und der Strafe. [Die Worte
«Riickkehr in die Welt des Entstehens und Vergehens» und «Welt
des Zornes und der Strafe» wurden an die Tafel geschrieben.]
Darum wird die eigentiimliche Verkettungsmoglichkeit zwischen
dem, was der Mensch wert ist und nicht wert ist mit Bezug auf das
Universum erst eine richtige Beleuchtung durch die Geisteswissen-
schaft erfahren konnen. Alles andere «Justifizieren» in der Welt ist
vorbereitend dazu.
Hier stehen wir an einem wkhtigen Punkt, wo ich dann morgen
fortfahren will.
DRITTER VORTRAG
Dornach, 19- September 1915
Gestern haben wir die Betrachtungen von einem gewissen Gesichts-
punkte aus zu der Charakteristik der imaginativen Erkenntnis ge-
fuhrt und Wert darauf gelegt, zu betonen, dafi der Mensch alles das-
jenige, was er bewufit durch die imaginative Erkenntnis in seinem
Bewufitsein gegenwartig macht, ja fortwahrend in sich hat. Ich habe
den Vergleich gebraucht, dafi in einem Zimmer, das finster ist, ver-
schiedene Gegenstande, meinetwillen auch Menschen seien, die
man mit physischen Augen in einem finsteren Zimmer nicht sieht.
Dann kommt man hinein mit einem Licht, und alles das, was drin-
nen ist, wird beleuchtet; es ist nichts Neues darin, alles war schon
vorher da. Der Unterschied ist nur der, dafi die Dinge nachher gese-
hen, wahrgenommen werden und vorher nicht. So ist es auch mit
dem, was uns die imaginative Erkenntnis darbietet. All das, was die
imaginative Erkenntnis zum Bewufitsein bringt, ist im Menschen
vorhanden, waltet und wirkt im Menschen da unten in den verbor-
genen Seelentiefen; es gehort zu dem, was im Menschen lebt und
webt. Und was das besonders Wkhtige fur den Menschen auf dem
physischen Plan ist: er wird fortwahrend in irgendeiner Weise ver-
mehrt oder vermindert in seinen Kraften durch das, was er im Leben
aufnimmt, erfahrt und hinuntersinken lafit von seinem Vorstel-
lungsleben in die Tiefen des Bewufitseins.
Ich werde bei einer spateren Gelegenheit Ihnen iiber diese Sache
noch etwas Genaueres zu sagen haben; denn der Vorgang ist sehr
unvollstandig charakterisiert, wenn man sagt: Hier [es wird gezeich-
net] sei die Schwelle des Bewufitseins; hier sei eine Vorstellung, die
sinke hinunter in das Unterbewufite und ware jetzt drunten wie ein
lebendiges Wesen. Wie gesagt, der Vorgang ist recht unvollstandig
beschrieben. Allein wir wollen erst langsam und allmahlich zu dem
wahren Tatbestand auf diesem Gebiet aufsteigen.
Was ich heute sagen will, ist, dafi wir also gewahr werden, wie
diese imaginativen Erkenntnistatsachen ja selbstverstandlich - wie
Sie aus dem Erorterten ersehen konnen - griindlich und tief zusam-
menhangen mit alien Lebensbedingungen des Menschen auch auf
dem physischen Plan von der Geburt bis zum Tode. Aber sie gehd-
ren zu den unbewuftten oder unterbewuftten Lebensbedingungen.
So dafi man auch aus dem, was wir betrachtet haben, die wichtige
Wahrheit gewinnen kann, dafi der Mensch so, wie er auf der Erde
lebt, abhangig ist von Bedingungen, die nicht in das helle Tages-
bewufitsein hineingehen , das wir von der Geburt bis zum Tode haben ,
aufier wenn wir schlafen. Also wir sind von Lebensfaktoren abhan-
gig, die man mit dem gewohnlichen normalen Bewufitsein nicht
kennen kann.
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Aber nach der ganzen Art, wie ich es dargestellt habe, sind diese
Lebensfaktoren, die da unten - und wir haben gestern gesagt, im
atherischen Leib - walten, dem Menschen doch noch recht nahelie-
gend, so naheliegend, daft sie, weil sie verwandt sind, sich verbinden
mit dem, was der Mensch fortwahrend hinuntersinken lafit von sei-
ner Yorstellungswelt. Denn der Mensch kann gewissermafien, wenn
er seine Gedanken umwandelt in Erinnerungsvorstellungen, selber
seine Gedanken zu der Substanz umformen, die da unten im Unter-
bewufiten ist. Es ist ja [substantiell] ganz dasselbe, wie das, was wir
denken. Wenn das, was wir denken, unten ist, ist es gerade so eine
quirlende, wurlende Mauswelt, wie das, was da unten lebt und webt
und was im Grunde genommen lebendiges Gedankenleben ist. Das
ist aber der atherische Leib, das ist aus dem Kosmos in den atheri-
schen Leib hereingekommen. Und weil es mit dem uns bewufiten
Gedankenleben verwandt ist, steht es dem Menschen noch sehr
nahe. Und so, wie es [heute in uns im Unbewufiten] lebt und webt, so
war es im Grunde genommen wahrend des alten Mondendaseins voll
vorhanden. Das [Mondendenken] war - wenn Sie sich es traumhaft
vorstellen, wenn Sie sich denken, dafi es ganz eingetaucht ist in
Traumleben - iiberhaupt so verlaufend, wie wenn Sie traumen, aber
im Traum das lebendige Weben des Gedankens wahrnehmen. Da-
mit haben Sie das alte Mondenvorstellen. Es kommt nur bei uns
wahrend des Erdendaseins noch dazu, dafi wir uns anstrengen miis-
sen, Gedanken zu haben, Gedanken zu bilden durch eigene An-
strengung. Diese Gedanken durch eigene Anstrengung bildete sich
der alte Mondenbewohner nicht. Er lebte in den Traumesbildern,
die nur nicht so tot waren wie unsere Gedanken, sondern eben
webendes Leben, bildwebendes Leben waren.
Sie konnen aus dem, was ich Ihnen dargestellt habe, ersehen, dafi
wir, wenn wir uns hineinleben in die imaginative Welt, etwas gewin-
nen und zugleich etwas verlieren. Die Beruhigung, das irdische ge-
ruhsame Erleben der Gedanken, das verlieren wir; das haben wir
nicht mehr in der Gewalt, weil die Gedanken selber lebende innere
Gewalten sind. Im gewohnlichen Leben fuhlen wir uns als Herrscher
unserer Gedanken; so haben wir sie nicht da in der imaginativen
Welt; aber dafur ergreifen wir auch ein Leben, das eben Leben ist.
Die Gedanken, die wir im physischen Leben haben, sind tot; das,
was wir da ergreifen, das lebt und webt. Und so war es schon wah-
rend des alten Mondendaseins fur die Menschen, nur hatten sie es
traumhaft, und nicht bewufit. Zu dem Bewufiten wird dann [in der
Erdenentwickelung] aufgestiegen. Und aus dem bewufiten Erken-
nen desjenigen, was wahrend des alten Mondendaseins traumhaft
war, geht die imaginative Erkenntnis als die erste Stufe desjenigen
hervor, aus dem die geisteswissenschaftliche Erkenntnis genommen
werden mufi. Verwandt ist also diese imaginative Erkenntnis noch
recht sehr mit dem Menschen.
Nun, ich sagte, man gewinnt etwas und man verliert etwas. Mit
dem ersteren, dem Gewinnen von etwas, waren die Menschen schon
einverstanden; aber mit dem Verlieren, da sind sie nicht einverstan-
den. Und daraus gehen unzahlige Irrtiimer hervor; sehr, sehr viele
Irrtumer gehen daraus hervor. Sehen Sie, es ist nicht so ganz leicht,
wenn man sich nicht Miihe gibt, sich vorzustellen, wie eigentlich
dies traumhafte imaginative Vorstellen wahrend der Mondenzeit
war. Wenn wir hier auf der Erde leben, ist es ja wegen der physi-
schen Entwkkelungsepoche unbequem, immer erst auf Grundlage
der irdischen Tatsachen sich Vorstellungen und Gedanken bilden zu
sollen. Das ist ja eben gerade das Unbequeme des Studierens. Man
muE die Tatsachen wirklich erwagen, die Tatsachen beurteilen, die
Tatsachen in Verbindung bringen, und man mufi langsam durch ei-
gene Anstrengung sich durcharbeiten in den Gedanken- und Vor-
stellungswelten, die man eben als irdischer Mensch mit dem irdi-
schen Willen beherrscht. Da empfmden manche es dann als etwas
viel Bequemeres, wenn ihnen die lebendige Gedankenwelt emfach
so gegeben wird, dafi sie darauf nur zu warten brauchen: bekommen
sie die «Erleuchtung» davon, dann geht es in ihr Seelenleben hinein,
dann brauchen sie nicht mehr Gedanken zu entwickeln. So denken
sie; kommen aber dadurch nicht weiter als sie sind. Man steht viel
hoher als Erdenmensch denn als Mondenmensch; denn man hat sich
weiterentwickelt. Gegeniiber dem traumhaften Mondenimaginieren
steht man als Erdenmensch, der die Tatsachen kombiniert und der
mit seinem verniinftigen Urteil sich Begriffe bildet aus den Lebens-
erfahrungen, viel hoher als der Mondenmensch und als derjenige,
der zuriickersehnt dies Mondenmenschendasein, das in nicht von
Gedanken erarbeiteten Erleuchtungen bestehen soil.
Man kann da eigentiimtiche Erfahrungen machen. Nicht dafi der
Mensch, wenn er zu diesem mondhaften Erkennen zuriicksinkt, da
etwa keine Gedanken hatte. Er hat Gedanken; aber die kommen
von selbst, er braucht die Arbeit [des Tatsachendenkens] nicht zu
verrichten. Das erscheint ja auch wiederum recht bequem. Man
kann immer wieder eine bestimmte Erfahrung machen, eine ganz
wichtige, bestimmte Erfahrung, die ins Auge gefafk werden mull,
wenn man diese Dinge iiberhaupt richtig verstehen will.
Es gibt Menschen, die kommen zu einem gewissen visionaren
Hellsehen. Dieses traumhafte Imaginieren, dieses visionare Hell-
sehen ist ja immer ein Zuriickfallen in die Mondennatur . Denn wirkli-
ches, fur die Erde erwiinschbares Hellsehen muft auf einer hoheren
Stufe, auf einer noch grofteren Erarbeitung durch die Gedankenwelt
beruhen als das Erkennen des physischen Planes. Das Zurikksinken
ist nicht eine Erhdhung, nicht ein Hinaufentwickeln des Menschen,
sondern ein Sich-Hinunter-Entwickeln, ein Weniger-intelligent-
Werden als man als normaler Erdenmensch ist. Und da kommt es zu
diesem eigentumlichen Erlebnis, das man immer wieder haben kann.
Es gibt Menschen, die haben ein gewisses visionares Hellsehen, sind
aber eigentlich gar nicht intelligent. Ja, es hangt geradezu ihr Hell-
sehen damit zusammen, dafi sie die Intelligenz fliehen, daft sie die
Intelligenz, die man als Erdenmensch zu entwickeln hat, gar nicht
entwickeln mogen. Gerade das Heruntergedampftsein der gewohn-
lichen irdischen Intelligenz findet man sehr haufig verbunden mit
einem gewissen Grade visionaren Hellsehens, das ein mondenhaft-
atavistisches ist. Und da stellt sich vielleicht folgendes ein: Solche
Menschen konnen dann von ihren Bildern Aufzeichnungen machen.
Diese Aufzeichnungen sind nicht etwa gedankenlos, sondern mit
Gedanken verwoben - die Gedanken kommen mit den Bildern -
und darinnen sind geistreiche, ganz geistvolle Bilder verwoben. Und
dann kann das Ratsel entstehen: Ja, da ist ein Mensch, der be-
schreibt in Bildern, in sehr schonen Bildern, Atlantis oder auch ande-
res, das ihm visionar kommt und das ist absolut logisch intelligent.
Aber ich habe nie solche intelligente Logik wahrgenommen bei je-
nem Menschen, wenn er iiber die Dinge des physischen Planes etwas
erklaren soil; dann hat er sie nicht. Er ist nicht genug Erdenmensch
geworden. Doch wenn er in die Mondenintelligenz zuruckf alien
darf, dann kommt die Intelligenz. Aber dann ist es nicht seine Intel-
ligenz, dann ist er blofi Medium fur die Mondenintelligenz, dann
wirkt die Mondenintelligenz in ihn herein. Man kann wunderschone
Beschreibungen von geistigen Welten von Menschen erhalten, die so
ein wenig zuriickgesunken sind in die Mondenstufe, und die, wenn
sie ihre irdisch erarbeitete Intelligenz anwenden wollen, selber gar
nicht begreifen konnen, was sie da eigentlich hervorgebracht haben,
dies auch meistens gar nicht wollen.
Ich sagte: Beim Aufsteigen zur imaginativen Erkenntnis mufi
man etwas gewinnen und etwas verlieren, und dafi die Menschen
meistens nichts verlieren wollen. Ich wies auch darauf hin, dafi Men-
schen, die Geist haben, diesen nicht verlieren wollen. Das sind jetzt
nicht diejenigen, die das visionare Hellsehen lieben, die wollen
namlich ganz gern die gewohnliche Intelligenz, das gewohnliche
Denken verlieren. Aber es gibt eine andere Gruppe, welche diese In-
telligenz nicht verlieren will. Sie mochte diese Intelligenz, so wie sie
auf dem physischen Plane ist, erhalten, nur will sie sie nicht weiter-
bilden. Sie will in bezug auf diese Intelligenz nicht weiterarbeiten,
so dafi der Mensch dazu kommt, die Begriffe freier zu gebrauchen,
als sie unter den Vorgangen des physischen Planes gebraucht wer-
den. Und dann kommen solche Menschen in ein Allegorisieren, in
ein Symbolisieren hinein, das doch wieder nur eine Tatigkeit des
physischen Planes ist, weil es das Denken nicht fortbildet, sondern es
stehen lafit, und ihm dann aufiere Gedankenmantelchen umhangt
von allerlei erlesenen okkulten Sachen. Das ist sehr wichtig, dafi man
das auch beriicksichtigt.
Und sehen Sie, das war schon im Bewufitsein derjenigen, die sich
langsam und allmahlich heraufgearbeitet haben oder heraufarbeiten
wollten zu den Gesichtspunkten, die wir heute in der Geisteswissen-
schaft haben miissen. Heute mussen wir in der Geisteswissenschaft
wirklich der Menschheit etwas vom klaren Denken bringen, verbun-
den mit der Moglichkeit, etwas von geistigen Welten zu wissen, aber
in klarem, in vollstandig klarem Denken. Es hat wirklich lange ge-
dauert, bis die Moglichkeit gekommen ist - und hoffentlich ist sie
jetzt da -, diese Sachen so zu durchschauen. Und viele Menschen ha-
ben sich dazu durchgearbeket. Menschen von einer so grofien Klar-
heit wie zum Beispiel Goethe sind ja der vollstandigen Klarheit sehr
nahe gekommen. Aber es haben sich viele durchgearbeitet. Denken
Sie doch nur, wie Jakob Bohme von dem Ubergangspunkte der ma-
terialistischen Zeit an gerungen hat, aus den chaotisch sich winden-
den, bewegenden und quirlenden und wurlenden Begriffen her-
aus - die hat er schon gehabt - sich wirklich so durchzuarbeiten, dafi
dasjenige herausgekommen ist, was eben bei Jakob Bohme doch als
eine tiefsinnige Beleuchtung mancher Geheimnisse der geistigen
Welt dasteht.
Wieder ein anderer hat einen wunderschonen Satz ausgespro-
chen - ich mochte sagen, wie in der Morgenrote der neueren Zeit das
Blickfeld wunderbar beleuchtend -, aus dem man sieht, oder wenig-
stens aus dem, was er sonst geleistet hat, kann man es sehen, wie er
zwar nicht mit vollig klarem Blick durchdringen konnte zu dem, was
heute Geisteswissenschaft sein soil, aber doch so weit kommen konn-
te, gerade den wichtigsten Nerv darzustellen. Es hat namlich der
Mann, von dem ich jetzt rede, im 18. Jahrhundert eingesehen: Will
man den Menschen erkennen, so mufi man durch die Finsternisse,
durch die Wirrnisse der aufieren materiellen Erkenntnis durchdrin-
gen. Schon wenn Sie auf der ersten Stufe der imaginativen Erkennt-
nis stehen, ist das notwendig. Denn wir haben gesehen, was da unten
in den Tiefen der Seele webt, das kann man mit der physischen Er-
kenntnis gar nicht erreichen. Da mufi man durch die Finsternis
durchdringen. Aber das ist nicht das einzige, was man tun mufi.
Man mufi auch durch die Wirrnisse der gewdhnlichen Begriffe zur Er-
kenntnis durchdringen, man mufi auch diese Wirrnisse zerstreuen.
Also man mufi auch hinauskommen iiber das gewohnliche, auf dem
physischen Plan wirkende Denken.
Und da hat denn dieser Mann einen sehr schonen Satz gepragt.
Der erste Teil dieses Satzes wird gern befolgt, der zweite Teil wird
fast gar nicht befolgt. Aber es ist wichtig, ihn zu befolgen. Sehen
Sie, das geben heute die meisten zu, die irgendwie auf irgendeinem
Gebiet Mystiker werden oder sein wollen, dafi man das Sinnliche,
das Materielle abstreifen mufi, daft man die Wirrnisse des Materiel-
len abstreifen mufi, um ins Geistige einzudringen. Dafi man aber
auch abstreifen mufi die Formen des Geistigen, die dem begriffli-
chen Denken anhaften, das geben die wenigsten zu; denn sie moch-
ten sie mitnehmen, mochten damit ebenso wirtschaften wie auf dem
physischen Plane, mochten da unten im Unterbewufiten den Ge-
danken als Erinnerungsmoglichkeit gerade in derselben Form fin-
den, die er da oben hat.
Es ware aber ein Irrtum, wenn Sie glauben wollten, dafi der Hell-
seher, wenn er hineinschaut in das menschliche Gemiit, die Gedan-
ken da geradeso wiederfindet, wie der sie denkt, der sie im Kopfe
hat. Das ist nicht wahr. Da unten sind sie verwandek, sind sie leben-
dige Wesen, eine elementarische Welt. Die Welt der Gedanken, die
der Mensch hier auf dem physischen Plane hat, die findet man nicht
in der geistigen Welt. Deshalb hat jener Mann einen schonen Satz
gepragt, den ich Ihnen aufschreiben will, denn er kann wirklich an-
gesehen werden als eine Art Probieren im eigenen Gemute: Wie
kommt man nur dahin, iiber die Welten, die aufierhalb der irdi-
schen Welt liegen, etwas zu wissen?
Da sagte er [es wurde an die Tafel geschrieben]:
Dissipez vos tenebres materielles et vous trouverez Phomme
Mit diesem Teil des Satzes: Die materiellen Finsternisse und Wirr-
nisse zu zerstreuen - sind die Menschen, die Mystiker sein wollen,
einverstanden. Den zweiten Teil des Satzes aber begreifen die Men-
schen heute noch kaum. [Es wurde an die Tafel geschrieben]:
Dissipez vos tenebres spirituelles et vous trouverez Dieu
wobei wir fur «Dieu», weil das noch gefarbt ist von religiosen Vor-
stellungen, den ganzen Inhalt der Geisteswissenschaft uns vorzustel-
len haben. Nicht wahr, er konnte noch nicht den Ausdruck finden,
den man heute finden kann.
Nun konnen Sie sich sicher denken, wenn heute jemand den Satz
liest: «Dissipez vos tenebres materielles et vous trouverez l'homme»,
dafi er sagt: Ja, schon, da komme ich eben in die geistige Welt hin-
ein, das will ich schon. Aber bei «Dissipez vos tenebres spirituelles
et vous trouverez Dieu» sagt er: Ja, was bleibt mir dann noch, da
habe ich ja dann nichts mehr?
Ja, was bleibt da? Gerade das bleibt, was der Inhalt der heutigen
Geisteswissenschaft ist. Das ist notwendig: der gewohnlich als einzig
richtig geglaubte Erkenntnisinhalt des physischen Planes mufi eben-
so zerstreut werden, wie die materielle Finsternis. Bemerken Sie
nun, wie in unserer Geisteswissenschaft dieses beachtet ist . . . [Liicke
in der Nachschrift].
Dieser Satz ist ein Satz des sogenannten «philosophe inconnu»,
des Saint-Martin, der sich ja als ein Schuler Jakob Bohmes auffafite.
So finden wir schon bei Saint-Martin eine tiefe Sehnsucht nach dem-
jenigen, was in der Geisteswissenschaft zutage treten soil. Aber er
nennt sich «philosophe inconnu», unbekannter Philosoph, weil das-
jenige, was er in seinem Inneren trug - trotzdem natiirlich die Leute,
die ihn sahen, seine Nase sahen, seine Hande sahen, die Worte
horten, die er sprach -, ihnen doch fremd blieb. Der eigentliche
Philosoph Saint-Martin blieb ihnen doch unbekannt, recht un-
bekannt.
Es ist also das Sichaneignen der imaginativen Erkenntnis nach
den Auseinandersetzungen, die wir gestern gepflogen haben, eine
Ruckkehr, eine bewufke Riickkehr zu der Art und Weise, wie der
Mensch sein Verhaltnis zur Welt wahrend der Mondenzeit hatte. So
dafi wir sagen konnen - Sie erinnern sich, wir haben das schon von
einer anderen Seite gerade hier in Vortragen dargestellt: In dem
Menschen walten heute noch, aber ubersinnlich, als Geistig-Uber-
sinnliches, die Geschehnisse, die auf Erden eigcntlich nicht normale
Geschehnisse sind, sondern wahrend der Mondenzeit normale Ge-
schehnisse waren. Er hat sich diese Mondengeschehnisse bewahrt; er
kann in gewissem Sinne zuruckfallen. Dann bringt er auf ganz ande-
re Art Erkenntnisse hervor, als der Erdenmensch solche Erkenntnisse
hervorbringen kann. Er kann zu visionarem Hellsehen kommen, ab-
gedampfte Intelligenz haben und gerade einem das Ratsel aufge-
ben, von dem ich vorhin gesprochen habe, namlich dafi er, wenn
man ihn veranlassen wiirde, verniinftig wissenschaftlich zu arbeiten,
oder auch nur fur die gewohnlichsten alltaglichsten Ereignisse ver-
niinftige Entschliisse zu fassen, es nicht kann, dafi es ihm nicht ge-
lingt; aber wenn er irgend etwas aus der Vision heraus schreibt,
selbst iiber die Vorgange, die sich zur Zeit des Mysteriums von Gol-
gatha abgespielt haben, er zwar nur Bilder aufschreibt, im Monden-
leben stehenbleibt, aber doch furchtbar gescheit schreibt. Und es
stimmt das, was er schreibt, mit dem, was man an dem Menschen
sonst kennt, gar nicht zusammen. Also, er kann theoretisch nichts,
aber er schreibt medial sehr Geschekcs, so dafi man erstaunt sein
kann iiber das Gescheite. Das ist aber keine Weiterentwickelung, das
ist eine Zuriickentwickelung des Menschen. Das schliefit natiirlich
nicht aus, dafi durch einen solchen Menschen Wahrheiten zutage
treten konnen, weil er doch wiederum im irdischen Sein steht und
mit dem irdischen Sein verkniipft ist und dazu dies noch rege Mon-
denleben in sich hat.
Ich habe versucht, die verschiedenen Typen der Menschen in den
Mysteriendramen darzustellen, und auch eine solche Gestalt zu
zeichnen, die in das Mondenhafte zuriickfallt, die also auf dem phy-
sischen Plan unintelligent ist und doch richtige Dinge offenbaren
kann, die also unter dem Niveau des normalen irdischen Menschen
steht: das ist die Theodora. Die Theodora ist eine Gestalt, bei der
gerade gemeint ist, daft sie ein Riickfall in das MondenbewuBtsein
ist. Das ist ja sehr klar. Ich mochte sagen, es ist sehr klar dort darauf
hingewiesen, wie das ist, indem gesagt ist an der einen Stelle, wo die
Theodora auftritt: «Theodora, eine Seherin. Bei ihr ist das Willens-
element in naives Sehertum umgewandelt.» Naives Sehertum heifit
eben Mondensehertum, selbstverstandlich. Es ist ein naives Seher-
tum, und so ist der Charakter auch durchgefuhrt. Und aus diesem
Grund ist es auch, dafi im letzten Mysterium ja nicht mehr die Theo-
dora selbst auftreten kann, sondern nur ihre Seele, weil sie gewisse
Dinge nicht mitmachen kann. Gerade diese Mysteriendramen soli-
ten sehr, sehr genau genommen werden. Vielleicht wird mancher
von Ihnen einmal dahinterkommen konnen, dafi kaum irgend etwas
in den letzten Tagen sich hier abgespielt hat, was man nicht schon in
den Mysterien in irgendeiner Form lesen konnte. Hatte man es gele-
sen, so wie die Dinge gelesen werden sollten, so wiirden wir diese
Konfusionen nicht notig gehabt haben.
Also halten wir fest: das, was als imaginative Welt erlebt wird, das
steht dem Menschen verhaltnismafiig noch sehr nahe. Viel weniger
nahe dagegen steht ihm dasjenige, was als inspirierte Welt erlebt
werden kann. Denn wenn man zunachst sich in die inspirierte Welt
hineinlebt, umfalk sie diejenigen Tatsachen, die sich nicht wahrend
des Mondendaseins, sondern schon wahrend des alten Sonnenda-
seins abgespielt haben und die der Mensch sich auch bewahrt hat.
Man dringt also in noch grofiere Tiefen der Menschenseele ein, wenn
man sich zur inspirierten Welt durcharbeitet. Und die inspirierte
Welt, auf die man zunachst trifft, die hat nun eine [bestimmte]
Eigentumlichkeit .
Sehen Sie, wenn der Mensch sich zur imaginativen Welt durchar-
beket, so stofit er auf Tatsachen, die sich wahrend des alten Mon-
dendaseins abgespielt haben. Wenn Sie sich den alten Mond vorstel-
len in den Phasen, wo er von der damaligen Sonne abgespalten war -
Sie konnen das in der «Geheimwissenschaft» nachlesen -, so lebte
der Mensch zu gewissen Zeken auf diesem von der Sonne abgespal-
tenen Mond. Und was der Mensch da erlebte, auf das stofit man zu-
nachst, wenn man zuruckkehrt mit dem alten, traumhaften, imagi-
nativen Hellsehen. Wenn man aber in die inspirierte Welt hinein-
kommt, dann erlebt man in der Ruckkehr nicht ein von der Sonne
abgespaltenes, sondern ein Sein, direkt in der Sonne drinnen; also
die Tatsachen, die der Mensch zusammen mit der Sonne erlebt hat.
Man erlebt wirklich richtige Sonnentatsachen. Und diese Sonnentat-
sachen, sehen Sie, die sind nun mit dem Menschen eigentlich nicht
mehr verwandt. Denn so wie der Mensch jetzt, wahrend des irdi-
schen Daseins, ist - wenn er nicht in die Tiefen seiner Seele sieht,
nicht auf das sieht, was in den tief verborgenen Griinden seiner See-
le ist -, ist er eigentlich durch das, was er auf der Erde ist, wirklich
mehr eine Hulle. Er ist nicht eine richtige Menschenwesenheit, er ist
mehr eine Hulle. Er hat zunachst seine physische Form an sich; die
ist ja so, wie sie uns auf dem physischen Plan vor Augen tritt, wah-
rend des Erdendaseins entstanden. Aber darmnen wirken Krafte,
die man nicht sehen kann, und die sogar von der jetzigen Wissen-
schaft noch nicht gesucht werden.
Es ist einem Freunde von uns die Anregung gegeben worden, mit
dem ihm zu Gebote stehenden biologischen Material nach dieser
Richtung zu suchen. Der Freund gibt sich viel Miihe und wird viel-
leicht nach einiger Zeit - solche Dinge kosten sehr viel Studium -
eine Moglichkeit herausbringen konnen, um die Brucke hiniiberzu-
schlagen zu diesen verborgenen Teilen der Menschennatur. Aber es
ist dazu notwendig, dafi man eben gerade die biologischen Tatsa-
chen durchforscht, welche von der gegenwartigen Wissenschaft nicht
beriicksichtigt werden, welche der gegenwartige Forscher, der expe-
rimentiert, gleichsam liegen lafit. Man mufi also die Praparate auf
das hin durchforschen, was die anderen Forscher gar nicht interes-
siert, was sie liegen lassen. Da fehlt natiirlich noch viel, und man
niufi viele neue Forschungen machen. Es ist leicht mbglich, dafi das
eine vieljahrige Arbeit werden wird, bis sie fertig sein kann. Aber es
ware eine im eminenten Sinne wichtige Arbeit, weil es uns zeigen
konnte, was noch mit den Mitteln der physischen Wissenschaft von
dem erreichbar ist, was vom alten Mond in der Menschennatur lebt.
Es wird sich da eine ganz neue Embryologie, ein neuer Teil, eine
neue Seite der Embryologie ergeben. Es ist notwendig, daft das ein-
mal gemacht wird. Aber damit ist es eigentlich aus; mehr kann man
nicht finden, wenn man sich den Menschen von aufien ansieht.
Denn das, was heute am Menschen so von aufien gefunden werden
kann, ist eigentlich nicht alter, nicht einmal so alt wie die alteste Zeit
des alten Mondendaseins. Aber es werden aus solchen Forschungen,
von denen ich eben gesprochen habe, Ruckschliisse gemacht werden
konnen auf Vorgange des alten Mondendaseins. Die werden iiber-
einstimmen mit dem, was in der «Geheimwissenschaft» geschildert
ist. Aber, wie gcsagt, man kommt nicht sehr weit zuriick, wenn man
den Menschen so betrachtet, wie er heute ist; nicht einmal an den
Anfang des alten Mondendaseins, geschweige denn zu dem alten
Sonnendasein.
Wenn man zum alten Sonnendasein zuruckkommen will, dann
mufi man eben schon viel, viel weniger Materielles im Menschen
nehmen, als in der Wissenschaft genommen werden kann, von der
ich eben gesprochen habe. Denn worum es sich dabei handelt, das
ist, dafi eigentlich in die Menschennatur etwas hereindringt, was der
Mensch auf Erden zwar zur Offenbarung bringen kann, aber nicht
zur Offenbarung bringen mufi. Er kann, aber er mufi es nicht zur
Offenbarung bringen. Wenn zum Beispiel wirklich Inspirationen
beim Kiinstler, beim Dichter eintreten, dann kommen sie zuletzt -
wenn sie wirklich Inspirationen sind - aus der geistigen Welt des
Sonnendaseins. Sie kommen wirklich aus der geistigen Welt des
Sonnendaseins. Nur ist unsere Zeit so entsetzlich geistarm, dafi das
abgelehnt wird, was aus den Inspirationen des Sonnendaseins
kommt, und man eigentlich immer nur naturalistisch bilden, sich an
das Modell, das heifit ans Irdische halten will, wahrend dasjenige,
was vom Modell kommen kann, ja nur das Material ist zu dem, was
man eigentlich schaffen soil. Die Kiinste, die den einzelnen Kunst-
ler davor schiitzen, am Modell zu hangen, ins Materielle zu verfal-
len, das sind die Architektur und die Musik. Die Architektur kann
im Grunde genommen nichts nachbilden; macht es oftmals auch
recht ungeschickt. Und die Musik kann auch nichts nachbilden,
denn das ist doch keine rechte Musik, wenn man Vogelfloten und
Katzenmiauen nachbildet, wie man in der Malerei Modelle nachbil-
det und so weiter. In der Musik kann man nur das ganz hohe Mate-
rial des Tones nehmen. Aber so mufite es in jeder Kunst sein. Gera-
desoviel wie der Musiker aus der Musik nimmt, geradesoviel mufi
auch der Maler nehmen. Was fur den Musiker die Tone sind, mufi
fur den Maler die Form, die Farbe sein. Das Modell mufite ihm nicht
mehr geben als das Material. Also Kimstlerisches kann nicht aus dem
Modell heraus genommen werden, sondern entspringt der Inspira-
tion, die auf das alte Sonnendasein zuruckfuhrt. Daher das fur die
Erde Fremde der wirklich grofien Kunstwerke. Ich sagte, der Mensch
kann ohne die kiinstlerischen Inspirationen leben, er kann, er kann
sie zwar hereinbringen, aber er braucht sie nicht hereinzubringen.
Der Botokude, nicht wahr, der sagt ja: Der Mensch kann auch ohne
die Kunst leben.
Nun aber konnen Sie - und diejenigen, die die Dinge im tieferen
Sinne mitmachen, werden das iiber kurz oder lang tun -, Sie konnen
eine wichtige, urwichtige Frage aufwerfen, die Frage: Ja, wenn
wir das Saturndasein, das Sonnendasein, das Mondendasein, das
Erdendasein haben, alle mit bestimmten Tatsachen, und zum
Mondendasein zuriickkehren in der imaginativen Erkenntnis,
zum Sonnendasein in der inspirierten Erkenntnis und daraus
ergibt sich ja, dafi wir in der intuitiven Erkenntnis zum Saturn-
dasein zuriickkehren; ja, wenn das also so ist, dafi wir keine neuen
Tatsachen haben, sondern zu den alten Tatsachen zuriickkehren,
warum braucht denn der Mensch dann uberhaupt sich weiterzu-
entwickeln?
Also diese Frage konnte jemand aufwerfen: Warum denn die
Weiterentwickelung? Warum denn iiberhaupt das ganze Erdenda-
sein, das uns losldst von den Tatsachen, durch die wir uns entwickelt
haben, so dafl die Erkenntnisse hinuntergeriickt werden ins Unbe-
wulke, und wir uns erkennend erst wieder zu ihnen hinaufranken
miissen? Warum denn das Ganze?
Ja, sehen Sie, weil wir nur dadurch wahre Menschen werden, weil
wir nur dadurch unsere wahre Natur wirklich vollenderi konnen.
Und das kann man auch schon aufierlich sehen, wenn man wirklich
solche Personlichkeiten studiert, die etwas von den beweglichen Be-
griffen, von dieser Begriffsmaus hatten, wie ich sie Ihnen angefuhrt
habe zum Beispiel in der «Metamorphose der Pflanzen» und der
«Metamorphose der Tiere» von Goethe. Solche Naturen mufi man
studieren. Und solche Naturen zeigen zugleich, dafi sie, wenn sie
nun innerlich ganz wahr sind, in einem ganz bestimmten Verhalt-
nisse stehen zu einer noch anderen Welt der Seele. Gerade bei
Goethe zeigt sich das. Studieren Sie den «Wilhelm Meister», studie-
ren Sie alle Gedichte von Goethe, dann werden Sie finden, daft bei
ihm in einer merkwiirdigen Weise eine bestimmte Art auftrat, iiber
die Welt zu richten, iiber die Welt zu urteilen. Sie werden namlich,
wenn Sie sich auf diese Dinge einlassen, finden, daft in demselben
Mafte, in dem bei Goethe sich die Metamorphosenidee entwickelt,
sich bei ihm auch eine wirklich echte, grolkrtige innere seelische
Toleranz entwickelt. Eine wunderbare Toleranz in der Seele ent-
wickelt sich bei ihm, eine merkwiirdige Art, zu der Welt und zum
Leben zu stehen, eine seelische Toleranz! Und das hangt mit ganz
tiefen Tatsachen zusammen.
Sehen Sie, wenn wir die Tierwelt iiberblkken, so hat diese Tier-
welt ja die verschiedensten Formen. Wenn wir zum Beispiel die Hya-
ne, die ihre Aas-Sehnsucht im Gesicht tragt, die ihre Art in der gan-
zen Korperhaltung tragt, vergleichen mit dem Lowen, mit dem
Wolf, und wenn wir wiederum diese Tiere vergleichen mit dem Ad-
ler und den Adler mit dem Geier, dann diese Tiere in Vergleich Zie-
hen mit Schildkroten, Schlangen, Wiirmern, den verschiedenen In-
sekten, wenn wir alle diese verschiedenen Tierformen nehmen, so
miissen wir uns doch fragen: Wie hangt das mit der geistigen Welt
zusammen?
Das kann man nun nur studieren, wenn man das alte Mondenda-
sein studiert. Denn warum? Sehen Sie, wahrend des alten Monden-
daseins war ja der Mensch m seiner heutigen Form noch nicht vor-
handen. Die entsprechenden Formen, die auf der Menschenstufe
vorhanden waren, waren die Engel. Bei den Angeloi, den Engeln,
waren ganz andere Urteile, eine ganz andere Art des Denkens da [als
wir sie heute haben]. Die Engel waren dazumal auf derselben Stufe,
auf der die Menschen heute sind, aber sie waren ja nicht in einem
solchen physischen Korper, wie die Menschen heute auf Erden es
sind. Sie waren in einem ganz weichen, beweglichen Korper, denn
die Geister der Form hatten noch nicht mitgewirkt, um eine feste
Form der Korper zu bilden. Nun, diese Angeloi, die dachten dazu-
mal - also nicht jetzt wahrend der Erdenzeit, sondern wahrend der
Mondenzeit - in Begriffen, welche, verglichen mit unseren Erden-
begriffen, viel lebendiger waren. Diese Begriffe haben aber aufier der
Lebendigkeit noch etwas sehr Eigentumliches. Sie waren in hohem
Mafie durchtrankt von Gemiitsimpulsen. Angeeifert unter dem Ein-
flusse der Archangeloi, der Archai, der Geister der Form, der Geister
der Bewegung und so weiter hinauf , fafiten die Engel -wahrend der
Mondenzeit die Begriffe. Aber es sind lebendige, impulsive Begrif-
fe; viel impulsiver, als wir die Begriffe bei den heutigen Menschen
finden, die abwechselnd entweder «Entzuckensnickel» oder «Gift-
nickel» werden, nicht wahr, wenn sie ihre Emotionen hineinlegen in
das, wie sie das Leben beurteilen. Es gibt ja solche und es konnen die
besten Menschen sein, aber sie werden abwechselnd entziickt sein,
zum Entzucken neigen iiber eine Sache, «Entzuckensnickel» sein
oder aber ganz ausgesprochene «Giftnickel», so dafi in dem, was sie
aussprechen, die ganze Seele drinnenliegt und das Ganze heraus-
geht in den Begriffen, nicht wahr. Nun, das war in viel hoherem
Grade - direkt schopferisch, kreativ - bei diesen Engeln im Monde
vorhanden.
Stellen wir uns einen solcherart denkenden Mondenbewohner
vor! Der sagt sich: Ja, ich mufi jetzt einen Begriff fassen. Die Inspira-
tion gibt mir ein: Elender Wicht, der den Riicken von hinten nach
vorn ansteigend tragt, der ein abstofiendes Gesicht macht aus Sehn-
sucht nach Aas! - Da entsteht dieses Wesen, wird dazu verurteilt,
Hyane zu sein. Der kreative Begriff ist da. Die Formen des Tier-
reiches stehen in innigem Zusammenhange mit diesem schopferi-
schen Denken, das nach dem Prinzip des Guten und des Bosen
schafft. Und das ganze Tierreich in seinen verschiedenen Formen ist
so eine Ausgestaltung des Guten und des Bosen.
Die Menschen [der Erde] sollten das nicht lernen. Einer, der
nicht von der Mondenkultur lassen wollte, der verfuhrte die Men-
schen dazu, dafi sie erkennen sollten das Gute und das Bose in der
Form, wie er es wahrend der Mondenzeit erlebt hat. Der . . . [Liicke
in der Nachschrift] urteilte so; aber die Menschen, die sollten anders
urteilen lernen. Da sollte nicht in tiefere Seelenuntergriinde hinun-
tergehen dieses so starke Hineinlegen der Emotionen in die Begriffe.
Das mufite abgelegt werden, das mufite einer objektiveren, einer ge-
lasseneren Form weichen. Deshalb mufite der Mensch von der Mon-
den- zur Erdenentwickelung vorschreiten. Und wenn er jetzt weiter
vorschreitet, so wird er noch toleranter werden. So ein Monden-
engel, ja, der hafite die Hyane in einer unglaublichen Weise, weil sie
fur ihn das Bose war, er hafite die Schlange, hafite, was hafilich war,
und liebte das, was schon war. Das Gute und das Bose gehorte zum
Bereich des kreativen Lebens. Dies mufite sich der Mensch abgewoh-
nen. Der Mensch konnte keine Erdenwissenschaft entwickeln, wenn
er etwa die Tiere einteilen wiirde, wie es die Mondenengel gemacht
haben, in schone und hafiliche - nicht wahr, wir teilen anders ein,
nach objektiven Begriffen -, in anstandige und unanstandig Tiere,
in neckische, in raffinierte Tiere und so weiter. Das alles haben die
Mondenengel gehabt. Aber wissenschaftlich ware es zum Beispiel
heute nicht, wenn in einem gelehrten Buche stehen wiirde: Das
Wiesel - Eigenschaft: raffiniert. - Das kann in einem satirischen Ge-
dicht der Fall sein, aber in der Wissenschaft mufi das heute zuriick-
gedrangt sein; da kann es heute nicht so sein.
So mufi man, um auf diesem Gebiete weiterzukommen, sich zu
einer Stufe erheben konnen, auf welcher man dasjenige, wogegen
der Mensch im irdischen Leben die heftigsten Emotionen hat, so na-
turwissenschaftlich betrachtet, wie heute das Tierreich ohne Emotio-
nen naturwissenschaftlich betrachtet wird. Und dieses konnen wir in
dieser eigentiimlichen Artung von Goethes Geist sehen. Fur ihn ist
das Menschenleben in einem viel hoheren Mafle ein ruhiger Strom,
den er wie die Naturerscheinungen betrachtet. Das ist gerade das
wunderbare innere Gelassene der Lebensanschauung Goethes, dafi
fur ihn ein Teil des Menschenlebens auch hineingeht in den Strom
der Naturtatsachen. Dadurch konnte er so objektiv werden.
Nun, von diesem Punkt an miissen wir die Sache dann doch wie-
der aufnehmen und die Betrachtungen morgen fortsetzen.
VIERTER VORTRAG
Dornach, 20. September 1915
Ich habe Ihnen in den letzten Tagen davon gesprochen, wie des
Menschen Erkenntnis, die er als Erdenmensch sich auf dem physi-
schen Plan erwerben mufi, zunachst eine Art toter Erkenntnis ist,
eine Erkenntnis, die sich zu dem, was wir Erkenntnis der nachst-
hoheren Welt nennen miissen, wie das Tote zu dem Lebendigen ver-
halt. Ich habe versucht, anschaulich zu machen, wie diese tote,
gleichsam mechanische Erkenntnis des physischen Erdenmenschen
lebendig wkd, wenn wir uns hinauferheben wollen auf diejenigen
Erkenntnisstufen, durch die der Mensch etwas erfahren kann von
den sogenannten hoheren Welten.
Tote Erkenntnis! So tot, wie die Erkenntnis heute ist, war sie
allerdings auch als physische Erdenerkenntnis nicht immer, sondern
sie ist erst so geworden. Und Sie kennen ja alle die Zeit, in der die
menschliche Erdenerkenntnis so tot geworden ist. Ich habe Ihnen
oftmals davon gesprochen, wie, wenn wir in alte Zeiten zuriick-
gehen, in Zeiten der Erdenentwickelung, bevor das Mysterium von
Golgatha stattgefunden hatte, auch die gewohnliche Erdenerkennt-
nis lebendiger war, weil eine Art uralter Erbschaft [hoherer Er-
kenntnis] vorhanden war. Es mischte sich in die gewohnliche Erden-
erkenntnis immer etwas von der uralten Erbschaft einer hoheren
Erkenntnis hinein. Sie konnen das verfolgen in den verschiedenen
Erkenntnis- und Religionsurkunden der Menschheit. Sehen Sie nur,
wie in der Bibel, im Alten Testament, da, wo von den ubersinnli-
chen Welten die Rede ist, immer gesprochen wird entweder von ei-
nem Traum oder von den Eingebungen der Propheten. Da haben
wir immer ein naturgemafies Zuruckgehen auf lebendige Erkennt-
nis. Es war in den Menschen das als Mondenerbschaft ihnen geblie-
bene alte atavistische Erbgut des Hellsehens noch nicht erloschen.
Das erlosch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha.
Ich bitte Sie, diesen Satz recht genau zu nehmen. Denn wenn je-
mand von Ihnen irgendwo diesen Satz so kolportiert, daft er berich-
tet, ich hatte gesagt, durch das Mysterium von Golgatha sei die alte
atavistische Erkenntnis erloschen, so sagt er das genaue Gegenteil
von dem, was ich eben ausgesprochen habe. Zu der Zeit des Mysteri-
ums von Golgatha ist diese Erkenntnis erloschen durch den ganz na-
turgemafien Fortentwickelungsgang der Menschheit, und das Myste-
rium von Golgatha brachte fur das, was allmahlich verlorengegan-
gen war, Ersatz, brachte das Leben in die menschliche Seele von ei-
ner anderen Seite her. So dafi man heute vor der folgenden Tatsache
stent: Man kann zuriickgehen in alte menschliche Erdenuberliefe-
rungen, da findet man ja auch schon vor der Zeit des Mysteriums
von Golgatha allerlei Wissenschaftliches. Aber in diesem Wissen-
schaftlichen vermuteten die alten Menschen nicht etwas von einer
Erkenntnis des Allerhochsten, fur den Menschen Wichtigsten, son-
dern es waren im Grunde genommen untergeordnetere Dinge, die
man auf diese Weise zu erkennen glaubte. Alles Wichtige, alles auf
die ubersinnlichen Welten Beziigliche fiihrte man zuriick auf eine
uralte Weisheit, auf eine Weisheit, die gleichsam durch eine Ur-
offenbarung der Menschheit gegeben ward. Das haben Sie ja in
dem einen unserer vier Mysterien ausgedrikkt. Und man stellte das
so dar, dafi dann dieses Erbgut von Generation zu Generation in
den Weisheitsschulen weitergegeben wurde. Schon in dem Buche
«Das Christentum als mystische Tatsache» finden Sie, dafi wir zu er-
kennen versuchten, wie durch das Mysterium von Golgatha fur die-
ses ersterbende alte Weisheitsgut ein Ersatz geschaffen worden ist,
wie gewissermafien das Urmysterium historische Tatsache auf Gol-
gatha geworden ist, und wie dadurch, dafi das Kreuz der Initiation
fur alle Menschen wahrnehmbar auf Golgatha aufgestellt war, Leben
in die menschliche Seele gegossen werden sollte. So dafi man seither
sagen kann: Es gibt unsere tote Erkenntnis, die der Mensch durch
seine eigene Anstrengung auf dem physischen Plan gewinnt, und es
gibt daneben etwas, was in seine Seele fliefit dadurch, dafi durch das
Mysterium von Golgatha das Substantielle, das durch den Chrisms
in die Erdenaura hereinkommen sollte, in die Erdenaura ausgeflos-
sen ist, und nun als eine zweite Quelle der menschlichen Erkenntnis
in die menschliche Seele hereinfliefit.
So dafi man sagen kann: Von dem geisteswissenschaftlichen
Standpunkte aus betrachtet, mufi die Sache so angesehen werden,
dafi die physische Erdenerkenntnis des Menschen eine tote ist, dafi
aber Leben in sie hineinkommt, wenn der Mensch diese physische
Erdenerkenntnis befruchten lafit durch dasjenige, was ihm das
Mysterium von Golgatha sein kann. Und dann haben wir die nachst-
hohere Erkenntnisstufe , die wir das imaginative Erkennen nennen . Das
ist nun schon ein Lebendiges, ein wirklich Lebendiges. Und bei die-
sem lebendigen Erkennen, bei diesem imaginativen Erkennen han-
delt es sich um die Dinge, die wir ja in den letzten Tagen bespro-
chen haben.
Als wichtig mochte ich heute nochmals hervorheben, was ich
schon gestern sagte, dafi dieses imaginative Erkennen der Natur der
Menschenseele noch verwandt ist. Es ist eine Ruckkehr zur Monden-
zeit. Und es ist der Natur der Menschenseele so verwandt, dafi ja in
der Tat in der Menschennatur heute noch, wie ich es gestern darge-
stellt habe, atavistisch das alte traumhafte Mondenerkennen wieder-
um auftauchen kann, und dafi manches, was man auch durch eine
hohere Hellseherkunst erkennt, gewissermafien sich - wenn der
Mondenhellseher die notige Bescheidenheit hat - zusammenfinden
kann mit dem, was durch Atavismus herauskommt.
Ferner aber [als das imaginative Erkennen] steht dem Menschen
alles dasjenige, was auf einem inspirativen Wege, durch Inspiration,
in seine Seele hereinkommt. Denn das sind ja dem Substantiellen
nach die Tatsachen der alten Sonnenentwickelung, mit denen der
Mensch verbunden war. Und dasjenige, was der Mensch wahrend
der alten Sonnenentwickelung in sich aufgenommen hat als Lebens-
element, auch das ist da unten in den Tiefen der Menschennatur
[bewahrt]. Das mufi beleuchtet werden durch bewufite Erkenntnis,
wenn es zur Inspiration kommen soli.
Ich habe gestern angedeutet, dafi bei der wirklichen, bei der wah-
ren Kunst ein unbewufites Heraufziehen dieser Dinge, die den alten
Sonnentatsachen angehoren und die der Mensch als Erbgut bewahrt
hat, stattfindet; dafi, wenn dieses tief in den verborgenen Unter-
griinden der Seele Befindliche heraufgehoben wird in das bewufite
Seelenleben, es da als kunstlerische Inspiration dem Menschen be-
wufit werden kann. Der Mensch lebt dann nur in den Folgen, die
von unten heraufkommen; er lebt nicht in den Ursachen. Wenn ich
Ihnen schon andeuten mufite, daft der Gedanke unter der Schwelle
des Bewufitseins sehr verschieden ist von dem Gedanken, den wir
haben, wenn wir aus den unterbewulken Gedanken durch die Erin-
nerung wieder etwas [ins Bewufitsein] heraufbringen, so mufi betont
werden, dafi noch viel verschiedener, radikal verschieden dasjenige
ist, was in Wahrheit in den Tiefen der Kunstlerseele lebt, von dem,
was dann in das Bewufitsein des Kiinstlers heraufsteigt.
Nun miissen wir uns eine Eigenttimlichkeit recht scharf in die
Seele schreiben, wenn wir iiberhaupt das Ganze der Inspiration ver-
stehen wollen. Sehen Sie, fur den Menschen, an den die Inspiration
herankommt, gibt es keinen Unterschied zwischen einem objektiven
Naturgesetz und demjenigen, was er in seiner Seele erlebt als Ge-
danke, als Seelenerlebnis. Das Naturgesetz empfindet er ebenso als
zu sich gehorig, wie er dasjenige, was in seiner eigenen Seele lebt, als
zu sich gehorig empfindet. Ich will so sagen: Wenn sich der Mensch,
an den die Inspiration herankommt, zu irgend etwas entschliefit,
wenn er aus irgendeinem Motiv heraus etwas tut, so liegt dem eine
Gesetzmafiigkeit zugrunde. Diese Gesetzmafiigkeit, die ist man zu-
nachst befugt als eine Gesetzmafiigkeit der eigenen Brust zu empfin-
den, als em eigenes Erlebnis. Aber man empfindet sie in derselben
Objektivitat, wie man den Aufgang der Sonne gesetzmafiig in Ob-
jektivitat empfindet. Ich kann auch so sagen: Wenn ich die Uhr er-
greife, so empfinde ich das als meine Angelegenheit auf dem physi-
schen Plan. Bei der physischen Erkenntnis werde ich es nicht so als
meine Angelegenheit empfinden, wenn die Sonne morgens auf-
geht. In bezug auf dasjenige, was wirklich aus dem Impuls der inspi-
rierten Welt herauskommt, empfindet man aber dasjenige, was in
der Natur geschieht, als zu sich gehorig.
Es dehnt sich wirklich das menschliche Interesse iiber die Natur-
angelegenheiten aus. Die Naturangelegenheiten werden die eige-
nen Interessen des Menschen. Solange man nicht das Leben der
Pflanze in sich so vertraut empfindet wie die Erlebnisse des eigenen
Herzens, so lange kann in der Inspiration keine Wahrheit sein. So-
lange man nicht einen fallenden Stein, der auf die Oberflache des
Wassers aufplatscht und Tropfen aufspritzen macht, in derselben
Weise empfindet, wie man empfinden kann dasjenige, was im eige-
nen Wesen vorgeht, so lange ist die Inspiration nicht der Wahrheit
entsprechend. Ich konnte auch so sagen: Alles, was im Menschen
diesem naher liegt als die Natur in ihrer Fiille, das gehdrt nicht zu
den inspirierten Wahrheiten. Ein volliger Unsinn ware es aber, zu
glauben, dafi der Inspirierte, wenn ihm einer den Schadel ein-
schlagt, dieses ebenso objektiv empfinden wiirde, wie er den Aus-
bruch eines Vulkans empfindet. Subjektiv macht er diesen Unter-
schied selbstverstandlich; aber da ist er eben in dem Augenblick, wo
ihm einer den Schadel einschlagt, nicht ein Inhaber einer Inspira-
tion. Fur alles aber, was in diesem Sinne Gebiet der Inspiration ist,
ist sein Interesse iiber die ganze Natur hinaus erweitert. Und ich ha-
be schon in dem Haager Zyklus darauf aufmerksam gemacht, wie
die Erweiterung des Interesses es ist, worauf es bei der erwekerten
Erkenntnis uberhaupt ankommt. Wer nicht wenigstens fur einen
kurzen Zeitraum loskommen kann von dem, was ihn allein angeht,
der kann selbstverstandlich zu keiner Inspiration kommen. Er
braucht es ja nicht immer; im Gegenteil, er wird gut tun, seine eige-
nen Interessen scharf abzugrenzen von demjenigen, was Gegenstand
seiner Inspiration sein soil. Wenn aber der Mensch sein Interesse
iiber die Objektivitat hinaus also ausdehnt, wenn er versucht, das
Leben der Pflanze in ihrem Werden so zu empfinden, wie er dasjeni-
ge, was in seinem Leben vorgeht, empfindet, wenn ihm das, was da
draulten wachst und keimt und wird und vergeht, so intim vertraut
ist wie das Leben im eigenen Wesen, dann ist er mit Bezug auf alles
das, was so an ihn herantritt, inspiriert.
Aber dann ist diese Art, Interesse zu haben, notwendigerweise
verknupft mit einem allmahlichen Aufsteigen zu einer solchen Men-
schenbeurteilung, wie die von uns angedeutete Goethesche Men-
schenbeurteilung allmahlich eine wurde. Goethe lernte durch sein
Bemiihen [um lebendige Gedanken] des Menschen Verrichtungen
von der menschlichen Wesenheit zu unterscheiden. Und dies ist
etwas aufier-, aufierordentlich Wichtiges! Was wir tun oder getan
haben, gehort der objektiven Welt an, ist ins Werk gesetztes Karma;
was wir als Personlichkeit sind, ist in fortwahrendem Werden. Und
das Urteil, das wir fallen iiber irgend etwas, was ein Mensch getan
hat, mull im Grunde genommen auf einem ganz anderen Blatt ste-
hen, als das Urteil, das wir fallen iiber den Wert oder Unwert einer
menschlichen Personlichkeit. Wir mussen, wenn wir uns den hohe-
ren Welten nahern wollen, lernen, der menschlichen Personlichkeit
so objektiv gegeniiberstehen zu konnen, wie wir einer Pflanze oder
einem Stein objektiv gegeniiberstehen. Wir mussen lernen, Anteil
haben zu konnen auch an der Personlichkeit derjenigen Menschen,
die Taten verrichtet haben, die wir vielleicht im eminentesten Sinne
verurteilen mussen. Gerade diese Trennung des Menschen von sei-
nen Taten, die Trennung des Menschen auch von seinem Karma, die
mufi man vollziehen konnen, wenn man imstande sein will, ein rich-
tiges Verhaltnis zu den hoheren Welten zu gewinnen.
Und hier mussen wir, wenn wir uns wahrhaftig auf den Boden
der Geisteswissenschaft stellen wollen, auch wiederum sehen, dafi da
einer der Falle ist, wo wir scharf in Gegensatz kommen zu dem ma-
terialistischen Denken unserer Zeit. Dieses materialistische Denken
unserer Zeit hat namlich als eine Tendenz in sich, die Personlichkeit
des Menschen immer mehr und mehr hineinzuziehen in das Richten
iiber seine Taten. Denken Sie doch nur einmal, dafi in der letzten
Zeit auf dem Gebiet der aufieren Jurisprudenz immer mehr und
mehr die Tendenz sich herausgebildet hat, man miisse nicht blofi,
wenn ein Mensch eine bestimmte Tat begangen hat, iiber diese Tat
richten, sondern man miisse auch die ganze menschliche Natur
beobachten, miisse Riicksicht darauf nehmen, wie des Menschen
Seele ist, wie er dazu gekommen ist [die Tat zu tun], ob er minder -
wertig oder vollwertig ist und dergleichen. Und gewisse Kreise for-
dern sogar schon von der aufieren Jurisprudenz, dafi nicht nur Arzte
als Sachverstandige beziiglich der Beurteilung von Vergehen und Ver-
brechen zugezogen werden sollen, sondern sogar Psychologen. Aber
es ist Anmafiung, iiber das Wesen des Menschen zu urteilen, anstatt
iiber Taten, die einzig und allein das aufiere Leben angehen.
Unter den neueren Philosopher! hat einzig und allein einer einige
Aufmerksamkeit auf diesem Boden bewiesen. Sie finden ihn auch in
meinen «Ratseln der Philosophie» angefiihrt, allerdings unter ande-
ren Gesichtspunkten. Es ist Dilthey, der aufmerksam darauf ge-
macht hat, dafi die Jurisprudenz wiederum loskommen mufi von der
psychologischen Jurisprudenz und von allem ahnlichen.
Dasjenige, was der Mensch tut, geht zwei Gebiete an: erstens
sein Karma. Das richtet schon durch seine Ursachlichkeit von selbst,
das geht den anderen Menschen nichts an. Der Chrisms selber hat
die Siinde der Ehebrecherin nicht gerichtet, sondern sie in den Erd-
boden hineingeschrieben, weil sie sich im Laufe des Karma ausleben
wird. Als zweites geht die menschliche Tat das menschliche Zusam-
menleben an, und nur von diesem Gesichtspunkte aus ist die Men-
schentat zu beurteilen. Uber den Menschen als solchen zu richten,
steht der aulleren gesellschaftlichen Ordnung gar nicht zu.
Aber Geisteswissenschaft wird allmahlich sich zu etwas anderem
als zum Richten aufschwingen; aufschwingen wird sie sich zum Ver-
standnisse. Und diejenigen Psychologen, die da heute berufen wer-
den konnten, um als Sachverstandige zu funktionieren, wenn ge-
richtet werden soli uber die aufieren Taten des Menschen, die wer-
den nichts nutzen, denn sie werden doch nichts von der Seele eines
Menschen wissen. Die Beurteilung des Menschen soli nicht dem
Richten entsprechen, sondern dem Verstandnis; denn zu helfen,
und nicht zu richten soli unter alien Umstanden die Tendenz sein.
Zu helfen, und nicht zu richten! Man kann aber nur helfen, wenn
man ein Verstandnis hat fur dasjenige, was in einer menschlichen
Seele vor sich geht.
Allerdings, wenn man in Wahrheit und nicht in Luge die Ten-
denz hat zu helfen, so wird man von der Welt am allermeisten ver-
kannt werden. Denn derjenige, dem geholfen werden soli, der wird
am allerwenigsten dazu geneigt sein, den, der in der richtigen Weise
helfen will, auch in richtiger Weise zu beurteilen. Derjenige, dem
geholfen werden soil, der wird wollen, dafi man ihm in der Art und
Weise helfe, wie er es sich denkt! Aber das kann vielleicht die
schlechteste Hilfe sein, die man ihm angedeihen lafit, wenn man
ihm so hilft, wie er es sich selber denkt. Ein auf Grundlage des seeli-
schen und geistigen Lebens gewonnenes Verstandnis wird uns oft-
mals dazu fuhren, daft wir dem Menschen, dem wir helfen wollen,
gerade das nicht tun, was er voraussetzt, daft wir fur ihn tun sollen,
sondern daft wir etwas ganz anderes fur ihn tun. Vielleicht wird sogar
manchmal das Sich-Zuriickziehen von einem solchen Menschen die
viel bessere Hilfe sein als das Kajolieren; wird das schroffe Zuriick-
weisen von irgend etwas eine viel bessere, liebevollere Hilfe sein als
das schmeichelnde Entgegenkommen und Eingehen auf dasjenige,
was der betreffende Mensch gerade will. Derjenige kann viel liebe-
voller einem Menschen gegenuberstehen, der ihn unter Umstanden
streng behandelt, als der, der ihm in jeder Weise nachgibt. Und
Verkennung kann selbstverstandlich auf diesem Gebiete nicht aus-
bleiben, das ist ganz selbstverstandlich. Vielleicht wird gerade derje-
nige, der sich am meisten bemiiht, auf diese Art auf die Seele eines
Menschen einzugehen, am allermeisten verkannt. Aber darauf
kommt es nicht an, sondern darauf, daft man unter alien Umstanden
Verstandnis sucht, und nicht ein Richteramt ausiibt.
Im Zusammenhange unserer geisteswissenschaftlichen Vortrage
mufite oftmals von Ahriman und Luzifer gesprochen werden. Selbst-
verstandlich kann man gerade nach den Ausfuhrungen, die in der
letzten Zeit gepflogen worden sind, einsehen, wie die menschliche
Natur starker oder schwacher von Ahriman und Luzifer erfaftt wer-
den kann. Denn im Grunde genommen ist ja das Leben iiberhaupt
ein Hin- und Herpendeln zwischen ahrimanischen und luziferischen
Impulsen, nur daft die Gleichgewichtslage von dem Sein der Welt
selber angestrebt wird, und das Leben gerade in dem Einhalten die-
ser Gleichgewichtslage besteht. Aber nun fassen Sie einen grofien,
einen ungeheuren Unterschied ins Auge. Man kann zweierlei tun:
Man kann das Urteil fallen, irgendeine Tat eines Menschen sei ahri-
manisch oder luziferisch beeinflufit, und kann danach den Men-
schen richten. Oder man kann das andere tun: Man kann einsehen,
daft eine Tat des Menschen ahrimanisch oder luziferisch beeinflufit
ist, und kann versuchen, aus dieser Tatsache heraus den Menschen
zu verstehen. Und zwischen diesen beiden Urteilen ist der denkbar
groftte Unterschied. Denn das Urteil zu fallen, irgend etwas Ahrima-
nisches oder Luziferisches sei im Menschen, erfordert, daft man nie-
mals unter einem anderen Gesichtspunkt dieses Urteil fallt als so:
daft man die Menschen ebensowenig nach dieser Erkenntnis, im
Menschen leben Ahriman und Luzifer, richtet, wie man irgendeine
Pflanze richtet, weil sie rot und nicht blau blunt. Von der Vorstel-
lung, irgend etwas sei im Menschen ahrimanisch oder luziferisch,
mufi jegliche Art eines richterlichen Urteils ausgeschlossen sein, so
wie ausgeschlossen sein muft aus unserem Urteil die Abgabe irgend-
eines Werturteils, wenn wir die Pflanze, sei sie rot oder blau, er-
kennen wollen.
Wir mussen vor alien Dingen suchen, die Erkenntnis rein zu hal-
ten von jeglicher Emotion, von jeglichem Subjektiven. Und wir wer-
den das in dem Mafie immer mehr konnen, je mehr wir uns bemu-
hen, ein solches zu tun, je mehr wir wirklich anstreben, solche Din-
ge, wie sie eben ausgesprochen worden sind, mit dem allertiefsten
Ernst zu nehmen.
Goethe ist zum Beispiel bestrebt gewesen, gerade in seiner reif-
sten Zeit, Ereignisse zwischen Menschen hinzustellen wie Natur-
ereignisse. Selbstverstandlich nicht von dem Gesichtspunkte aus, als
wenn eine mechanische Notwendigkeit in den Menschenzusammen-
hangen so wie in den Naturzusammenhangen stecken wiirde. Davon
kann keine Rede sein. Sondern die Stellung der Menschenseele zu
den Ereignissen im Menschenleben wird allmahlich so, daft man mit
derselben objektiven Liebe, wie man Naturereignisse betrachtet,
auch die Ereignisse im Menschenleben wird gelten lassen fur die Er-
kenntnis. Das gibt jene innere Toleranz, die aus der Erkenntnis sel-
ber hervorgeht.
Dadurch aber erwirbt man sich die Moglichkeit, allmahlich hin-
einfliefien zu lassen in die Erkenntnis dasjenige, was sonst gar nicht
hineinflieften darf in die Erkenntnis: namlich die Terminologie, die
aus dem Gefuhl und dem Willen heraus ist. Als ich Ihnen die Psy-
choanalyse dargelegt habe, haben wir gerade an einem Tage damit
geschlossen, daft wir iiber sie ein verurteilendes Wort sprechen mufi-
ten; aber wir haben zuerst nachgewiesen, dafi das aus der Sache sei-
ber folgte. Und warum konnte dieses Urteil gefallt werden? Hier
darf man auch etwas Subjektives aussprechen. Warum durfte ich mir
denn zutrauen, ein scheinbar ganz subjektives Urteil iiber die Psy-
choanalyse auszusprechen? Weil ich mich bemiiht habe - ich spre-
che etwas Subjektives aus, aber dann ist es so, daft die Dinge viel-
leicht am leichtesten verstanden werden -, die Psychoanalyse so zu
studieren, wie ich etwas studiere, was mir sehr angenehm und sehr
sympathisch ist. Das heiftt: dieselbe objektive Liebe dem einen wie
dem anderen entgegenbringen. Und zu diesem miissen wir uns all-
mahlich hindurchringen, wirklich hindurchringen; sonst such en
wir in der Erkenntnis auch nichts anderes als Sensation, suchen nur
das Angenehme in der Erkenntnis. Aber man hat niemals Erkennt-
nis, wenn man in der Erkenntnis nur das Angenehme sucht!
Fur unser physisches Leben gelangt das Sonnenhafte niemals an-
ders in das Bewufitsein des Menschen herein als dadurch, daft es ihn
freut oder ihn abstofit. Nur Gefuhle gelangen vom Sonnenhaften
herein, und wir miissen entgegenkommen dem Sonnenhaften mit
unserem Verstandnis, wir miissen hinunterdringen in das dem Men-
schen sonst Fremde. Wir sagten, das Mondenhafte ist dem Menschen
verwandt, das Sonnenhafte aber ist dem Menschen nicht mehr ver-
wandt. Wir miissen hinunterbringen, hinuntertragen in Regionen,
in die wir sonst nicht eindringen, unser Verstandnis, wenn wir das
Sonnenhafte der Inspiration uns nahebringen wollen.
Das wirkliche Erkennen der hoheren Welten fordert in der Tat ei-
ne Preparation in der ganzen Stimmung unserer Seele, und ohne
diese Stimmung in der Seele konnen wir nicht in die hoheren Wel-
ten eindringen, ich meine jetzt nicht blofi hellseherisch eindringen,
sondern auch mit Verstandnis den Dingen nachgehen. Man kann
die Dinge, die in der «Geheimwissenschaft» erzahlt sind, nicht ver-
stehen, wenn man sie mit der Gemiitsverfassung in sich aufnehmen
will, die man sonst fur irgend etwas aufterlich Gleichgiiltiges, ich will
sagen, fur irgend etwas Mathematisches oder dergleichen hat; son-
dern man kann sie nur aufnehmen, wenn man sich erst in seinem
Gemiite dafiir prapariert. Derjenige, der mit dem gewohnlichen
Verstandnis des physischen Planes die inspirierten Erkenntnisse in
sich aufnehmen will, der gleicht dem Menschen, der da glaubt, er
konne mit seinem physischen Leib in eine Pflanze hineinkriechen
und so darinnen sein in ihrem Leben. Darum hat man stets versucht,
die Menschen erst vorzubereiten, bevor man ihnen Erkenntnis der
hoheren Welten vermittelte, sie erst langsam vorzubereiten, so dafi
die Stimmung der Seele so war, dafi in der richtigen Weise diese Er-
kenntnis der hoheren Welten auf das Gemut wirken konnte. Sie
mufite auf das Gemut wirken, denn diese eigentumliche Art, wie
man sich zu der hoheren Welt stellen mufi, erfordert nun einmal
eine gewisse Anspannung des Gemutes, ein gewisses Zusammen-
halten, ein Zusammennehmen der inneren Seelenkrafte, sie erfor-
dert, daft man vor alien Dingen nicht verwundert ist, dafi eine ge-
wisse innere Kraftanstrengung notwendig ist, um in richtiger Weise
zu den Erkenntnissen der hoheren Welten sich zu stellen.
Daher ist es notwendig, dafi der Mensch dem ein Gegengewicht,
ein richtiges Gegengewicht schafft, und zwar ein solches, dafi es
ihn gewissermafien in seiner Seele nach der anderen Seite der Waage
ausschlagen lafit. Wir miissen die Sache ganz genau betrachten.
Wenn man die Seele anstrengt - und das mufi man, wenn man
wirklich die geistigen Welten erfassen will, selbst nur das, was gege-
ben wird aus den geistigen Welten; man kann nicht einem Vortrag
iiber die geistigen Welten folgen, wenn man nicht gut zuhort, wenn
man seine Seele nicht anstrengt -, wenn man sich wirklich Miihe
gibt, das zu verstehen, was iiber die geistige Welt gesagt wird, so
spurt man, daft man sich anstrengen mufi. Dariiber mufi man sich
dann nicht wundern. Man mufi nicht sagen, ja, das strengt mich an,
weil es ganz natiirlich ist, dafi es einen anstrengt! Aber wenn es ei-
nen so anstrengt, dann wird, solange wir Erdenmenschen sind, ganz
naturgemafi eine Folgeerscheinung auftreten. Und diese Folge-
erscheinung ist die, dafi der Egoismus im Menschen erregt wird. Je
mehr der Mensch sich in sich selbst spurt, desto starker ist sein Egois-
mus. Nehmen Sie nur die allergewohnlichste Erscheinung: Solange
man gesund durch die Welt geht, ist man in bezug auf den physi-
schen Leib unegoistisch; in dem Augenblick, wo man krank wird, wo
einem alles weh tut, wird man in bezug auf den aufieren Leib egoi-
stisch. Das ist ganz naturgemafl. Und unsinnig ist es einfach, wenn
man von dem Kranken verlangt, er soli in bezug auf seine Krankheit
nicht egoistisch sein. Das ist einfach Unsinn. Und wenn jemand
sagt: Ich bin zwar krank, aber ich nehme meine Krankheit selbstlos
hin, so ist das naturlich auch nur eine Verbramung mit unwahrer
Redensart.
Aber ebenso ist es, wenn man diese Anstrengung in der Seek
durchmacht, die notwendig ist, um sich in die hoheren Welten hin-
aufzuarbeiten, hinaufzuranken. Da kommt man auch ins Egoisti-
sche hinein. Man soli sich da nichts vormachen, sondern soil sich ge-
rade, wenn man in diese Welt eindringen will, die Wahrheit vorhal-
ten. Man mufi sich sagen: Du arbeitest dich da in eine Stimmung
des Egoismus hinein, wenn du in die hoheren Welten hinein willst,
weil du diese Anstrengungen in deinem Inneren spiiren mufk.
Ich mochte dieses sich in die hoheren Welten Hineinarbeiten mit
etwas vergleichen. Ich mochte es vergleichen mit einer eigentumli-
chen Art kunstlerischer Tatigkeit, wie sie vorhanden war bei unse-
rem Freunde Christian Morgenstern. Diese gewisse eigentumliche
Art - ich habe sie oftmals hervorgehoben - war bei Morgenstern an-
ders als bei anderen Dichtern. Wenn er sich in das Seriose hinein-
arbeitete, so war es bei ihm in einer anderen Weise als bei anderen
Dichtern, es war in einem viel hoheren Grade ihn selber hinauf-
tragend in die Region des Ernsten. Daher brauchte er ein Gegen-
gewicht, so etwas wie in dem Galgenlied:
Ein Wiesel
safi auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wife ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im stillen:
Das raffinier-
te Tier
tat's um des Reimes willen.
Diese leichten Gedichte, diese satirischen Gedichte, das brauchte
er als Gegengewicht, zur Balance. Diejenigen, die immer etwa dich-
terisch das «lange Gesicht» machen konnen, das sentimentalisch in
die hoheren Welten hinaufschaut, die sind nicht die wahren Dich-
ter. Die Wahren sind jene, die das Gegengewicht, das Gegenstiick
brauchen.
Nun suchen wir ja allerdings iiberall, nicht wahr, die Moglich-
keit, das zu verstehen, was da als Egoismuserscheinung das Streben
in die hoheren Welten hinauf begleiten mull. Man mufi den Egois-
mus nicht richten, wenn er in solch einer Region auftritt, weil man
ihn begreifen mufi wie eine Naturerscheinung. Man mufi nicht den
Egoismus haben, immer den Egoismus los sein zu wollen, denn
dann ist man nicht wahr. Wir schaffen zum Beispiel das Gegenstiick
in bezug auf manches [durch die Ubungen] in «Wie erlangt man Er-
kenntnisse der hoheren Welten ?»; zunachst die inneren Gegen-
stiicke. Aber auch in dem, was wir als Eurythmie geschaffen haben,
ist eine Art von Gegenstiick da in dieser eigentumlichen Art, den
Atherleib in seine angemessenen Bewegungen zu bringen, und ein
Verstandnis fur diese ganze Sprache des Menschen zu gewinnen. Sie
wird gerade die Jugend in einer naturgemafien Weise zu dem Hin-
einleben in das Geistige anhalten.
Aber etwas, was betont werden mufi bei dieser Gelegenheit, das
ist, dafi ein Element von dem Menschen, der wirklich ein rechtes
Verhaltnis zu den geistigen Welten gewinnen will, besonders ge-
sucht sein sollte, das ist das Element - wundern Sie sich nicht dar-
iiber, aber es mufi eben einmal auch klar ausgesprochen werden,
oder wenigstens deutlicher ausgesprochen werden, als es sonst im-
mer geschehen ist -, das ist das Element des Humors. Es ist wirklich
notwendig dem Streben nach der hoheren Welt nicht humorlos ge-
geniiberzustehen! Dieses Humorlos -Gegeniiberstehen, das ist dasje-
nige, was so furchtbare Auswiichse zeitigt. Denn wenn derjenige,
der sich einbildet, Homer oder Sokrates oder Goethe zu sein, dar-
auf kame, wie unendlich lacherlich er sich in dieser Rolle vorkommen
mufi, dann wiirde ihm dies ungeheuer zur Gesundung seiner
Ansichten helfen! Aber auf solche Dinge kann ja eigentlich nur der-
jenige nicht kommen, der von seinem unwahren, sentimentalen Le-
ben den Humor feme halt. Denn wenn einer wirklich, ja, ich moch-
te schon sagen, das «Ungluck» haben sollte, Homer gewesen zu sein,
und durch ein richtiges Erkennen in einer spateren Inkarnation dar-
aufzukommen, daft es so gewesen ist, dann wiirde ihm diese Er-
kenntnis wirklich zunachst in einem humoristischen Licht erschei-
nen. Gerade wenn es wahr ist, wiirde es ihm zunachst in einem hu-
moristischen Lichte erscheinen. Man wiirde zunachst wahrhaftig sich
selber auslachen!
Es ist schwer, gerade in Kiirze iiber dieses Kapitel in der richtigen
Weise zu sprechen. Aber die Seele dem Humor frei und ofFen zu
halten, ist ein gutes Mittel, das Ernste in wirklichem Ernst zu neh-
men. Sonst verunreinigt man sich, verliigt sich das Ernste durch die
Sentimentalitat, und die Sentimentalitat ist der argste Feind des
wirklichen Ernstes fur die ernsten Dinge des Lebens. Ich konnte mir
sogar vorstellen, daft jemand, der - wie einmal eine auslandische Da-
me gesagt hat - dem Ernste geisteswissenschaftlicher Erkenntnis nur
gegenuberstehen will immerfort «mit einem Gesicht bis ans Bauch»,
es unangenehm hatte finden konnen, daft ich in diesen Tagen von
den Gedanken gesprochen habe, die sich ausnehmen wie eine Maus
in der Hand. Aber man befreit sich von dem Ernst der Tatsachen da-
durch, daft man versucht, sie in einer solchen Form darzustellen.
Denn man verfalscht leicht die Tatsachen, wenn man an sie mit blo-
fier Sentimentalitat herantritt, weil man dann in der Sentimentalitat
sich schon geniigend zu den hoheren Welten erhoben fiihlt und
nicht glaubt, auch noch durch das biegsame, elastische, bewegliche
Verstandnis in die geistigen Welten hinaufkommen zu sollen. Und
wahrhaftig, lekhter ist es, davon zu sprechen, daft die elementari-
sche Welt erobert wird, wenn man «selbstlos, recht selbstlos» ist,
leichter ist es, dadurch irgendwelche verschwommene Vorstellungen
von der elementarischen Welt zu bekommen, als wirklich die Sache
so plastisch zu machen, daft man den Ubergang des Gedankens von
einem to ten Gegenstand zu einem lebendigen Wesen hat. Dieses
anschauliche Charakterisieren, das ist dasjenige, was angestrebt wer-
den soil. So daft wir uns allmahlich dazu trainieren, in diese geisti-
gen Welten ohne alle Sentimentalitat hinaufzusteigen. Der Ernst
kommt schon. Die Anstrengung, die ergibt sich gerade aus dem
schweren Sich-Erarbeiten der Geisteswissenschaft. Und das, worauf
es ankommt, ist, dafi wir die Kraft gewinnen, die Stellung der gei-
steswissenschaftlichen Weltanschauung innerhalb des heutigen Ma-
terialismus in der richtigen Weise einzusehen und durch diese Kraft
ein richtiges Glied der geisteswissenschaftlichen Bewegung zu wer-
den. Diese Kraft gewinnen wir auf keinem anderen Wege, als wenn
wir versuchen, in der richtigen Weise anschaulich zu verstehen, wie
diese geistigen Welten in Worte, in Vorstellungen gekleidet werden
konnen, die der physischen Welt entnommen sind, trotzdem die
geistigen Welten selber so unahnlich sind der physischen Welt.
Die Inspiration als solche handelt von denjenigen inneren Tatsa-
chen in der Menschennatur, die Erbgut von der alten Sonnenent-
wickelung sind, die zusammenhangen mit alledem, was den Men-
schen geeignet macht, in der Welt dasjenige zu leisten, was vom
Himmel ist, was richtig vom Himmel ist. Dazu aber mufi der
Mensch nicht nur auf dasjenige reflektieren, was im einzelnen Leben
erarbeitet werden kann innerhalb derjenigen Seelenarbeit, die da
vorhanden ist zwischen Geburt und Tod; sondern der Mensch mufi
reflektieren auf dasjenige, was in den verborgenen Untergriinden
seiner Seele so ist, dafi die gottlichen Welten hereinarbeiten in seine
Organisation. Derjenige, der ein Dichter sein soil in der Welt, mufi
das Gehirn eines Dichters haben, das heifit, es mufi von der geistigen
Welt aus sein Gehirn dazu prapariert sein. Derjenige, der ein Maler
sein will, mufi das Gehirn eines Malers haben. Und um dem Men-
schen ein Malergehirn oder ein Dichtergehirn zu verleihen, miissen
diejenigen Krafte und Impulse in der Menschennatur arbeiten, die
schon wahrend der kosmischen Entwickelung in der alten Sonnen-
zeit substantiell da waren und mit der menschlichen Natur ver-
kniipft waren, als der Mensch selber noch nicht annahernd so ver-
dichtet war, wie er es auf der Erde ist, als der Mensch selber erst
bis zur Luftdichtigkek gekommen war. Denken Sie, dafi wahrend
der alten Sonnenzeit der Mensch nur aus Warme und Luft bestand.
In dem, was am Menschen arbeitet an Warme und Luft, liegt als
Erbgut aus der alten Sonnenzeit dasjenige, was des Menschen Ge-
hirn so zubereiten kann, dafi es ein Maler-, dafl es ein Dichter-
gehirn sein kann.
Daraus sehen Sie aber, wie wir durch diese Betrachtung dessen,
was im Menschen angeschaut wird und das von dem Mikrokosmos
heraus in den Makrokosmos geht, sagen miissen: Der Mensch ist
durch das, was altes Sonnenerbgut ist, eins mit seiner Umgebung;
denn Luft und Warme ist ebenso drauflen wie drinnen. Ich habe oft-
mals darauf aufmerksam gemacht: Die Luftmenge, die ich jetzt in
mir habe, ist im nachsten Augenblick aufier mir; das geht immer aus
und ein, Ausatmen, Einatmen. Die Luft hat meine Gestalt, und in
dem Augenblicke, wo ich die Luft ausatme, ist es ja dieselbe Luft; sie
ist dann nur draufien, aufierhalb des Menschen. Aber so wahr, als
meine Knochen ich selbst sind, so wahr ist von dem Moment des
Einatmens bis zu dem Moment des Ausatmens die Luftgestalt dasje-
nige, was zu meinem eigenen Wesen gehort. So wahr die Knochen
von meiner Geburt bis zu meinem Tode zu mir gehoren, so gehort
der Luftstrom von dem Moment, wo er eingeatmet wird, bis zu dem
Moment, wo er ausgeatmet wird, zu mir. Er ist ebenso Ich, wie mei-
ne Knochen Ich sind, nur dauert das Ich- Sein jenes Luftstromes nur
von einer Einatmung bis zur Ausatmung, und das Ich-Sein meiner
Knochen annahernd von der Geburt bis zum Tode. Nur der Zeit
nach sind diese Dinge verschieden, der Luftmensch stirbt bei der
Ausatmung und er wird geboren bei der Einatmung. Und so wahr,
als unsere Knochen geboren werden vor unserer physischen Geburt
und allmahlich langsam zugrundegehen, so wahr wird etwas in uns
geboren, wenn wir einatmen, so wahr stirbt etwas in uns, wenn wir
ausatmen. Dasjenige, was in uns geboren wird, wenn wir einatmen,
das stirbt, wenn wir ausatmen; das gehort selber zum Erbgut von der
alten Sonne her, das wurde dazumal veranlagt.
Wir sehen, wie sich das Menschengebiet hinauserweitert in den
Kosmos, wie der Mensch zusammenwachst mit demselben. Aber be-
greifen sollen wir lernen, wie der Mensch iiberhaupt im Geistigen
drinnen lebt. Unsere Zeit hat nicht einmal das Talent dazu, in der
allerprimitivsten Weise dieses Zusammensein des Menschen mit
dem Geistigen ins Auge zu fassen. Dazu miissen wir auch wieder
kommen. Einem Menschen alter Zeiten wiirde es gar nicht eingefal-
len sein, solche Worte zu bilden, wie sie heute gebildet werden, wenn
es notig ist, fur irgendeine zusammengesetzte Substanz ein Wort
zu bilden. Jetzt suchen hochstens die Chemiker nach hypothetischen
Voraussetzungen sachgemafie Namen zu finden, wenn irgend etwas
nach den Prinzipien der Chemie benannt werden soli. Diese Namen
sind ja den Leuten sehr unangenehm, manchmal haben sie furchtbar
viele Silben! Lassen Sie skh dariiber unterrichten zum Beispiel von
denjenigen, die unter unseren Freunden Chemiker sind! Wo aber
nicht nach diesen Prinzipien benannt wird, da hangen die Namen
nicht mit den Dingen zusammen.
Das war nicht immer so. Ich habe Ihnen heute von Inspiration
gesprochen; ich habe Ihnen gezeigt, wie die Inspiration zuruckfuhrt
auf das alte Sonnengut des Menschen. Auf der Sonne aber war der
Mensch bis zum Atmen gekommen. Das heilk, dasjenige, was jetzt
Atmung ist, und was im Luftelement lebt, war dazumal veranlagt.
Also mufi eine Beziehung sein zwischen dem Atmen des Menschen
und der Inspiration. Sie brauchen ja nur sich zu iiberlegen, was das
Wort Inspiration eigentlich urspriinglich bedeutet. In diesem Wort
ist die innige Verwandtschaft des Atems mit der inspiration » schon
ausgedriickt, denn es ist im Grunde genommen das Wort fur Einat-
men. Diejenigen, die die Geister leugnen wollen, die brauchten nur
auf die Sprachentwickelung zu sehen. Wir haben das auch schon von
anderer Seite angedeutet: man wiirde die Sprachgeister schon fin-
den, aber auch finden, wie diese Sprachgeister in der menschlichen
Natur wirkenl Dann werden wir finden, wie wir eingebettet sind in
die geistigen Welten, wie die Geister mit uns arbeiten, wie bei al-
lem, was wir tun im Leben, die Geister mitarbeiten. Und wir werden
uns in realer Weise fiihlen: unser Selbst zum grofien Selbst der Welt
erweitert. Empfindung wird werden, was Theorie ist. Und das ist der
Weg, um wirklich in die geistigen Welten hineinzukommen.
Aber auf diese Dinge miissen wir wirklich auch eingehen. Wir
miissen sie in den Einzelheiten nehmen, wir miissen versuchen, sie
wirklich ernst zu nehmen, ernst zu machen mit manchem, was ge-
rade uber die Beziehung des Menschen zu den gcistigen Welten in
bezug auf einfachste Verhaltnisse gesagt wurde.
Das ist dasjenige, was ich Ihnen gerade am Ende dieser Vortrage
nahelegen mochte, die Ihnen von einem gewissen Gesichtspunkte
aus zeigen sollten, wie eine absteigende Stromung im Menschen vor-
handen ist und eine aufsteigende Stromung, und wie der Mensch
drinnensteht in den auf- und absteigenden Stromungen.
Und wenn Faust das Buch aufschlagt und die Worte ausspricht:
«Wie Himmelskrafte auf- und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!»
da haben Sie, was ich Ihnen nahezubringen versuchte in diesen Ta-
gen, dieses Auf- und Absteigen der Himmelskrafte, das Faust zu-
nachst anglotzt und nicht verstehen kann. Aber es ist so ausgespro-
chen in dieser Faust-Dichtung, dafi wir schon einmal in dem «Faust»
sehen konnen, wohin die Neuzeit streben mui Es mufi uns recht
sehr naheliegen, dafi wir mit unserer Geisteswissenschaft dasjenige
wollen, was die Menschen anstreben sollen. Wir diirfen nicht anders
als einsehen, daft Geisteswissenschaft ein Geistesgut der Menschheit
werden mufi. Und sobald wir dazu gekommen sind, an diesem
Werden eines neuen Geistesgutes mitzuarbeiten, miissen wir alles
tun, urn dieses zu verwirklichen, um dieses Ziel der Menschheit zu
erreichen.
Und damit hake ich diese Betrachtungen einstweilen fur abge-
schlossen.
II
Das Verhaltnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft
Besprechung der Broschure von F. von Wrangell
«Wissenschaft und Theosophie» als Beispiel, wie
Schriften in Zweigen besprochen werden konnen
ERSTER VORTRAG
Dornach, 26. September 1915
Heute werde ich weder einen Vortrag noch eine Vorlesung halten,
sondern einiges besprechen in der Art, wie ich glaube, dafi sie in un-
seren Zweigen noch fehlt. Ich werde dazu ankniipfen an die Bro-
schiire « Wissenschaft und Theosophie» von F. von Wrangell, erschie-
nen in Leipzig im Verlage von Max Altmann im Jahre 1914. * Dabei
mdchte ich namentlich zeigen, wie man an eine solche Schrift
Besprechungen ankniipfen kann.
Mit dem Titel «Wissenschaft und Theosophie» wird hier offenbar
eine Frage beriihrt, welche durchzudenken fur uns wichtig ist, denn
wir werden sehr haufig in die Lage kommen, gegen unsere Bewe-
gung den Einwand zu horen, dafi sie nicht wissenschaftlich sei oder
dafi der Wissenschafter nichts Rechtes mit ihr anzufangen wisse.
Kurz, mk der Wissenschaft sich irgendwie auseinanderzusetzen,
wird fur den einen oder anderen unter uns gewifi sehr haufig not-
wendig sein, denn er wird diesem Einwand begegnen mussen und
vielleicht auch dabei auf manches einzelne hingewiesen werden. Da-
her wird es gut sein, gerade einmal anzukniipfen an die Betrachtun-
gen eines Mannes, der von sich die Meinung hat, dafi er ganz in dem
wissenschaftlichen Geiste der Gegenwart darinnensteht, und von
dem man, wenn man die Broschure durchgelesen hat, ohne wekeres
sagen kann, dafi er sich mit der Beziehung von Wissenschaft und
Theosophie in einer sehr scharfsinnigen Weise auseinandersetzt, und
zwar so, dafi er eine Beziehung schafft, die mancher zu schaffen ver-
suchen wird, der gerade in dem wissenschaftlichen Betriebe unserer
Zeit darinnensteht. Und mit solchen Leuten, die eine Beziehung
zwischen Wissenschaft und Theosophie schaffen wollen, mussen
wir, oder wenigstens eine gewisse Anzahl von uns, mitdenken
konnen.
Da die Broschure aufierdem fur die Theosophie wohlwollend ge-
* Die in diesem und den nachsten Vortragen eingerixckten Zitate geben den gesamten Text
der Wrangell -Broschure wieder.
schrieben ist, sind wir zunachst nicht so sehr in die Notwendigkeit
versetzt, in Polemik, in Kritik zu verf alien, sondern konnen an die
Gedanken des Verfassers einiges ankniipfen, was sich uns aus dem
Spezifischen unseres geistigen Strebens ergibt. Selbstverstandlich
wiirde mancher von uns, wenn er eine solche Broschiire schreiben
wiirde, vielleicht nach den verschiedenen Erfahrungen, die wir bei
einer solchen Auseinandersetzung gemacht haben, den Tkel «Theo-
sophie» sogar vermeiden. Das ist eine Frage, die sich vielleicht
im Verlaufe des Lesens der Broschiire selber noch naher beleuchten
lafit.
Die Broschiire ist in einzelne, leicht uberschaubare Kapitel einge-
teilt und tragt als Motto einen Ausspruch Kants, der da heifit:
«Es ist nicht richtig geredet, wenn man in den Horsalen der
Weisheit immer redet, es konne im metaphysischen Sinne nicht
mehr als eine einzige Welt existieren.» Kant
So aus dem Zusammenhang herausgerissen, kann man diesem
Ausspruch Kants gewift nicht besonders viel entnehmen. Der Verfas-
ser dieser Schrift will jedoch sich auf Kant berufen in der Meinung,
daft Kant mit diesem Ausspruch sagen wollte, daft das Weltbild,
welches die aufiere Wissenschaft entwirft, nicht als das einzig mogli-
che angesehen werden miisse. Hier ist vielleicht die Meinung Kants
von dem Verfasser dieses Schriftchens nicht ganz genau getroffen,
denn Kant meint in seinem Zusammenhange im Grunde doch etwas
anderes. Kant meint: Wenn der Mensch nachdenkt, metaphysisch
nachdenkt, so kann er sich verschiedene wirkliche Welten denken,
und es ist dann die Frage, warum von diesen verschiedenen denk-
baren moglichen Welten fur uns gerade diejenige existiert, in der
wir leben, wahrend fur den Verfasser des Schriftchens die Frage die
ist: Gibt es die Moglichkeit, aufter dem materialistischen Weltbilde
noch andere Weltbilder zu haben? Natiirlich hat er dabei die Mei-
nung, daft sich gerade ein anderes, ein spirituelles Weltbild, auch
auf diese unsere Welt beziehen miisse.
Dann beginnt die Schrift mit ihrem ersten Aufsatz, der den Titel
tragt:
Einleitendes
Eine machtige spirituelle Bewegung hat gegenwartig die europai-
sche Kulturwelt ergriffen, im Gegensatz zu der materialistischen
Geistesstromung, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den
geistig fiihrenden Kreisen die herrschende war.
Der Verfasser schaut also gewissermafien das Getriebe der Geistes-
arbeit um sich herum an und findet, dafi die Dinge anders geworden
sind als sie um die Mitte des 19- Jahrhunderts waren; dafi man um
die Mitte des 19- Jahrhunderts das wissenschaftliche Heil gerade im
Materialismus gefunden hat, wahrend nun - in der Zeit, in der die-
ses Schriftchen veroffentlicht wurde, 1914 - eine machtige spirituelle
Bewegung die europaische Kultur ergriffen hat.
Nun sagt er weiter:
Was sind die inneren Griinde dieser Gegenstromung? Mir schei-
nen sie nicht nur im metaphysischen Bediirfnis der Menschen zu
liegen, sondern auch, zum Teil wenigstens, in dem vielfach er-
wachten Bewufttsein der Gefahr fur die Gesittung der Mensch-
heit, welche mit der Herrschaft einer materialistischen Welt-
anschauung verbunden ist.
Es gehort also der Verfasser dieses Schriftchens zu denen, welche
nicht allein glauben, dafi mit dem 20. Jahrhundert ein metaphysi-
sches Bediirfnis der Menschheit erwacht ist, sondern auch glauben,
dafi eine gewifie sittliche Gefahr darinnen besteht, dafi die Gemiiter
der Menschen von der materialistischen Weltanschauung ergriffen
werden.
Mit wachsender Geschwindigkeit ergiefit sich durch zahlreiche
Kanale die materialistische Geistesstromung von den intellek-
tuellen Hohen in die Niederungen der menschlichen Gesell-
schaft und verdrangt dort die auf Ehrfurcht begriindeten religio-
sen Uberzeugungen, welche dem sittlichen Leben der Menge den
festen Halt boten. Immer deutlicher wird es vielen, dafi der Sieg
materialistischer Weltanschauung in unabwendbarer Konse-
quenz zu materialistischer Lebensauffassung fiihrt und dement-
sprechende Lebensfiihrung nach sich zieht, welche in der Aus-
nutzung der kurzen Lebensfrist zu moglichst vielem Genufi den
einzigen verniinftigen Grad des Lebens erblickt.
Auch in friiheren Zeiten, wenn ein festes, auf Tradition und Au-
toritat begriindetes Sittengebaude zersetzender Verstandeskritik
erlag, hat das Haschen nach rohem Sinnesgenufi die Mensch-
heit ergriffen und auf verhangnisvolle Bahnen gefiihrt, die sie
von dem entfernten, was wir als ihre eigenste Bestimmung emp-
finden.
Dem widerspricht nicht die Tatsache, dafi unter den Mannern,
welche, von unbedingter Wahrheitsliebe beseelt, die Ergebnisse
ihres Forschens und Denkens ihren Mitmenschen kundtun, ohne
Riicksicht darauf , welche Folgen das etwa nach sich Ziehen moge -
daft unter den Mannern viele, wenn nicht die meisten, auf einer
hohen Stufe sittlicher Grofie stehen und von edlen, selbstlosen
Beweggriinden getrieben werden, in voller Uberzeugung, damit
der Menschheit zu dienen.
Also hier weist der Verfasser darauf hin, daft gewisse Gefahren fur
das sittliche Leben der Menschen sich als Konsequenz einer materia-
listischen Weltanschauung ergeben miissen, und er sagt: Dieser Ge-
fahr kann nicht allein mit dem Einwande begegnet werden, dafi die-
jenigen Menschen, welche theoretisch eine materialistische Welt-
anschauung als die ihrige und als die richtige anerkennen, selber auf
einer hohen Stufe sittlicher Lebensfiihrung stehen.
Der Verfasser beriihrt da, aus seiner Beobachtung heraus, einen
Punkt, auf welchen ich in unserer Geisteswissenschaft zu wiederhol-
ten Malen, ich darf wohl sagen, von einem hoheren Gesichtspunkte
aus, hingedeutet habe. Wenn man namlich sagt, ein so eminent
theoretisch -materialistisch wirkender Geist wie zum Beispiel
Haeckel, stiinde auf dem Boden hoher sittlicher Lebensideale und
zeige auch in seinem Leben eine hohere sittliche Lebensauffassung,
daher brauche die materialistische Weltanschauung keine materia-
listische Lebensfiihrung zu bedingen, so vergifit man eines - und
darauf habe ich in verschiedenen Vortragen, die ich gehalten habe,
hingewiesen -, man vergifit namlich, daft sich in der Menschheits-
entwickelung die Gefuhle und die Gedanken mit verschiedener
Geschwindigkeit bewegen.
Wenn man nur ein kurzes Stuck geschichtlicher Entwickelung
der Menschheit iiberblickt, dann findet man, dafi sich die Gedanken
verhaltnismafiig rasch bewegen. Rasch hat sich vom 15., 16. Jahr-
hundert an das materialistische Denken, das Ausleben des menschli-
chen Theoretisierens im materialistischen Gedanken entwickelt und
alle Wissenschaften sind nach und nach theoretisch von materialisti-
schen Gedankenformen durchzogen worden. Das sittliche Leben,
das sich in Gefuhlen darlebt, hat sich weniger rasch entwickelt.
Wenigstens zeigen die Menschen noch in ihren alten Empfindungen
und Gefuhlen, daft das Fuhlen nicht so rasch nachgeschritten ist.
Daher leben die Menschen heute noch im Sinne der moralischen
Gefuhle, die sich aus der vorhergehenden Weltanschauung ergeben
haben, und darum ist heute ein Zwiespalt vorhanden zwischen dem
materialistischen Denken und dem noch im alten Sinne nichtmate-
rialistischen Leben und einer nkhtmaterialistischen Lebensfuhrung.
Aber die Zeit riickt heran, wo aus der materialistisch-theoretischen
Weltanschauung die Konsequenzen gezogen werden, so daft vor der
lure steht, was man nennen kann: das sittliche Leben wird iiberflu-
tet durch die Konsequenz der materialistischen Weltanschauung.
Man kann also das Verstandnis fur die verschiedenen Geschwindig-
keiten, die die Gefuhle und Gedanken haben, wesentlich vertiefen,
wenn man sie geisteswissenschaftlich ansieht.
Nun heifit es weiter:
Wenn aber das Endergebnis dieser Geistesarbeit ein solches ist,
das uns als im Widerspruch mit der Bestimmung des Menschen
zu stehen scheint, so ist die Frage berechtigt, ob nicht doch im
scheinbar so festen Gefuge des kritischen Gedankenganges ein
grundsatzlicher Fehler liege?
Der Verfasser ist also uberzeugt davon, dafi aus dem theoretischen
Materialismus Unsittliches folgen musse, und dafi er das Heil fur die
Menschheit nur erwarten kann von der Sittlichkeit. Und so fragt er
sich, ob nicht eine materialistische Weltanschauung, die notwendi-
gerweise zur Unsittlichkeit fiihren mufi, nicht nur Fehler zeigt, son-
dern in sich selber schon Fehler hat, wenn man sie kritisch betrach-
tet. Und so schreibt er weiter:
Bekundet sich dieser Fehler nur durch das Gefuhl, oder kann er
auch verstandesmafiig entdeckt werden? Auch mich hat diese
Frage beschaftigt, und ich will im Nachfolgenden versuchen, mir
selbst Klarheit dariiber zu verschaffen. Ich hoffe, dafi mein Ge-
dankengang auch manchen Leser interessieren wird, der, gleich
mir, die Uberzeugung hat, dafi es wirksamer ist, einen Irrtum des
Verstandes mit seinen eigenen Waff en zu bekampfen, als gegen
denselben nur das Gefuhl in die Schranken zu rufen. Um mei-
nen wissenschaftlichen Standpunkt zu bezeichnen, erwahne ich,
dafi ich meinem Studium nach Astronom bin, dafi meine selb-
standigen Arbeiten auf dem Gebiete der theoretischen Meteoro-
logie und physikalischen Geographie liegen, und dafi ich von fru-
her Jugend an fast ausschliefilich mich in akademischen Kreisen
bewegt habe, und die Achtung vor strenger, auf kritischem Den-
ken begrundeter Wissenschaft mir sozusagen in Fleisch und Blut
iibergegangen ist.
Damit kann der Verfasser allerdings rechtfertigen, dafi er etwas liber
die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Theosophie zu sagen
hat, weil er zeigt, dafi er die Wissenschaft in einem gewissen Punkte
kennt und sein Urteil daher unendlich mehr wert sein mufi, als das
Urteil von jemandem, der zum Beispiel Kant liest und sagt, das ist ja
alles Unsinn, wir Theosophen brauchen Kant nicht zu lesen, und der
damit nur verrat, dafi er selbst vielleicht nicht funf Zeilen von Kant
ernstlich gelesen und durchdacht hat. Weiter heifit es:
Ich habe die feste Uberzeugung, dafi eine Weltanschauung, wel-
che vor strenger Verstandeskritik nicht bestehen kann, nicht von
dauerndem Bestande ist, mag sie dem Gefiihle noch so sehr zu-
sagen.
Diese einleitenden Worte sollten den Leser dariiber unterrichten,
welche Aufgabe ich mir in dieser Schrift gestellt habe und von
welchem Gesichtspunkte aus ich sie zu behandeln gedachte.
Im nachsten Aufsatz wird nun mit wenig Satzen umschrieben,
was materialistisch-mechanische Weltanschauung ist, jene Weltan-
schauung, die sich im Laufe der letzten Halfte des 19. Jahrhunderts
so herausgebildet hat, daft es viele, viele gegeben hat und auch
heute noch gibt, die das, was hier der Verfasser mit einigen Satzen
umschreibt, fur die wissenschaftlich allein mogliche Weltanschau-
ung halten. Fassen wir ins Auge, was der Verfasser schreibt:
Die Grundannahmen materialistisch-mechanischer Welt-
anschauung
Vergegenwartigen wir uns zuerst die wesenthchsten Grundan-
nahmen einer materialistisch-mechanischen Weltanschauung.
Man kann sie in folgende Lehren zusammenfassen:
1. Alles Geschehen, welches wir durch unsere Sinne beobachten
und gedanklich wahrnehmen, verlauft gesetzmafeig, d.h.
jeder Zustand des Kosmos wird notwendigerweise durch den
ihm zeitlich vorhergehenden bedingt und hat ebenso notwen-
dig die ihm nachfolgenden Zustande zur Folge. Alle Veran-
derungen, d.h. alles Geschehen, sind unabwendbare Folgen
der im Kosmos vorhandenen Krafte.
Nun, das was hier der Verfasser als Grundannahme der materia-
listisch-mechanischen Weltanschauung zu analysieren versucht, das
ist auch im Verlaufe unserer Vortrage oft gesagt worden. Aber wenn
Sie das, was der Verfasser hier sagt, vergleichen mit der Art, wie es in
unseren Vortragen gesagt wird, dann werden Sie den Unterschied
merken. Und fur diejenigen, welche sich in unser geisteswissen-
schaftliches Bewufttsein einleben wollen, ist es gut, wenn sie sich
diesen Unterschied einmal zum Bewufitsein bringen.
Wer diesen ersten Punkt, mit dem in schoner, scharfsinniger und
wissenschaftskundiger Weise die materialistisch-mechanische Welt-
anschauung charakterisiert wird, durchliest, der wird sehen: das ist
sehr gut; das trifft die materialistisch-mechanische Weltanschauung.
Aber wenn wir in den Vortragen, die zum Zwecke unserer Bewegung
gehalten werden, eine solche Charakteristik zu geben versuchen, so
wird dies gerade in anderer Weise versucht, und es ware gut, wenn
man dariiber nachdenken wiirde, wie anders bei uns in solchen
Dingen verfahren wird.
Nicht wahr, Herr von Wrangell gibt wieder, was man die mate-
rialistisch-mechanische Weltanschauung nennen kann. Er spricht da
von sich aus einige Satze, in denen er zusammenfaftt, was er an Ein-
drikken von der Sache erhalten hat. Sie werden bemerkt haben -
wenn Sie iiberhaupt darauf ausgehen, solches zu bemerken -, daft
ich es in der Regel nicht so, sondern ganz anders mache. Ich gehe in
der Regel aus von etwas, was da ist, was in einem geschichtlichen
Verlaufe als Ergebnis wirklich da ist. Und so habe ich, wenn ich die-
sen Punkt charakterisieren wollte, nicht einfach solche Satze von mir
selbst aus gesagt, sondern ich habe irgendeinen der wesentlichen, und
zwar der guten Autoren gewahlt, um mit den Worten und in der Art
eines solchen Autors auszusprechen, was die betreffende Sache ist.
So habe ich oftmals an den Namen Du Bois-Reymond ange-
knupft dasjenige, was bei meinen Vortragen als Unterlage dienen
konnte. Dadurch werden Sie vielleicht oftmals, wenn Sie nicht das
Ganze im Zusammenhang sehen, die Meinung gewonnen haben,
daft ich Du Bois-Reymond kritisieren wollte. Ich will aber nie kriti-
sieren, sondern nur einen charakteristischen Vertreter herausgreifen,
so daft nicht ich zu sprechen habe, sondern daft er spricht. Das ist
das, was man den bei uns notwendigen Tatsachensinn nennen kann,
den Sinn dafiir, daft wir nicht Behauptungen hinstellen, sondern die
Tatsachen sprechen lassen. So habe ich ofter erzahlt, daft Du Bois-
Reymond im Jahre 1872 auf der Leipziger Naturforscherversamm-
lung eine Rede iiber das Naturerkennen gehalten hat. Er sprach da-
mals auch iiber die Art und Weise, wie er aus seinen wissenschaft-
lichen Forschungen heraus zu seiner Auffassung von der Welt ge-
kommen sei.
Du Bois-Reymond ist seinem speziellen Forschungsgebiete nach
Physiologe, Seine Hauptarbeit liegt auf dem Gebiete der Nerven-
physiologic Er hat oftmals in formgewandter Rede sich iiber die
Weltauffassung der Naturforscher ausgesprochen. So hat er sich
auch in dieser Leipziger Naturforscherversammlung vom Jahre 1872
iiber die Grenzen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung,
iiber die Grenzen des Naturerkennens ausgesprochen, und dabei hat
er auch gesprochen von dem Laplaceschen Kopfe. Was ist das? Du
Bois-Reymond hat ihn damals charakterisiert. Dieser Laplacesche
Kopf ist derjenige, der in Mathematik, Physik, Biologie, Chemie
und so weiter der Gegenwart bewandert ist und sich aus diesen Wis-
senschaften heraus ein Weltbild formt. Ein solcher Laplacescher
Kopf kommt also dazu, sich ein Weltbild zu bilden, welches ausgeht
von sogenannten astronomischen Erkenntnissen der Wirklichkeit.
Was ist astronomische Erkenntnis der Wirklichkeit, konnten wir
nun fragen; was ist astronomische Erkenntnis? Wir konnen es uns
mit ein paar Worten klarmachen.
Der Astronom stellt sich vor: die Sonne, die Planeten, den
Mond, die Erde; er stellt sich vor die Planeten um die Sonne krei-
send oder sich in Ellipsen um sie bewegend, stellt sich vor die Anzie-
hungskraft, die Gravitation, auf die Planeten wirkend, stellt sich vor
eine Schwungkraft, und aus dieser Schwungkraft heraus stellt er sich
vor, dafi die Planeten um die Sonne kreisen.
So hat der Astronom im Auge, dafi er verfolgen konne, was um
ihn herum im Weltenraum als die grofien Geschehnisse vor sich
geht; dafi er sie verfolgen konne aus den materiellen Wesenheiten
heraus, die im Raume zu sehen sind, und aus den Kraften, die sie im
Raume aufeinander ausiiben. Dadurch, dafi die Wesenheiten mate-
rielle Krafte aufeinander ausiiben, kommen die Dinge in Bewe-
gung; das heifit, die Dinge kommen in Bewegung, wenn man sich
das Sonnensystem so vorstellt und es so anschaut. Man hat ein Bild
von den Dingen, die im Raume ausgebreket sind, und von den
Geschehnissen, die im Laufe der Zeit verlaufen.
Nun sagt derjenige, der im Sinne Du Bois-Reymonds sich ein
Weltbild, das auf der Hohe der Gegenwart steht, bilden will, das
Folgende. Wir miissen annehmen, dafi alle Materie aus kleinsten
Teilen, aus Atomen, besteht. So, wie ein Sonnensystem aus der
Sonne, aus dem Monde und aus den Planeten besteht, so besteht
audi das kleinste Stiickchen Materie aus etwas Ahnlichem, wie die
Sonne mit den Planeten. Und wie die Sonne Krafte ausubt, und wie
die Planeten untereinander Krafte aussenden und aufeinander wir-
ken, so wirken auch die Krafte unter den einzelnen Atomen. Da-
durch kommen die Atome in Bewegung. Da haben wir im Inneren
eines jeden materiellen Teilchens eine Bewegung. Die Atome sind,
wie die Sonne und die Planeten, in Bewegung. Die Bewegungen
sind zwar kleine Bewegungen, aber doch so, dafi wir sie vergleichen
konnen mit den grofien Bewegungen, die draufien im Raume von
den Himmelskorpern ausgeiibt werden, also dafi, wenn wir das
kleinste Stiickchen der Materie nehmen, das wir sehen konnen, da
drinnen etwas vor sich geht, wie dasjenige, was der Astronom drau-
fien im Weltall sich vorstellt. Und nun kam die Naturforschung
dazu, sich alles das so vorzustellen, dafi, wo immer etwas wirklich in
Bewegung ist, dies daher riihrt, dafi die Atome von ihren Kraften
geleitet sind.
Es hat in der zweiten Halfte des 19- Jahrhunderts besonders die
Warmelehre, wie sie begriindet worden ist durch Julius Robert
Mayer, Joule, Tyndall und Helmholtz, weiter ausgebildet durch
Clausius und andere, dazu beigetragen, dieses Weltbild auszu-
bilden. So sagt man, wenn man einen Korper beriihrt und Warme
empflndet: Das, was man da als die Empfindung «warm» hat, ist nur
Schein. Was wirklich draulkn existiert, das ist, dafi die kleinsten
Teile, die Atome der betreffenden Substanz, in Bewegung sind; und
man kennt einen Warmezustand, wenn man weifi, wie die Atome in
Bewegung sind, wenn man, um es mit den Worten Du Bois-Rey-
monds zu sagen, eine astronomische Kenntnis davon hat. Das Ideal
des Laplaceschen Kopfes ist es, wenn man erreicht hatte zu sagen:
Was geht mich die Warme an? Mein Weltbild hangt davon ab, dafi
ich herausfinde die Bewegung der Atome, die durch ihre Bewegung
alles, was wir an Warme, Licht und so weiter haben, bewirken. -
Dieser Laplacesche Kopf also bildet sich ein Weltbild, das besteht
aus Raum, Materie mit ihren wirksamen Kraften, und aus Bewe-
gung. Du Bois-Reymond stellt also in jenem Vortrag, den er
iiber die Grenzen des Naturerkennens in der Leipziger Natur-
forscherversammlung gehalten hat, dieses Ideal des Laplaceschen
Kopfes auf und er fragt: Was wiirde solch ein Laplacescher Kopf
konnen?
Sehen Sie, sein Ideal ist die astronomische Erkenntnis der Welt.
Wenn ein Mathematiker das Bild unseres Sonnensystems nimmt,
wie es zu irgendeinem Zeitpunkte ist, so braucht er in seine Formel
nur gewisse Zahlen einzusetzen und er bekommt ein Bild davon, wie
es vor einer Stunde, vor drei Stunden, vor zehnjahren, vor Jahr-
hunderten war. Wie macht man denn das, wenn man errechnen
will, ob im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung eine Sonnen- oder
Mondfinsternis zu einer bestimmten Zeit stattgefunden hat? Da hat
man nach dem gegenwartigen Stand der Wissenschaft ausgebildete
Formeln. Man braucht nur die entsprechenden Zahlen in die Formel
einzusetzen, so kann man jeden einzelnen Zustand berechnen.
Man kann berechnen, wann eine Sonnenfinsternis, sagen wir im
Jahre 1970 oder im Jahre 2728 stattflnden wird. Kur2, man kann je-
den in der Zeit vorhergehenden oder nachfolgenden Zustand be-
rechnen. Und nun miiike der Laplacesche Kopf die Formel haben,
die dieses ganze Sonnensystem umfafit. Wer also diesen Laplace-
schen Kopf hatte, der die Atome, die im Raume sind, und alle Be-
wegungszustande umfafite, der konnte - und das sagt auch Du Bois-
Reymond - heute aus der Weltformel, die er von den Atomen und
ihren gegenwartigen Bewegungszustanden hat, zum Beispiel be-
rechnen, wann Casar den Rubikon iiberschritten hat. Er brauchte
nur in die Formel das Notige einzusetzen. Es kame nur darauf an,
wie die Atome dazumal standen, und es miifite daraus folgen die
Tatsache: Casar uberschreitet den Rubikon. - Wenn man gewisse
Werte in die Formel einsetzt, so mufite sich ein gewisses Bild von
dem gegenwartigen Stande der Atome ergeben, und dann wiirde
man zum Beispiel erkennen konnen die Schlacht von Salamis. Man
brauchte nur weiterzugehen von Differential zu Differential, und
man wiirde die ganze Schlacht von Salamis rekonstruieren konnen.
Das ist das Ideal des Laplaceschen Kopfes: eine Welterkenntnis, die
astronomisch genannt wird. Es kann gelegentlich noch etwas hinzu-
gefugt werden iiber diese Dinge. Jetzt will ich nur noch fur die-
jenigen, die aufmerksam darauf sind, ein kleines Erlebnis erwahnen.
Als Junge bekam ich einmal ein Schulprogramm in die Hand. Es
werden ja solche Schulprogramme gedruckt. Darinnen steht ge-
wohnlich ein Aufsatz, von einem der Lehrer verfaflt. Dieser Aufsatz
war fur mich dazumal nicht ganz leicht zu verstehen, denn er hatte
den Titel «Die Anziehungskraft betrachtet als Wirkung der Bewe-
gung». Da hatte ich es schon dazumal mit einem Verfasser zu tun,
der sozusagen auch das Ideal des Laplaceschen Kopfes sich vorgesetzt
hatte; und noch manches andere hatte er ausgefuhrt in derselben
Richtung.
Wenn Sie das alles zusammennehmen, werden Sie sehen, dafi ich
nicht nach einer blofien Idee von astronomisch-materialistischer
Weltauffassung zu sprechen versuchte, sondern die Tatsachen, die
Personlichkeiten selbst sprechen zu lassen, so daft wirklich in einem
gewissen Sinne von mir erstrebt wurde, einen Darstellungsstil zu
pflegen, der das Personliche ausschaltet. Denn wenn ich Ihnen er-
zahlte, was Du Bois-Reymond bei einer besonderen Gelegenheit ge-
sprochen hat, so lasse ich ihn sprechen und nicht mich. Meine Auf-
gabe ist es nur, dem, was die Personlichkeiten gesprochen haben,
nachzugehen; ich versuche, die Welt sprechen zu lassen. Das ist der
Versuch, sich selbst auszuschalten, nicht seine eigenen Ansichten zu
erzahlen, sondern Tatsachen. Man sollte sich beim Lesen dieses
Wrangellschen Punktes gerade bewufit werden, daft von unserer
Geisteswissenschaft schon in der Art der Darstellung der Tatsachen-
sinn angestrebt wird, der Sinn, nicht blofi am Objektiven herum-
zulutschen, sondern der Sinn, sich in die Tatsachen zu vertiefen,
sich in sie wirklich zu versenken.
Jetzt werden Sie das, was von mir aus den Tatsachen heraus-
geschalt worden ist, wiedererkennen, wenn Sie die folgenden Zeilen
des Schriftchens nochmals auf sich wirken lassen: « Alles Geschehen,
welches wir durch unsere Sinne beobachten und gedanklich wahr-
nehmen, verlauft gesetzmafiig, d.h. jeder Zustand des Kosmos wird
notwendigerweise durch den ihm zeitlich vorhergehenden bedingt
und hat ebenso notwendig die ihm nachfolgenden Zustande zur
Folge. Alle Veranderungen, d.h. alles Geschehen, sind unabwend-
bare Folgen der im Kosmos vorhandenen Krafte.»
Und nun heifit es weiter:
Es beriihrt das Wesen der Frage nicht, ob man - der besseren An-
schaulichkeit wegen - den Trager der Krafte «Stoff» nennt oder,
nach Vorgang der Monisten, den Begriff «Energie» als einziges
Wirksames sich vorstellt, welches den menschlichen Sinnen zwar
verschiedene Erscheinungsformen darbietet, aber im Grunde eine
unabanderliche Summe von latenten oder aktuellen Bewegungs-
moglichkeiten darstellt.
Auch einen solchen Satz wiirde ich in den seltensten Fallen, und
nur dann, wenn schon anderes zusammengefafit ist, so pragen. Erin-
nern Sie sich, dafi ich auch einmal von dem gesprochen habe, was in
diesem Satz zum Ausdruck kommt. Da steht: «Es beriihrt das Wesen
der Frage nicht, ob man - der besseren Anschaulichkeit wegen - den
Trager der Krafte <StofF> nennt oder, nach Vorgang der Monisten,
den Begriff <Energie> als einziges Wirksames sich vorstellt. . .». Ich
wiirde nicht so sagen, sondern ich wiirde wirklich hinzeigen auf die
Schiiler Haeckels und Biichners, die vor alien Dingen auf den Stoff
sehen, der im Raume ausgebreitet ist. Das waren, nach dem Aus-
drucke des Schwaben-Viscfiers, die «Stoffhuber».
Dann kam derjenige, der der Vorsitzende des Monistenbundes
jetzt ist: Ostwald. Der hielt auf einer Naturforscherversammlung,
ich glaube, es war diejenige in Kiel - ich habe davon auch schon ge-
sprochen - einen Vortrag iiber die Uberwindung des Materialismus
durch die Energetik, durch den Energismus. Da hat er aufmerksam
darauf gemacht, dafi es nicht auf den Stoff ankame, sondern auf die
Kraft. Er ersetzte also den Stoff durch die Kraft. Erinnern Sie sich,
wie ich seine eigenen Worte anfuhrte, die er damals gebrauchte. Er
sagte dem Sinne nach: Wenn einer von einem anderen eine Ohr-
feige bekommt, so handelt es sich fur den, der die Ohrfeige be-
kommt, nicht um den Stoff, sondern um die Kraft, mit der er die
Ohrfeige bekommt. Nirgends nehmen wir den Stoff wahr, sondern
die Kraft. Und daher wurde an die Stelle des Stoffes die Kraft ge-
setzt, oder mit einer gewissen nicht nur Umschreibung, sondern
Umformung: die Energie. Aber dieser Energismus, der jetzt sich
Monismus nennt, ist nichts anderes als ein maskierter Materialismus.
Wiederum versuchte ich mit einem Beispiel Ihnen zu zeigen, wie es
wirklich einmal eine Zeit gegeben hat, wo an die Stelle der «Stoff-
huber» die «Energiehuber» traten. Nicht einen theoretischen Satz
versuchte ich hinzustellen, sondern aus dem Realen heraus ver-
suchte ich zu charakterisieren. Und das mufi iiberhaupt unser Bestre-
ben sein. Denn nur dadurch kommen wir dazu, Sinn fur das Reale
im Geistigen zu entwickeln, dafi wir im Physischen Sinn fur das
Reale haben und nicht an unseren eigenen Behauptungen herum-
lutschen.
So sagt also der Verfasser des Schriftchens: «Es beriihrt das Wesen
der Frage nicht, ob man - der besseren Anschaulichkeit wegen - den
Trager der Krafte <Stoff> nennt oder, nach Vorgang der Monisten,
den Begriff <Energie> als einziges Wirksames sich vorstellt...» Die
Warme ist die eine Art, gleichsam das Werkzeug, Ohrfeigen zu be-
kommen, das Licht ist die andere Art. Und wenn man eingeht auf
die verschiedenen Sinnesorgane, so mufi man sagen, da wirken die
Ohrfeigen jeweils anders. Wenn sie zum Beispiel auf die Augen
kommen, so wirken die gleichen Ohrfeigen als Lichterscheinungen.
So ist auch die Theorie. Sehen Sie sich nur noch einmal die Worte
an: «Es beriihrt das Wesen der Frage nicht, ob man - der besseren
Anschaulichkeit wegen - den Trager der Krafte <Stoff> nennt oder,
nach Vorgang der Monisten, den Begriff <Energie> als einziges Wirk-
sames sich vorstellt, welches den menschlichen Sinnen zwar ver-
schiedene Erscheinungsformen darbietet, aber im Grunde eine un-
abanderliche Summe von latenten oder aktuellen Bewegungs-
moglichkeiten darstellt.»
Was der Verfasser hier mit dem Ausdruck «latente oder aktuelle
Bewegungsmoglichkeiten» meint, konnen Sie sich so klarmachen:
Denken Sie sich einmal hier irgendeine Widerlage, und darauf eine
Rohre, eine Glasrohre, darinnen Wasser. Dieses Wasser driickt hier
auf den Boden. In dem Augenblicke, wo ich die Widerlage weg-
ziehe, rinnt das Wasser herunter. In dem letzteren Falle haben wir es
zu tun mit einer aktuellen Bewegung; bevor ich die Widerlage weg-
gezogen habe, war dieselbe Kraft da, nur war sie nicht aktuell, son-
dern ruhte. Alles, was vom Wasser dann herunterstromte und aktuell
wurde, das war vorher latent, nicht aktuell.
Der Verlauf alles Geschehens ist unabanderlich gegeben, und
auch der Mensch ist in seinem Denken, Fiihlen, Wollen ebenso
unfrei, wie zum Beispiel der Stein in seinem Fallen.
Das ist die notwendige Folge der Weltanschauung des Laplace-
schen Kopfes, daft, wenn ich da die Hand hinlege, das ein Bild der
sich bewegenden Atome ist, und wenn der Laplacesche Kopf das
Bild noch berechnen kann, wie ich das angedeutet habe, so schliefit
das die Freiheit des Menschen aus, das heifit, der Laplacesche Kopf
schliefit die Freiheit des Menschen aus.
Das ist der erste Punkt, den Herr von Wrangell anfuhrt aus der
materialistisch-mechanischen Weltanschauung heraus. Der zweite
Punkt ist der folgende:
2. Die inneren Erlebnisse, welche sich im Bewufitsein des Men-
schen abspielen (seine Gefuhle, Gedanken, Willensimpulse),
sind nicht wesentlich verschieden von sonstigen Vorgangen in
der Natur, die der Mensch durch seine Sinne beobachtet. Die-
se inneren Erlebnisse sind nur Begleiterscheinungen von stoff-
lichen Vorgangen innerhalb des menschlichen Gehirns und
Nervensystems.
In diesem zweiten Punkte ist also ausgedriickt, dafi wenn ich denke,
fiihle und will, das nur eine Begleiterscheinung der inneren Vor-
gange ist, die der Laplacesche Kopf sich auswahlt. Wir haben es
also nicht mit selbstandigen Gedanken, Gefuhlen und Willens-
impulsen zu tun, sondern nur mit Begleiterscheinungen. Wenn Sie
verfolgen, was ich zum Beispiel in dem Vortrage «Das Erbe des 19-
Jahrhunderts» und in ahnlichen anderen Vortragen gesagt habe,
wenn Sie manches durchstudieren, was in den «Ratseln der Philo-
sophie» enthalten ist, dann werden Sie sehen, wie viele Geister in
der zweiten Halfte des 19- Jahrhunderts sich diese Anschauung wie
eine Selbstverstandlichkeit gebildet haben, dafl der Mensch eigent-
lich nichts anderes ist als das Gefiige der materiellen Vorgange und
ihrer Energien, und daft die Gedanken, Gefiihle und Willens-
impulse nur Begleiterscheinungen sind.
Als dritten Punkt der materialistisch-mechanischen Weltanschau-
ung gibt Herr von Wrangell das Folgende an:
3 . Nach dem leiblichen Tode des Menschen hort die Existenz des
menschlichen Einzelwesens endgiiltig auf, da das sogenannte
geistige Leben des Menschen an seine Korperlichkeit gebun-
den ist und ohne sie nicht bestehen kann.
Diesen Punkt kann jeder als Konsequenz des ersten Punktes ein-
sehen. Der erste Punkt ist das, worauf es ankommt. Der zweite und
dritte sind notwendige Konsequenzen.
In dem nachsten Aufsatzchen spricht Herr von Wrangell iiber
dasjenige, was er nennt:
Friifung dieser Grundannahmen
Worauf griinden sich diese Grundannahmen der materialisti-
schen Weltanschauung? Sind es unzweifelhaft erwiesene Tatsa-
chen oder nur mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen?
Die wichtigste und folgenschwerste der drei vorerwahnten An-
nahmen ist die erste vom notwendigen Yerlauf alles Geschehens.
Sie wird nicht nur von Materialisten als iiber jeden Zweifel erha-
ben angesehen, sondern auch von vielen Spiritualisten, die zwar
die selbstandige Existenz geistiger Wesenheiten annehmen und
an das Fortbestehen des geistigen Wesens des Menschen, ihrer
«Seele», nach dem leiblichen Tode glauben, die aber das unaban-
derlich Gesetzmafiige innerhalb der Geisteswelt wie innerhalb
der Sinneswelt annehmen. Zunachst sei also festgestellt, dafi die-
se Vorstellung der unbedingten, ausnahmslosen Gesetzmafiig-
keit, d.h. Notwendigkeit alles Geschehens, auch auf geistigem
Gebiet, den Begriff der Sittlichkeit, des Guten und Bosen aus-
schlieik, denn sittlich handeln heifit, das Gute wahlen, wenn das
Bose gewahlt werden konnte.
In diesem Kapitelchen sucht sich Herr von Wrangell klarzumachen,
dafi es ein Sittliches nicht geben konne, wenn die materialistisch-
mechanische Weltanschauung die einzig richtige ist. Denn wenn ich
jeden Augenblick meines Lebens das tun mull, was nur eine Begleit-
erscheinung der Atome ist, dann kann von einer Freiheit nicht die
Rede sein, auch von einem Sittlichen kann nicht die Rede sein, denn
es wird alles mit Notwendigkeit getan. So wie man nicht sagen kann,
der Stein, der zur Erde fallt, ist gut, und der, welcher nicht zur Erde
fallt, ist nicht gut, so kann man auch nicht von den Handlungen der
Menschen sprechen, daft sie gut oder nicht gut sind. Beim Ver-
brecher erfolgt alles mit Notwendigkeit; beim guten Menschen er-
folgt alles mit Notwendigkeit. Daher liegt also etwas Richtiges in
dem Satze: «Zunachst sei also festgestellt, dafi diese Vorstellung der
unbedingten, ausnahmslosen Gesetzmafiigkeit, d.h. Notwendigkeit
alles Geschehens, auch auf geistigem Gebiet, den BegrifT der Sitt-
lichkeit, des Guten und Bbsen ausschlielk; denn sittlich handeln
heifit, das Gute wahlen, wenn das Bose gewahlt werden konnte.»
Wahlen kann man aber nicht, wenn alles in die materialistische
Notwendigkeit eingeschnurt ist.
Das nachste Kapitel ist uberschrieben:
Freiheit und Sittlichkeit
Sobald keine Freiheit des Entschlusses vorliegt, kann von Sittlich-
keit nicht die Rede sein in dem Sinne, wie dieser BegrifF von den
Menschen aufgefafit wird und wie er unserem inneren Empfin-
den entspricht. Wir konnen wohl von mehr oder weniger niitzli-
chen, unfreien Handlungen und Impulsen reden, aber eine sittli-
che Beurteilung unfreier Handlungen oder Gefiihle hat keine
Berechtigung, keinen Sinn. Mit Beseitigung der Freiheit fallt
auch die Verantwortlichkeit weg. Dieser zweifellose Zusammen-
hang zwischen Freiheit und Sittlichkeit kann nicht als Argument
gegen den BegrifT der Gesetzmafiigkeit gelten; es soil damit blofi
in Erinnerung gebracht werden, welche logische Folgen mit der
Annahme unbedingter Notwendigkeit verbunden ist.
Also Herr von Wrangell sucht hier klarzumachen, dafi aus der
materialistisch-mechanischen Weltanschauung unbedingt folgt, daft
von Freiheit und Sittlichkeit eigentlich nicht gesprochen werden
kann.
Nun ist er ein wissenschaftlicher Kopf , und ein wissenschaftlicher
Kopf ist gewohnt, wirklich, in ehrlicher Weise, die Konsequenzen
von Voraussetzungen zu Ziehen. Unserer Zeit entgeht vieles, was auf
sie sogleich absurd wirken wiirde, wenn sie wirklich schon das wis-
senschaftliche Gewissen aufgenommen hatte, wenn sie nicht ohne
wissenschaftliches Gewissen alles mogliche zusammenruhren und
zusammenwerfen wiirde. Das tut Herr von Wrangell nicht, sondern
er sagt: Nehmen wir die materialistische Weltauffassung an, so diir-
fen wir nicht mehr von Freiheit und Sittlichkeit sprechen; denn ent-
weder ist die materialistische Weltanschauung richtig, und dann
ist es ein Unsinn, von Freiheit und Sittlichkeit zu sprechen, oder
man spricht von Freiheit und Sittlichkeit, und dann hat es keinen
Sinn, von der materialistisch-mechanischen Weltanschauung zu
sprechen.
Da aber Herr von Wrangell ein Wissenschafter ist, der schon ge-
wohnt ist, die Konsequenzen seiner Voraussetzungen zu Ziehen -
das ist eine wichtige Tatsache -, so ist er nicht gewohnt, die Dinge
in seinem Denken so schlampig zu haben; denn es ist eine Schlam-
perei des Denkens, wenn einer sagt, ich bin Materialist und nicht zu-
gleich die Sittlichkeit leugnet. Dieser Schlamperei des Denkens will
er sich nicht schuldig machen. Auf der anderen Seite hat er auch die
Gewohnheit, die man eben hat, wenn man Wissenschafter gewor-
den ist, namlich zu sagen: Moge die Welt in Trummer gehen, das,
was ich wissenschaftlich erkannt habe, mufi wahr sein! Daher kann
man nicht sagen, man werfe die materialistische Anschauung ein-
fach weg, sondern wenn die materialistische Weltanschauung wahr
ist, so mufi sie angenommen werden und dann steht man vor der
traurigen Notwendigkeit, die Sittlichkeit iiber Bord werfen zu miis-
sen. Da handelt es sich also nicht blofl darum, zu fragen: Wohin
kommen wir mit der Sittlichkeit? - er sagt, das geniigt nicht -, son-
dern es mufi die materialistische Weltanschauung untersucht wer-
den, ganz abgesehen davon, was fur Folgen dies fur die Sittlichkeit
hat. Also es mufi auf eine andere Art der materialistischen Welt-
anschauung zu Leibe gegangen werden.
Das nachste Kapkel heifit:
Das Weltratsel
Ja, man kann sagen, dafi die Frage, ob der Mensch fiir sein Tun
verantwortlich ist, d.h. ob er die Moglichkeit hat, seine Willens-
impulse nach Motiven zu regeln, die nicht durch seine leibliche
Organisation eindeutig bestimmt sind, - dafi diese Frage uber
Freiheit oder Unfreiheit des Willens fur uns Menschen das ganze
Weltratsel in sich schliefit. Denn wenn diese Frage im Sinne der
im ganzen Weltall unbedingt und ausnahmslos geltenden Not-
wendigkeit alles Geschehens beantwortet werden mufe, dann ist
der Materialismus die einzig richtige Anschauung und die Welt
mit all ihrer Qual und Leiden ein zwecklos ablaufender Mecha-
nismus, ohne erkennbaren Anfang zwar, aber mit dem ewigen
Tode des Ganzen als Endziel.
Als wir mit unserer geisteswissenschaftlichen Bewegung begannen,
hatte ich Veranlassung, einige Gedichte der Dichterin Marie Euge-
nie delle Grazie vorzulesen, die sich, man konnte sagen, durchge-
rungen hat zu einer materialistisch-mechanischen WeltaufTassung und
sogar als Dichterin wirklich die Konsequenzen daraus zieht. Daher
hat sie Gedichte geformt wie «Ein schmutziger Wirbel ist das Da-
sein». - Darauf mufi man ja kommen, wenn man in seinem Denken
nicht schlampig ist, wenn man sein Denken auf seine Gefiihle wirken
lafit. Und nur weil die Menschen in ihrem Denken so schlampig sind
und so feige, stellen sie sich nicht die Frage: Was wird aus dem Leben
unter dem Eindrucke der materialistisch-mechanischen Weltanschau-
ung? - Aber man mufi doch zeigen, dafi sie in sich unrichtig ist, sonst
hatte man einfach die Konsequenz der delle Grazie aufgenommen.
Weiter sagt Herr von Wrangell:
Die grofien Geister, die tiefsten Denker haben sich um Losung
dieser wichtigsten aller Fragen bemuht, und es scheint vermes-
sen, da etwas Neues sagen zu wollen. Es kann sich hier aber nicht
um eine allgemein giiltige Antwort handeln, sondern hochstens
um einen Hinweis auf den Gedankengang, der zu einer subjekti-
ven Losung des Ratsels gefiihrt hat. Ein soldier Hinweis kann
manchmal einer ahnlich gestimmten Seek eine Hilfe sein.
Herr von Wrangell macht also darauf aufmerksam, daft die grofiten
Geister, Dichter und Denker sich um die Losung dieser Frage be-
muht haben, und daft es unnotig sei, da noch etwas Neues sagen zu
wollen. Es konne sich hochstens um einen Hinweis handeln auf den
Gedankengang, der zu einer subjektiven Losung dieses Ratsels ge-
fiihrt hat; also um einen Hinweis auf seinen eigenen Gedanken-
gang.
Im nachsten Kapitel untersucht er, woher es kommt, daft wir die
Vorstellung haben: das Vorhergehende hat immer das Folgende ge-
setzmafiig nach sich ziehend. Es heifit:
Ursprung der Gesetzmafiigkeit
Von diesem Gesichtspunkte aus scheint es berechtigt, die Frage
aufzuwerfen: Von wo entnehmen wir die Vorstellung der unbe-
dingten Gesetzmafiigkeit alles Geschehens? 1st es etwa eine un-
mittelbare, allem Denken zu Grunde liegende intuitive Wahr-
heit, oder hat sich die Menschheit erst allmahlich, durch lange
muhevolle Geistesarbeit zu dieser Vorstellung durchgerungen;
eine Vorstellung, die jetzt dem am Kulturwerk der Vergangen-
heit zehrenden Europaer als selbstverstandliche Wahrheit er-
scheint?
Herr von Wrangell fragt hier also: 1st die Sache so, dafi der Mensch
immer an diese unbedingte Gesetzmafiigkeit geglaubt hat, oder sind
die Menschen erst im Laufe der Zeit dazu gekommen? Dann erst
kann man erkennen, welche Tragkraft diese Vorstellung hat; denn
wenn der Mensch immer daran geglaubt hat, so raufi sie etwas selbst-
verstandlich Wahres haben; wenn die Menschen sich aber erst zu ihr
durchgerungen haben, so kann man nachpriifen, wie sie zu dieser
Vorstellung gekommen sind. So kann man sich iiber die Giiltigkeit
eine Vorstellung machen. Er sagt dazu weiter:
Das letztere ist der Fall. Es ist dies eine erworbene, keine ur-
spriingliche Erkenntnis. Das urspriingliche, unmittelbare Be-
wufltsein des Menschen gibt ihm im Gegenteil die Idee der durch
auflere Verhaltnisse begrenzten inneren Freiheit, der Willkur in
seinen Willensentschlussen. Die Vorstellung der Gesetzmafiig-
keit ist erst allmahlich aus der Erfahrung entnommen.
Nun, das konnen Sie aus unzahligen meiner Vortrage ersehen, wie
langsam die Menschen zu dieser Vorstellung der Gesetzmafiigkeit
gekommen sind, vom alten Hellsehen bis in die Zeit, wo die Vorstel-
lung der Gesetzmafiigkeit gekommen ist. In Wahrheit ist die Vor-
stellung der Gesetzmafiigkeit erst vier Jahrhunderte alt, denn sie
riihrt im Grunde genommen von Galilei her. Das habe ich ofter aus-
einandergesetzt. Wenn man vor Galilei zuriickgeht, so ist gar keine
Ahnung davon da, daft alles von einer solchen Gesetzmafiigkeit
durchzogen ist.
Herr von Wrangell sagt: «Es ist dies eine erworbene, keine ur-
spriingliche Erkenntnis . . . Die Vorstellung der Gesetzmafiigkeit ist
erst allmahlich aus der Erfahrung entnommen. » - Nun, ich mochte
wissen, ob das Kind durch seine inneren astralischen Verhaltnisse ge-
notigt ist, nach dem Zucker zu greifen, das heifit, ob es ihm natiir-
lich ist, oder ob das Kind meint, schon eine Wahl zu haben. Ich ha-
be fruher schon einmal etwas wie eine Anekdote erzahlt, die ich hier
auch anfuhren mochte. Es war in meiner Studienzek; da ging ich in
der Vorhalle des Wiener Siidbahnhofs mit einem Studienkollegen
immer auf und ab. Der war ein hartgesottener Materialist und ver-
trat entschieden den Standpunkt, dafi alles Denken nur so Vorgan-
ge im Gehirn sind, so wie das Vorriicken der Zeiger an der Uhr. Und
wie man nicht davon sprechen konne, dafi das etwas Besonderes ist,
sondern mit den mechanischen Stoffen und Kraften, die darinnen
vorhanden sind, zusammenhangt, so meinte er, dalS auch das Ge-
hirn diese astronomischen Bewegungen mache. Das war ein Laplace -
scher Kopf; wir waren dazumal achtzehn bis neunzehn Jahre alt. Da
sagte ich ihm einmal: Aber du sagst ja niemals «mein Gehirn
denkt», sondern du sagst «ich denke». Warum liigst du denn da fort-
wahrend? Warum sagst du immer «ich denke» und nicht «mein Ge-
hirn denkt?» - Nun, dieser Studienkollege hatte nicht aus der Erfah-
rung, sondern aus vertrackten Theorien heraus seine Kenntnisse, die
Ideen der Willensentschliefiung und der Gesetzmafiigkeit genom-
men. Er glaubte nicht an innere Willkiir, er sagte aber «ich denke»
und nicht «mein Gehirn denkt». Er stand also in fortwahrendem
Widerspruch mit sich selber.
Das nachste Kapitel heifit:
Freiheit des Willens kann nicht erfahrungsmafiig erwiesen werden
Kann dieser Gegensatz verstandesmafiig gelost werden? Es 1st
einleuchtend, daft ein auf Erfahrung begriindeter Beweis fur die
Freiheit des Willens der Menschen oder anderer Wesen nicht er-
bracht werden kann. Dazu mufite nachgewiesen werden, daft in
einem tatsachlichen Fall dasselbe Wesen unter gleichen Verhalt-
nissen zwei verschiedene Entschlusse gefafit hat.
Herr von Wrangell sagt also, daft man die Wahrheit der Freiheit des
Willens der Menschen durch aufiere Erfahrung nicht beweisen kon-
ne, weil man namlich nur einen Entschlufi fassen konne. Wollte man
sie beweisen, dann mufite man zwei Entschlusse fassen konnen. -
Nun, ich habe auch schon erzahlt, daft man sich in dieser Frage gar
nicht auf Erfahrung beruft, sondern eine Erfahrung konstruiert.
Zum Beispiel hat man sich einmal einen Esel gedacht, der links und
rechts ein Biindel Heu hat, dasselbe schmackhafte, gleich grofie
Bun del Heu. Der Esel, der immer hungriger und hungriger wird,
soil sich jetzt entschliefien, ob er von dem einen oder anderen Heu-
biindel fressen soil, denn das eine ist so schmackhaft wie das andere
und so grofi wie das andere. Und so weifi er nicht, ob er sich dahin
oder dorthin wenden soli. Kurz, der Esel kam zu keinem entspre-
chenden Entschlufi und mufite zwischen den zwei Bundeln Heu ver-
hungern. - Solche Dinge hat man konstruiert, weil man fuhlte, dafi
man erfahrungsmafiig gar nicht dahin kommen kann, die Freiheit zu
beobachten. Darauf macht Herr von Wrangell aufmerksam und
stellt dann die Frage:
Kann aber die Freiheit des Willens erfahrungsmafiig widerlegt
werden? Zur Beantwortung dieser Frage rufen wir uns zunachst
einige erkenntnistheoretische Wahrheiten ins Gedachtnis!
Um diese Frage zu beantworten, spricht nun Herr von Wrangell im
nachsten Kapitelchen von einigen erkenntnistheoretischen Wahrhei-
ten. Dieses Kapitel heifit:
Erkenntnistheoretischer Rilckblick
Der Mensch hat unmittelbares Bewufltsein nur von sich selbst. Er
fuhlt Begierden, die er zu befriedigen sucht und die in ihm Wil-
lensimpulse auslosen; er empfangt Eindriicke, von denen er sich
bald iiberzeugt, dafl sie in Abhangigkeit von bestimmten Sinnes-
organen seines Korpers stehen. Wenn er die Augen schliefit,
empfangt er keine Licht- und Farbeneindriicke, wenn er die Oh-
ren verstopft, so schwacht er seine Schallempfindungen oder ver-
liert sie ganz. Ebenso zeigt ihm die Erfahrung, dafi die Nase den
Geruchssinn, der Mund in seinen mit Schleimhauten bedeckten
Teilen den Geschmack vermitteln. Nur der Tastsinn scheint an
keinen besonderen Korperteil gebunden, kann durch die gesam-
te Haut ausgeubt werden. Der normale gesunde Mensch hat in
wachem Zustande fiinf verschiedene Sinne, die ihm Eindriicke
vermitteln, und zwar jeder Sinn seine spezifische Art von Ein-
drucken.
Hier steht Herr von Wrangell unter dem Einflufi der popularen Er-
kenntnis der Sinne. Diejenigen, die einmal zugehort haben bei ei-
nem kleinen Vortragszyklus, den ich dazumal «Anthroposophie» be-
titelt habe, werden gesehen haben, dafi man mit fiinf Sinnen gar
nicht auskommt, dafi man vielmehr zwolf Sinne anzunehmen hat.
Unter diesen zwolf Sinnen ist auch der Sinn fur das fremde Denken,
fur das fremde Ich, und daher kann derjenige, der unsere geisteswis-
senschaftliche Bewegung richtig verfolgt hat, das Mangelhafte der
Wrangellschen Behauptungen erkennen. Sie sind zwar nicht un-
richtig, aber sie sind auch nur bedingt richtig. Wir konnen nicht
sagen: «Der Mensch hat unmittelbares Bewufitsein nur von sich
selbst.» Das ist unrichtig. Denn da konnten wir niemals fremde Iche
wahrnehmen.
Es gibt zwar in der neueren Zeit eine ganz vertrackte Anschau-
ung, die von allerlei Leuten vertreten wird. Vielleicht konnte man
als charakteristische Personlichkeit unter den sie Vertretenden den
Philosophen und Psycho logen Lipps anfuhren. Die sind sich nicht
bewufit, wenn ihnen ein Mensch gegeniibertritt, dafi sie einen un-
mittelbaren Eindruck von seinem Ich haben, sondern sie sagen:
Wenn ich einem Menschen gegenubertrete, so hat der ein Gesicht;
das macht bestimmte Bewegungen, und er redet bestimmte Dinge,
und da soil man nun aus dem, was er redet und tut, schliefien kon-
nen, dafi ein Ich dahinter ist. Also das Ich ist etwas Erschlossenes,
nicht etwas unmittelbar Wahrgenommenes. Dagegen ist eine neue
Philosophenschule, die ihren guten Interpreten in Max Scheler\\2X,
anderer Ansicht. Die hat schon die Wahrnehmung gemacht, dafi
man einen unmittelbaren Eindruck von dem Ich des anderen Men-
schen haben kann. Und was von dem Ich, mehr streng wissenschaft-
lich, Husserl, der Philosoph, und dann etwas popularer, namentlich
in seinen neueren Aufsatzen, Scheler geschrieben hat, zeigt, dafi die
neuere Philosophic auf dem Wege ist, anzuerkennen, dafi ein un-
mittelbares Bewufitsein auch etwas wissen kann von einem anderen
Bewufitsein. - Man kann also sagen, Herr von Wrangell ist ange-
steckt von der popularen Erkenntnistheorie, wenn er sagt: «Der
Mensch hat unmittel bares Bewufitsein nur von sich selbst.» Und wei-
ter: «Er fuhlt Begierden, die er zu befriedigen sucht und die in ihm
Willensimpulse auslosen.» Und dann beschreibt er, wie der Mensch
durch seine Sinne die Welt wahrnimmt.
Ich habe auch schon iiber diese Sinnesphysiologie geschrieben.
Lesen Sie nach in «Luzifer-Gnosis» und Sie werden sehen, dafi ich
das Unmogliche dieser Sinnesphysiologie mit dem einfachen Siegel-
vergleich klarzulegen versuchte. Ich sagte damals: Diese Sinnesphy-
siologie ist schon im Beginn materialistisch. Sie geht davon aus, dafi
von aufien nichts in uns hineinkommen kann, weil sie sich das Drau-
fien im Geheimen materialistisch vorstellt. Es ist aber so wie beim
Petschaft und dem Siegellack: Das Petschaft bleibt immer aufierhalb
des Siegellacks; von dem Materiellen des Petschafts geht nichts iiber
in den Siegellack. Aber der Name «Miiller», der darin eingraviert ist,
der geht doch von dem Petschaft in den Siegellack ganz iiber. Legt
man nun den Hauptwert auf dasjenige, was sich in dem Namen
Miiller geistig ausdriickt, und nicht auf das Materielle, von dem
nichts iibergeht, so kann man sehen, dafi das, was von seiten der Sin-
nesphysiologie vorgebracht wird, gar nichts besagt. Aber es sind so
greulich in die Gehirne hineingeschlagene Lehren, denen nur die
meisten nicht nachgehen, auch wenn sie Spkitualisten werden wol-
len. Das konnen Sie ausfuhrlicher lesen in meinem Buche «Die Rat-
sel der Philosophie», in dem Kapitel: «Die Welt als Illusion. »
Dann fahrt Herr von Wrangell weiter fort:
Da der Mensch sich nicht denken kann, dafi ein bestehender Zu-
stand sich ohne eine Ursache andern konne, nimmt er an, dafi
die von ihm empfundenen Sinneseindriicke durch Ursachen her-
vorgerufen werden, die er aufierhalb seines eigenen unmittelbar
empfundenen Selbstes verlegt. Diese aufieren Ursachen seiner in-
neren Sinneseindriicke nennt er «Dinge» und in ihrer Gesamtheit
«Die Welt» oder - erkenntnistheoretisch - das «Nicht-Ich», im
Gegensatz zu dem unmittelbar empfundenen «Ich».
Das ist klar, man mufi sich nur daran gewohnen, dafi da ein bifichen
erkenntnistheoretisch gesprochen wird.
Tausendfaltige Erfahrung und die diesbeziigliche Ubereinstim-
mung mit Wesen, die er als gleichartig mk sich selbst erkennt -
seine Mitmenschen -, belehren ihn, dafi diese «Dinge», das
«Nicht-Ich», bestehen kann, auch unabhangig von seinem Be-
wufitsein.
Sonst miifite der Mensch glauben, dafi, wenn er sein Auge nicht
nur von lebenden, sondern auch von leblosen Dingen abwendet, die
Dinge zu existieren aufhoren.
Wenn er zum Beispiel das Bewufitsein im Schlafe verliert, so fin-
det er beim Erwachen, dafi die Dinge fortbestehen in ihrer
«Wirklichkeit», d.h. in ihrer Fahigkeit, in ihm Sinneseindriicke
hervorzurufen. Auch seinen eigenen Korper erkennt der Mensch
als in gewisser Hinsicht zur Welt «aufaer ihm» gehorig.
Das ist gut, wenn es betont wird, denn wir haben nicht nur Dinge,
die innerhalb, sondern auch Dinge, die aufkrhalb sind.
Er kann von seinen Gliedmafien, wie von anderen Dingen, Sin-
neseindriicke empfangen, er kann zum Beispiel seine Hande se-
hen, tasten usw., und unterscheidet auch hier zwischen dem in-
neren Vorgang seiner Sinneseindriicke und ihrer aufieren Ursa-
che, als welche er in diesem Fall einen seiner Korperteile erkennt.
Dafi es sein Korper ist, d.h. dafi dieses Ding in ganz besonderer
Verbindung mit seinem «Ich» steht, d.h. mit dem, was da fuhlt
und denkt, davon iiberzeugt er sich bald, vor allem durch den
Tastsinn, der ihm zeigt, daft, wenn er seine eigenen Korperteile
in Beriihrung mit anderen Dingen bringt, er die Beriihrung un-
mittelbar fiihlt, er es dagegen nicht unmittelbar empfindet,
wenn andere Gegenstande miteinander in Beriihrung gebracht
werden.*
Es ist sehr gut, auf so etwas aufmerksam gemacht zu werden. So
also beantwortet Herr von Wrangell die Frage, wodurch der Mensch
dazu kommt, unter den Dingen, die im Raume draufien sind, in
einem gewissen Ding seinen eigenen Leib zu erkennen. Wer schlam-
pig denkt, der sagt sich einfach: Uber so etwas nachzudenken ist
doch Unsinn; das wollen Wissenschafter sein, die uber so etwas
nachdenken. - Aber Wrangell sagt: Wenn diese zwei Kreiden zu-
sammenstofien, tut es nicht weh, aber wenn ich mit dem Korper an-
stofle, dann tut es weh. Das ist der Unterschied. Und weil das eine
weh, das andere nicht weh tut, so bezeichne ich das eine als zu mir
gehorig, und das andere als nicht zu mir gehorig. - Es ist gut, zu wis-
sen, dafi wir nichts anderes haben als die Folge dieses Bewulkseins.
* In der Broschiire selbst folgt hier noch als Fufinote:
«Die von de Rochas beobachtete <Ausscheidung des Empfindungsvermogens bei Sensitiven>
ist eine besondere abnorme Erscheinung, welche eingehendes Studium verdient.»
Nun, sehen Sie, meine lieben Freunde, ich gedachte heme mit
der Besprechung dieser Broschiire zu schlieflen. Wir sind aber nur
bis Seite 10 gekommen. Es sollte einmal ein Versuch gemacht wer-
den, wie man den Zusammenhang flnden kann zwischen dem, was
in der Welt geschrieben wird, und dem, was in strengerem Sinne
unserer Geisteswissenschaft angehdrt. Aber die nachsten Kapitel
sind doch noch zu interessant: Bildung der Begriffe; Vorstellungen
von Raum und Zeit; das Kausalitatsprinzip; Anwendung der Vor-
stellung der Willkiir auf die Umwelt; Beobachtung gleichmaftig ver-
laufender Erscheinungen; Wesen aller Wissenschaft; Sternenkunde,
die alteste Wissenschaft; Gleichmafiige Bewegung; Das Messen; Das
den Uhren zugrunde liegende Prinzip. - Es ist so interessant, dafi wir
doch vielleicht morgen um sieben Uhr die Besprechung fortsetzen.
ZWEITER VORTRAG
Dornach, 27. September 1915
Ich habe gestern in Anknupfung an eine Charakteristik der materia-
listisch-mechanischen Weltanschauung durch Herrn von Wrangell
auch von der Dichterin Marie Eugenie delle Grazie gesprochen als
Beispiel eines wirklichen Ernstnehmens, ich mochte sagen Beim-
Wort-Nehmens der materialistischen Weltauffassung. Nicht wahr,
man konnte ja die Frage aufwerfen: Wie mufi ein Mensch, der ele-
mentarische, starke Gefuhle fur alles Menschliche hat, welches durch
das geschichtliche Werden den Menschen anerzogen worden ist, wie
mull der Mensch dann fuhlen, wenn er die materialistisch-mecha-
nische Weltanschauung als wahr voraussetzt? So ungefahr hat sich
namlich - es ist jetzt 25 bis 30 Jahre her - Marie Eugenie delle Grazie
der materialistisch-mechanischen Weltanschauung gegeniiberge-
stellt. Sie nannte Haeckel ihren Meister und ging davon aus, dafi ge-
wissermaflen der Laplacesche Kopf mit seiner Weltvorstellung recht
hat. Aber sie hat diese Weltanschauung nicht theoretisch ausgespro-
chen, sondern unter der Voraussetzung, dafi sie wahr ist, auch das
menschliche Gefuhl sprechen lassen. Und so sind ihre Dichtungen
vielleicht das allersprechendste Zeugnis fiir die Art und Weise, wie
sich in unserer Zeit das fuhlende Menschenherz gegemiber der
materialistisch-mechanischen Weltanschauung verhalten kann, was
man unter ihrer Voraussetzung spiiren, fuhlen, empflnden kann.
Und damit Sie so recht anschaulich ein Beispiel des Eindruckes der
materialistisch-mechanischen Anschauung auf ein menschliches
Herz haben, werden wir Ihnen zunachst einige dieser delle
Grazieschen Dichtungen vortragen.
[Rezitation durch Marie Steiner]
Um Mitternacht
Wenn miide und halb berauscht
Von des Tages bunt wechselndem Leben
In sel'ger Ruhe die Erde traumt,
Des Mondes blaulicher Glanz
Die oden Strafien durchflutet
Und heil'ge Vergessenheit
Die linden Fittiche hebt -
In diesen gesegneten Stunden,
So wonne- und schlummerreich -
Warum, laut pochendes Herz,
Kannst nur du keine Ruhe finden?
Warum, heififlebernde Stirn,
Durchwirbelt so schlummerraubend
Und traumverscheuchend nur dich
Der Gedanken qualendes Heer?
Geruhigen Wandels zieh'n
Am Himmel oben die Sterne,
Und regungslos liegt die Stadt,
Die weite, weite Riesenstadt - denn siehe,
's ist Mitternacht und arm wie reich begluckte
Ohn' Unterschied des Traumgott's lockender Becher,
Der schwere, mohnumkranzte . . .
Du nur stohnst
Und wimmerst um Mitternacht in deine Kissen,
Unsel'ge, und weinst und briitest - denn
Ein Damon ist's, der finster und dennoch beruckend
Dein Lager umschwebt und Damonengefluster scheucht
Des Traumes Marchenboten aus deiner Nahe,
So dafi ihr lieblicher Reigen glanzlos zerstiebt
Und die Nachtunholde des Wahnsinns dich umkreisen.
Und winkt auch leuchtenden Auges dir
Das Zauberweib Phantasie mk den gold'nen Schwingen,
Dem Mohnkranz und hold verjiingenden Feuertrank
Der Begeist'rung - satanisch grinsend scheucht
Dein Boser Feind auch diese Trost'rin von hinnen
Und sinnbetorend ins Aug' dir blickend, weilt
So lang Unselige er an deinem Lager,
Bis du die Arme breitest, ans Herz ihn druckst
Und verlangend, sklavisch nur ihm entgegenatmest,
Ein Opfer, das willenlos sich selbst ergibt.
Dann breitet er die schwarzen Damonenflugel
Und schuttelt seiner Locken nachtliche Pracht,
Kiifit frostig Lieb' und Glauben dir aus der Seele,
Trauft leis' das Gift der Verzweiflung in deine Brust,
Zerfleischt mit krampfhaft zuckenden Raubtierkrallen
Dein Herz , umfangt dich briinstig wie ein Vampir
Und fliistert eisig lachelnd: «ich heifte Erkenntnis!»
2.
Mit ehernen Banden halt
Und kettet an Staub und Verwesung
Natur, deine Zeug'rin, dich fest;
Natur, das lockende Ungeheuer,
Bald lachelnd und sonnengoldig
Zu wutender Daseinsfreude dich spornend, bald
Entsetzen und Not gebarend,
Mit der Rute des Jammers dich peitschend ,
Doch immer vernichtend und ratselhaft, immer
Medusa und Sphinx zugleich!
Durch deine Pulse jagt
Und rast in fiebernden Takten
Ihr unbarmherz'ges Gesetz,
Das ew'ge Gesetz der Zerstorung;
Sie gab dir Wille und Kraft
Dich selbst zu vernichten - dich selbst
Zu retten aber vermagst du nie und nimmer!
An ihrem Triumphwagen zieh'n
Wir alle - keuchend, schweifibetrieft und dennoch
Auch sclig: denn als Fata morgana schaukelt
Die Hoffhung vor uns und das Gluck und jegliches Blendwerk,
Das uns zum Hohn sie geschaffen,
Und wir, das sehnsuchtsvergiftete Sklavenheer,
Ideale nennen! - So stiirmen in lechzender Eile
Und toller Jagd wir dahin, bis tuckisch
Die Kraft uns verlafit, der Odem schwindet und ferner
Denn je unser Ziel auf goldigen Wolken schwebt,
Bis hilflos und keuchend wir
Zusammenbrechen - dann jauchzt damonisch sie auf,
Dann ruft sie ihr grausames: «Evoe!» und lenkt
Zermalmend uber tausend Opfer hinweg
Die ehernen Speichen ihrer Biga!
3.
Welch grausamer Damon wohl
Den qualenden Liebesdrang
Ins pochende Herz uns geschrieben?
Welch tuckischer Hollenwahn
Es sehnend beben und toricht
Nach gottlicher Wonne lechzen und diirsten heifit,
Nach einem Unendlichen
In fiebernder Glut sich verzehren
Und uber dem brodelnden Sumpf
Der Endlichkeit das lockendste Marchenreich
Des Traumes erbau'n - ach! klagend und ungelost
Verhallt in Ewigkeit diese bange Frage . . .
Beriickend lachelt und winkt
In jenen Ratselstunden
Das Gottliche uns zu -
Allein wir wollen's auch haschen,
Auch fesseln, auch im Gewand der Verganglichkeit seh'n
Und rufen, ein zweites, torichtes Ich
An unser Schicksal kettend: «Gefunden - gefunden!»
Allein nur Gotter und Marchenhelden erquickt
Der Nektar ewiger Torhek,
Die kleinen Menschen lenkt Vernunft,
Und Vernunft, die gefraftige Riesin,
Sie nahrt und starkt sich nur
Von zertrummerten Idealen!
Entzaubert und frostelnd erwacht
Das Herz und die niichterne Alltagsseele,
Sie lachelt des Traum's, der eh'mals sie berauscht . . .
Den leuchtenden Stern der GottHchkeit,
Nicht stolz und titanisch konnte
Vom Himmel sie ihn reifien - nein, sie griff
Und langte, torichter als ein torichtes Kind,
Nach seinem triiben Widerschein
In der Pfutze der eigenen Gattung . . .
4.
Im Kreise der Lebenden geht
Und wandelt von Mund zu Mund
Ein schreckgefliistertes Wortchen -
Sein eherner Klang, er lafit
Die rosigen Wangen erbleichen,
Die Jubelhymnen des Wahns,
Die schillernden Lugenmarchen
Des Daseins werden ihm zerrissen, und
Verhallen mit ihm in Ewigkeit.
Die Dornenkrone des Leids,
Die Rosenkranze des Gluckes
Und Diademe des Ruhms -
Sie alle, alle umwindet,
Umstrickt und iiberwuchert
Des bleichen Todes Asphodill!
Wem seine Fittiche rauschen,
Der bebt, und wem seine hohle Stimme ertont,
Der hat zum letzten Mai gelogen . . .
Verwesung und Moder gart
In unsren Adern, Verwesung leitet uns
Nach ihrem Gesetz, und was da lebt und atmet,
Verwesung hat es geschaffen,
Verwesung zerstort es auch!
Ein schmutziger Wirbel voll Ratsel und Wahnsinn kreist
Das Leben, und unser Pygmaengeschlecht, es kreist
Mit ihm: in blinder Schwache, drolliger Wiirde
Und Ohnmacht . . .
Allsiegend und frei nur herrscht
Der Riese Tod: mit blinkendem Schwerte maht er
Die gleifiende Daseinsluge hinweg
Und spricht, in Ewigkeit
Auf Staub und Verwesung deutend,
Die einzige, ewige Wahrheit: «Es ist nichts!»
Gerade an einem solchen Beispiele, glaube ich, kann man erse-
hen, wohin die materialistisch-mechanische Weltauffassung fuhren
mufi. Wenn diese Weltanschauung die einzig tonangebende gewor-
den ware und die Menschen die Moglichkeit des Fiihlens behalten
hatten, dann hatte solch eine Stimmung, wie die aus diesen Dich-
tungen sprechende, im weitesten Umkreise die Menschen ergreifen
miissen und nur diejenigen, die gefuhllos weiter hatten leben wol-
len, nur diese Gefuhllosen hatten es vermeiden konnen, von einer
solchen Stimmung ergriffen zu werden.
Man lernt den Gang der Welt nicht durch jene blofi theoreti-
schen Gedanken kennen und in der richtigen Weise durchschauen,
mit denen sich die Menschen gewohnlich Weltanschauungen zim-
mern, sondern die Tragkraft einer Weltanschauung lernt man erst
kennen, wenn man sie einfhefien sieht in das Leben. Und ich mufi
sagen, es war ein tiefer Eindruck, als ich, es ist jetzt schon sehr lange
her, die mechanisch-materialistische Weltanschauung einziehen sah
in die geniale Seele - denn sie darf eine geniale Seele genannt
werden - der Marie Eugenie delle Grazie.
Man mufi aber auch die Vorbedingungen bedenken, die dazu
fuhrten, dafi ein menschliches Herz sich der mechanisch-materiali-
stischen Weltanschauung so gegenuberstellt. Marie Eugenie delle
Grazie ist ja schon ihrer Abstammung nach, ich mochte sagen, eine
kosmopolitische Erscheinung. Sie hat von ihren Vorfahren her Blut
aller moglichen Nationalitaten in ihren Adern, Die Leiden des Le-
bens hat sie schon in fruher Kindheit kennengelernt, und sie hat
auch in fruher Kindheit schon gelernt, wie man sich hinaufrankt,
um zu dem, was des Lebens aufierlichen Sinn bildet, etwas hinzuzu-
flnden, was dieses Leben durch eine hohere Kraft zu einem Hoheren
tragt; denn ihr Erzieher wurde ein katholischer Priester, der vor eini-
genjahren gestorben ist. Die Genialitat der delle Grazie gab sich da-
durch kund, dafi sie bereits in ihrem 16., 17. Jahre ein lyrisches Ge-
dichtbuch, ein umfassendes Epos, eine Tragodie und ein Novellen-
bandchen geschrieben hat. So viel man nach dieser oder jener Rich-
tung auch gegen diese Dichtungen haben mochte: Genialitat spricht
sich in ihnen in einer hinreifienden Art und Weise aus. Mir kamen
diese Dichtungen dazumal, als sie in den achtziger Jahren des vori-
gen Jahrhunderts erschienen waren, in die Hande, und gleichzeitig
hone ich durch allerlei Bekannte von delle Grazie sprechen. Ich hor-
te zum Beispiel, dafi der Asthetiker Robert Zimmermann, der eine
Asthetik und eine Geschichte der Asthetik geschrieben hat und ein
bedeutender Vertreter der Herbartschen Philosophenschule war -
jetzt sind die Herbartianer ausgestorben -, und der dazumal schon
ein alter Mann war, sagte: delle Grazie sei das einzige wirkliche
Genie, das er im Leben kennengelernt habe.
Allerlei Umstande brachten es dann dahin, daft ich mit delle
Grazie persdnlich bekannt und befreundet wurde und daft viel Welt-
anschauliches und auch sonstiges zwischen uns gesprochen worden
ist. Es war eine bedeutsame Lehre, auf der einen Seite zu sehen den
Erzieher der delle Grazie, den katholischen Priester, der, im Katho-
lizismus berufsmafiig drinnenstehend, sich zu einer Weltanschau-
ung durchgerungen hatte, die er nur mit Ironie und Humor aus-
sprach, wenn er intimer sprach, und auf der anderen Seite delle Gra-
zie selber. Schon als ich das allererste Gesprach mit ihr hatte, zeigte
es sich, daft etwas Tiefgrundiges gegeniiber Welt und Leben in ihr
war. Sie hatte infolge ihrer Erziehung durch den Priester die katholi-
sche Christologie kennengelernt, mit alien moglichen Lichtseiten,
die man kennenlernen konnte, wenn man Professor Milliner- das ist
dieser Priester - nahestand, der seinerseits auch tief in das Leben
hineingeschaut hatte. Das alles hatte sich in der delle Grazie so ge-
staltet, daft sie mit dem Weltbild, das ihr zunachst von seiten dieses
Priesters gegeben worden war - Sie miissen im Auge haben, daft ich
von einem siebzehnjahrigen Madchen spreche -, alles verband, was
das Leben an Ubel und Bosem, an Schmerz und Leid bringt, so daft
daraus die Idee einer Dichtung entstand, die sie mir in einem langen
Gesprache auseinandersetzte: sie wollte eine «Satanide» schreiben.
Sie wollte zeigen, wie Leid und Schmerz in der Welt stehen auf der
einen Seite, und auf der anderen Seite jene Weltanschauung, die ihr
iiberliefert worden ist.
Nun fiel in eine solche Seele die materialistisch-mechanische
Weltanschauung hinein. Diese wirkt ja mit einer starken Uberzeu-
gungskraft, entfaltet eine Riesenkraft der Logik, so daft die Men-
schen ihr nur schwer entgehen konnen. Ich habe delle Grazie spater
gefragt, warum sie die «Satanide» nicht geschrieben habe. Sie sagte
mir, da sie nach der materialistisch-mechanischen Anschauung nicht
an Gott glaube und somit auch nicht an den Gegner des Gottes, den
Satan, konne sie aus der Wahrhaftigkeit ihres Gefuhles heraus die
Satanide nicht schreiben.
Aber sie hatte eine ungeheure Kraft des menschlichen Erlebens
und die pragte sie dann in dem grofien zweibandigen Epos «Robes-
pierre» aus, das ganz von solchen Stimmungen, wie Sie sie gehort
haben, durchzogen ist. Ich habe noch wahrend des Entstehens viele
Gesange von ihr selbst vorlesen horen. Zwei Frauen wurde es einmal
dabei iibel. Sie konnten das nicht zu Ende horen. Das ist charakteri-
stisch dafur, wie sich die Menschen Schleier vormachen. Sie glauben
an die Wissenschaft des Materialismus, aber wenn man ihnen die
Konsequenz vor Augen fuhren wurde, so wiirden sie ohnmachtig.
Die materialistische Weltanschauung macht die Menschen wirk-
lich schwach und feige. Sie schauen die Welt mit einem Schleier an
und wollen dabei noch Christen sein. Und das insbesondere erschien
spater Marie Eugenie delle Grazie als das Schlimmste im Dasein. Sie
sagte sich etwa folgendes: Alles ist nur wirbelnde Atome, durchein-
anderwirbelnde Atome. Was machen diese durcheinanderwirbeln-
den Atome? Sie ballen - nachdem sie sich zu Weltenkdrpern zusam-
mengeballt haben, nachdem sie Pflanzen haben wachsen lassen -,
sie ballen Menschen und Menschengehirne zusammen und in diesen
entstehen durch jenes Ballen von Atomen Ideale, Ideale von Schon-
heit, von allerlei Grofiem, von allerlei Gottlichem. Was ist das fur
ein furchtbares Dasein, sagte sie sich, wenn Atome wirbeln und so
wirbeln, daft sie den Menschen ein Dasein von Idealen vormachen.
Betrogen und verlogen ist das ganze Weltendasein. - So sagen eben
diejenigen, die nicht zu feige sind, die letzten Konsequenzen der
materialistisch-mechanischen Weltanschauung zu Ziehen. Delle
Grazie sagt: Ware sie wenigstens wahrhaftig, diese Welt durchein-
anderwirbelnder Atome, dann wiirden wir im Geiste vor uns haben
durcheinanderwirbelnde Atome. So aber betriigen uns die durchein-
anderwirbelnden Atome noch, liigen uns an, als ob es in der Welt
Ideale gabe.
Wenn man also erkennen gelernt hat, welche Konsequenzen das
menschliche Gemiit ziehen mufi, wenn es in Ehrlichkeit sich verhalt
zu der materialistisch-mechanischen Weltanschauung, dann hat
man wieder einen der Griinde fur das Arbeiten an einer spirituellen
Weltanschauung .
Denjenigen, die da immer sagen: Wir haben ja alles, wir haben
unsere Ideale, wir haben das, was das Christentum bisher gebracht
hat -, mufi erwidert werden: Hat man es denn nicht dadurch, wie
man sich verhalten hat, gebracht zu der machtigen mechanisch-mate-
rialisdschen Weltanschauung? Wollt ihr so fortmachen? -Diejenigen,
die die Unnotigkeit unserer Bewegung dartun wollen, weil von an-
deren Seiten dies oder jenes vorgebracht wird, die sollten sich besin-
nen, daft trotzdem diese anderen Seiten Jahrhunderte hindurch ge-
wirkt haben, die mechanistisch-materialistische Weltanschauung
grofi geworden ist. Es handelt sich eben darum, daft man das Leben
da, wo es in Wahrheit auftritt, zu erfassen bestrebt ist. Nicht darauf
kommt es an, was wir uns fur Gedanken machen, sondern darauf,
daft wir hinschauen auf die Tatsachen und uns von den Tatsachen
belehren lassen. Ich habe es 6ft er erwahnt, daft ich einmal in einer
Stadt einen Vortrag gehalten habe iiber das Christentum vom Stand -
punkte der Geisteswissenschaft. Da waren auch zwei Priester. Die
kamen nach dem Vortrage zu mir und sagten: Das ist j a alles schon
und gut, was Sie da sagen, aber so wie Sie es vortragen, das verstehen
ja nur einige wenige; das Richtigere ist doch, wie wir die Sache vortra-
gen, denn das ist fur alle Menschen. - Darauf konnte ich nichts an-
deres sagen als: Verzeihen Sie, aber gehen wirklich alle Menschen zu
Ihnen hin? Daft Sie glauben, es ist fiir alle Menschen, das entschei-
det nichts iiber die Sache, sondern was wirklich ist, und so werden
Sie nicht ableugnen konnen, daft zahlreiche Menschen nicht mehr
zu Ihnen hingehen. Und fiir diese wird bei uns gesprochen, weil die-
se auch den Weg zum Christus finden miissen. - So spricht man,
wenn man nicht den bequemen Weg wahlt, wenn man nicht einfach
die eigene Meinung fiir gut findet, sondern sich von den Tatsachen
leiten lafit.
Darum geniigt es auch nicht, wie Sie gestern sehen konnten, daft
man hintereinander die Satze einer solchen Schrift, wie die Wran-
gellsche, liest, sondern daft man daran ankniipft, was man ankniip-
fen kann. Ich mochte Ihnen dadurch ein Beispiel geben - und man
kann das auf verschiedene Art machen -, wie verschiedene Schriften
in unseren Zweigen besprochen werden konnen, und wie das, was in
unserer Geisteswissenschaft lebt, klar hervortreten kann dadurch, daft
wir es messen an dem, was in solchen Broschuren besprochen wird.
Das nachste Kapitel in Wrangells Broschure heilk:
Bildung der Begriffe
Das, was den Menschen umgibt, ist vielgestaltig. Jedes Ding ist
von dem anderen verschieden. Wenn mehrere Dinge auch in
manchen ihrer Eigenschaften ubereinstimmen, d.h. die gleichen
oder doch ahnliche Sinneseindrucke hervorrufen, so unterschei-
den sie sich mindestens in einem Attribut: Jedes Ding, das ich
durch meine Sinne gewahr werde, nimmt zur Zeit einen bestimm-
ten Raumesteil ein.
Zur grofteren Ubersichtlichkeit dieser vielgestaltigen Welt faftt
der Mensch ahnliche, d.h. mit gleichartigen Eigenschaften be-
haftete Dinge unter gemeinsamen Bezeichnungen zusammen.
Fiir diese gedanklich erzeugten Begriffe bildet er Worte. Auch
gleiche oder ahnliche Eigenschaften, wie z.B. rot, hart, warm,
heifi usw. , bezeichnet er durch Worte.
Hier spricht sich Herr von Wrangell iiber die Bildung von Begriffen
in einer Weise aus, die sehr popular ist und die sehr haufig so gege-
ben wird. Man sagt sich: Ich sehe eine rote Blume, eine zweite, eine
dritte rote Blume von bestimmter Gestalt und Anordnung der Blu-
nienblatter, und da ich diese gleich finde, so bilde ich mir iiber sie
zusammen einen Begriff. Ein Begriff ware also so gebildet, dafi ich
aus Verschiedenem das Gleiche zusammenfasse. Zum Beispiel der
Begriff «Pferd» ist dadurch gebildet, dafi ich auf bestimmte Weise
eine Anzahl von Tieren, die gewisse Ahnlichkeiten haben, in einen
einzigen Gedanken, in eine einzige Vorstellung zusammenfasse. Eben-
so kann ich es mit Eigenschaften machen. Ich sehe etwas mit einer
bestimmten Farbennuance, etwas anderes mit einer ahnlichen Far-
bennuance und bilde mir den Begriff von der Farbe «Rot».
Wer den Dingen genauer zu Leibe gehen will, mufi sich aber fra-
gen: Ist denn dieses wirklich der Weg der Begriffsbildung? Ich kann
jetzt nur Andeutungen machen, sonst wiirden wir durch die Schrift
niemals durchkommen, denn man kann eigentlich an jegliches Ding
die ganze Welt immer ankniipfen.
Zur Veranschaulichung dessen, wie Herr von Wrangell es dar-
stellt, dafi Begriffe gebildet werden, will ich ein geometrisches Bei-
spiel wahlen. * Nehmen wir an, wir hatten Verschiedenes gesehen in
der Welt und wir fanden das eine Mai etwas so begrenzt, das andere
Mai etwas so begrenzt, und das dritte Mai etwas so begrenzt und so
unzahlige Male weiter. Diese einander so ahnlichen Begrenztheiten
sehen wir haufig und nun wurden wir uns nach der Definition des
Herrn von Wrangell den Begriff «Kreis» bilden. - Aber bilden wir
wirklich nach so einander ahnlichen Begrenztheiten den Begriff
Kreis? Nein, den Begriff Kreis bilden wir uns erst, wenn wir folgen-
des anstellen: Hier ist ein Punkt, der eine gewisse Entfernung von
diesem Punkte hat. Da ist ein Punkt, der wieder die gleiche Entfer-
nung von jenem Punkte hat, und da ist wieder ein Punkt, der die-
selbe Entfernung hat und so weiter. Ich suche alle Punkte auf, die
dieselbe Entfernung haben von einem bestimmten Punkte. Wenn
ich diese Punkte verbinde, bekomme ich eine Linie, die ich Kreis
nenne, und den Begriff des Kreises bekomme ich, wenn ich sagen
kann: Der Kreis ist eine Linie, bei welcher alle Punkte gleich weit
vom Mittelpunkte entfernt sind. Und jetzt habe ich eine Formel
und das fuhrt mich zum Begriff. Das innere Erarbeiten, das innere
Konstruieren fuhrt in Wirklichkeit zum Begriff. Erst derjenige hat
ein Recht, von Begriffen zu sprechen, der auf diese Weise Begriffe
zu machen versteht, der nachzukonstruieren versteht, was draufien
in der Welt vorhanden ist. Den Begriff eines Pferdes finden wir
nicht dadurch, dafi wir hundert Pferde anschauen, um das ihnen
Glekhe herauszufinden, sondern das Wesen des Pferdes finden wir
dadurch, dafi wir es nachkonstruieren, und dann finden wir das
Nachkonstruierte in jedem Pferde.
Dieses Moment der Aktivkat, wenn man Vorstellungen, Begriffe
bildet, wird haufig vergessen. Auch in diesem Kapitel ist vergessen
worden, das Moment der inneren Aktivkat zu beriicksichtigen.
Das nachste Kapitel heifit:
* Hier wurde offensichtlich an der Tafel demonstriert; die Zeichnung ist nicht uberliefert.
Vorstellungen von Raum undZeit
Der Tastsinn in Verbindung mit dem Sehen erzeugt die Vorstel-
lung des Raumes. Das unmittelbare Erleben des Nacheinanders
von Empfindungen fuhrt uns zur Vorstellung der Zeit. Raum
und Zeit sind die Denkformen, in denen sich unsere Vorstellun-
gen von der Welt aufter uns gestalten, soweit wir sie durch unsere
fiinf Sinne wahrnehmen.
Die Vorstellung der Bewegung, als der Veranderung der Lage ei-
nes Dinges im Raume innerhalb eines Zeitabschnittes, ist gleich-
falls eine urspriingliche, zunachst durch die Bewegung des eige-
nen Korpers gegebene Vorstellung.
Wenn Dinge, die wir durch unsere Sinne wahrnehmen, inner-
halb eines gewissen Zeitabschnittes die gleichen Sinneseindriicke
in uns hervorrufen, so gewinnen wir die Vorstellung des «Seins»,
des Bestehens. Verandern sich dagegen die vom gleichen Ding
empfangenen Eindrucke, so gewinnen wir die Vorstellung des
«Geschehens».
Also in einer sauberen Weise, wie man sagt, sucht Herr von
Wrangell Vorstellungen zu gewinnen iiber die BegrifFe von Raum
und Zeit, von Bewegung, Sein und Geschehen. Nun wiirde es
hochst interessant sein zu studieren, wie in diesem Kapitel trotz-
dem alles, ich mochte sagen, «leicht geschurzt» ist. Es ware recht
gut fur viele - ich will nicht sagen, gerade fur Sie, meine lieben
Freunde, aber fur viele Menschen -, wenn sie sich iiberlegen wiir-
den, dafi ein sehr scharfsinniger Mann, ein ausgezeichneter Wissen-
schafter, sich solche Vorstellungen bildet, sich alle Miihe gibt,
iiber diese einfachen Begriffe Vorstellungen zu bilden. Minde-
stens viel von Gewissenhaftigkeit im Nachdenken kann man
daran kennenlernen. Und das ist wichtig; denn es gibt so viele
Menschen, die gar nicht das Bediirfnis haben, bevor sie iiber
alles mogliche, den Kosmos, nachdenken, sich zuerst einmal zu
fragen: Wie komme ich zu den einfachen Vorstellungen von Sein,
Geschehen und Bewegung? - Das ist den Menschen in der Regel
zu langweilig.
Nun, ein tieferes Eingehen wiirde zeigen, da# die Begriffe, wie
sie Herr von Wrangell bildet, doch recht leicht geschiirzt sind. So
zum Beispiel sagt Herr von Wrangell so ohne weiteres: «Der Tastsinn
in Verbindung mit dem Sehen erzeugt die Vorstellung des Raumes.»
Denken Sie doch nur einmal, meine lie ben Freunde, wenn Sie sich
nicht der Schreibtafel bedienen, um einen Kreis aufzuzeichnen,
sondern den Kreis in der Phantasie zeichnen, was hat damit der
Tastsinn zu tun, was hat damit das Sehen zu tun? Kann man dem-
gegeniiber noch sagen: «Der Tastsinn in Verbindung mit dem Sehen
erzeugt die Vorstellung des Raumes»? Man kann es nicht. Es konnte
allerdings nun jemand einwenden, dafi man aber, bevor man in der
Phantasie einen Kreis zeichnen kann, die Vorstellung des Raumes
gewonnen haben mufi, und die gewinne man eben durch den Tast-
sinn in Verbindung mit dem Sehen. - Ja, da handelt es sich doch
darum, einmal zu bedenken, was wir uns fur eine Vorstellung bilden
in dem Augenblicke, wo wir etwas durch den Tastsinn angreifen.
Denken wir uns nur mit dem Tastsinn begabt und dafi wir etwas an-
greifen, so bilden wir uns die Vorstellung: Das Angegriffene ist au-
fier uns. Nun nehmen Sie diesen Satz: «Das Angegriffene ist aufier
uns.» In dem «aufier uns» liegt der Raum, das heifit, wenn wir einen
Gegenstand betasten, so miissen wir, damit wir das Tasten nur aus-
fuhren konnen, den Raum schon in uns haben. - Das war es, was
Kant dazu gebracht hat, anzunehmen, dafi alien aufieren Erfahrun-
gen, also auch der Erfahrung des Tastens und Sehens, der Raum vor-
ausgehe, und ebenso in bezug auf die Zeit, dafi sie der Mannigfaltig-
keit von Prozessen in der Zeit vorausgehe; dafi Raum und Zeit die
Vorbedingungen der sinnlichen Wahrnehmung sind.
Im Grunde genommen konnte ein solches Kapitel iiber Raum
und Zeit nur jemand schreiben, der nicht nur grundliche Kantstu-
dien gemacht hat, sondern auch uberhaupt den ganzen Verlauf der
Philosophic kennt; sonst wird man in bezug auf Raum und Zeit im-
mer leichtgeschurzte Begriffe haben. Genauso ist es auch mit den
anderen Begriffen, den Begriffen von «Sein» und von «Geschehen».
Da konnte leicht gezeigt werden, wie der Begriff des Seins uber-
haupt nicht bestehen konnte, wenn die Definition, die Herr von
Wrangell gibt, richtig ware. Denn er sagt: «Wenn Dinge, die wir
durch unsere Sinne wahrnehmen, innerhalb eines gewissen Zeitab-
schnittes die gleichen Sinneseindriicke hervorrufen, so gewinnen wir
die Vorstellung des <Seins> , des Bestehens. Verandern sich dagegen
die vom gleichen Ding empfangenen Eindriicke, so gewinnen wir
die Vorstellung des <Geschehens> .» Ebensogut konnte man sagen:
Wenn wir sehen, dafi sich am gleichen Dinge die Empfindungsein-
drikke verandern, so miissen wir voraussetzen, dafi dieses Verandern
an einem Sein haftet, an einem Sein vorkommt. Wir konnten eben-
sogut behaupten, dafi erst an der Veranderung das Sein erkannt wer-
de. Und wer behaupten wollte, zum Begriffe des Seins kame man
nur, wenn innerhalb einer gewissen Zeit gleiche Eindriicke hervorge-
rufen werden - denken Sie nur! -, wenn wir so zum Begriffe des
Seins kommen wollten, dann ware ja wohl moglich, dafi wir iiber-
haupt nicht zu dem Begriffe des Seins kommen konnten; es gabe
iiberhaupt nichts, was man mit dem Begriffe des Seins verbinden
konnte.
Wir konnen gerade an diesem Kapitel «Vorstellungen von Raum
und Zeit» lernen, wie man mit grofiem Scharfsinn und aufierordent-
lich ehrlicher Wissenschaftlichkeit Begriffe finden kann, die an alien
moglichen Orten brikhig sind. Will man sich Begriffe bilden, die
vor dem Leben ein wenig bestehen konnen, dann mull man sie so
gewonnen haben, dafi sie in bezug auf ihren Lebenswert von uns
wenigstens einigermafien gepriift worden sind.
Sehen Sie, aus diesem Grunde sagte ich, ich hatte nur den Mut
gefunden, iiber die letzten Szenen des «Faust» zu Ihnen zu spre-
chen, weil ich seit mehr als dreifiig Jahren immer wieder und wieder
in den letzten Szenen des «Faust» gelebt habe, die Begriffe im Leben
zu erproben versuchte. Das ist der einzige Weg, giiltige Begriffe
von nichtgiiltigen zu unterscheiden; nicht logisches Spintisieren,
nicht wissenschaftliches Theoretisieren, sondern der Versuch, mit
den Begriffen zu leben, zu untersuchen, wie sich die Begriffe be-
wahren, indem wir sie ins Leben einfuhren und von dem Leben uns
die Antwort geben zu lassen, das ist der notwendige Weg. Das setzt
aber voraus, dafi wir jederzeit geneigt sind, uns nicht blofi den logi-
schen Einbildungen hinzugeben, sondern uns dem lebendigen Stro-
me des Lebens einzugliedern. Das hat mancherlei im Gefolge; vor
alien Dingen, dafi wir lernen, daran zu glauben, daft wenn jemand
scheinbar logische Beweise fur dieses oder jenes vorbringen kann -
ich habe das oftmals erwahnt -, er damit fiir den Wert der Sache
durchaus noch nichts vorgebracht hat.
Das nachste Kapitel heifit:
Das Kausalitatsprinzip
Das unserem Denken zu Grunde liegende Kausalitatsprinzip
zwingt uns anzunehmen, dafi, wenn etwas geschieht, d.h. eine
Veranderung vor sich geht, eine Ursache das bewirkt haben mufi.
Alles verniinftige Denken beruht auf dem «Satz vom zureichen-
den Grunde ». Jedes Ding hat einen Grund, weshalb es ist; jede
Veranderung des Bestehenden wird durch eine Ursache be-
wirkt.
Dieser Satz ist kein Erfahrungssatz, er geht aller Erfahrung vor-
aus, ja, er ermoglicht sie erst, weil ohne die in ihm ausgedruckte
Voraussetzung kein zusammenhangendes Denken moglich ist.
Herr von Wrangell stellt sich hier auf den Standpunkt des soge-
nannten Kausalkatsprinzipes. Er sagt: Alles verniinftige Denken
mufi bei allem, was uns entgegentritt, annehmen, dafi dem eine
Ursache zugrunde liegt. Man kann in gewisser Weise mit diesem
Kausalitatsprinzip einverstanden sein. Allein, wenn man seine Be-
deutung fur unsere lebensvolle Weltauffassung ausmessen will,
dann mufi man viel, viel feinere Begriffe als dieses formale Kausa-
litatsprinzip ins Feld fiihren.
Denn sehen Sie, um von einem Dinge eine Ursache oder einen
Komplex von Ursachen angeben zu konnen, ist viel mehr notwen-
dig, als blofi gewissermafien den Faden von Ursache und Wirkung zu
verfolgen. Was besagt im Grunde genommen das Ursachenprinzip?
Es sagt: Ein Ding hat eine Ursache. Das Ding, das ich hier zeichne
[die Zeichnung ist nicht uberliefert], hat eine Ursache, diese Ursache
hat wieder eine Ursache und so weiter; man kann so fortmachen bis
iiber den Anfang der Welt hinaus und ebenso kann man es auch mit
der Wirkung machen. Gewift ist das ein ganz verniinftiges Prinzip,
aber man kommt doch nicht weit damit. Denn wenn man zum Bei-
spiel die Ursache des Sohnes sucht, so mufi man gewift Ursachen-
komplexe bei Vater und Mutter suchen, um dann sagen zu konnen,
diese sind die Ursachen des Kindes. Aber zweifellos ist es auch so,
daft zwar solche Ursachen da sein konnen, aber keine Wirkung ha-
ben, namlich wenn Frau und Mann keine Kinder haben. Dann sind
die Ursachen zwar da, haben aber keine Wirkung. Bei der Ursache
kommt es eben darauf an, daft sie nicht blofi Ursache ist, sondern
daft sie auch etwas verursache. Es ist ein Unterschied zwischen «Ursa-
che sein» und «verursachen». Aber auf so feine Unterschiede lassen
sich selbst die Philosophen unserer Zeit noch nicht ein. Wer aber die
Dinge ernst nimmt, mufi sich mit solchen Unterschieden auseinan-
dersetzen. In Wirklichkeit handelt es sich nicht darum, daft Ur-
sachen da sind, sondern daft sie etwas verursachen. Begriffe, die
solcherart bestehen, brauchen noch nicht der Wirklichkeit zu ent-
sprechen, sondern man kann sich mit ihnen einer grofien Phantasie
hingeben.
Grundverschieden davon ist Goethe s Weltanschauung, die nicht
zu den Ursachen geht, sondern zu den Urphanomenen. Das ist et-
was ganz anderes. Denn Goethe fuhrt irgend etwas, was als Erschei-
nung, das heifit als Phanomen in der Welt existiert - sagen wir, daft
sich im Prisma gewisse Farbenserien zeigen -, das fuhrt er zuriick auf
das Urphanomen, auf die Zusammenwirkung von Materie und
Licht, oder wenn wir die Materie als Reprasentant vom Dunkeln
nehmen, auf Dunkelheit und Licht. Genauso geht er auf das Urpha-
nomen der Pflanze, des Tieres und so weiter ein. Das ist eine Welt-
anschauung, die sich den Tatsachen stellt und nicht blofi logisch, an
dem Faden der Logik die Begriffe weiterspinnt, sondern die Tat-
sachen so gruppiert, daft sie eine Wahrheit aussprechen.
Versuchen Sie zu lesen, was Goethe in seinem Aufsatz «Der Ver-
such als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt» geschrieben hat
und auch das, was ich als Erganzung zu diesem Aufsatz veroffentli-
chen konnte, und versuchen Sie auch zu lesen, was ich in meinen Ein-
leitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kursch-
tiers «Deutsche National-Literatur» gesagt habe, dann werden Sie
sehen, daft Goethes Naturanschauung auf etwas ganz anderem be-
ruht als die der modernen Naturwissenschafter. Wir miissen die
Erscheinungen nehmen und sie nicht so gruppieren, wie sie in der
Natur da sind, sondern so, daft sie uns ihre Geheimnisse ausspre-
chen. Aus den Phanomenen das Urphanomen zu finden, das ist das
Wesentliche.
Das wollte ich auch gestern andeuten als ich sagte, daft man in die
Tatsachen hineingehen muft. Was unsereiner denkt iiber die mecha-
nisch-materialistische Weltanschauung, darauf kommt es wenig an.
Aber wenn man zeigen kann, wie im Jahre 1872 einer ihrer Vertreter
vor den versammelten Naturforschern zu Leipzig stand, der sagte:
Zuriickfuhrung alles Naturgeschehens auf Bewegungen von Atomen
sei die Aufgabe der Naturwissenschaft -, dann zeigt man dadurch
auf eine Tatsache, gleichsam auf ein Urphanomen des geschichtli-
chen Werdens hin. Die Zuriickfuhrung des geschichtlichen Werdens
auf Urphanomene zeigt man, wenn man auf das hinweist, was Du
Bois-Reymond ausgesprochen hat, denn das ist ein Urphanomen im
materialistisch-mechanischen Weltanschauungsprozefi .
Wenn man so vorgeht, dann lernt man nicht mehr wie in einem
Glasraum zu denken, sondern so zu denken, daft man zum Instru-
ment wird fur die Tatsachen, die ihre Geheimnisse aussprechen, und
man kann dann an seinem Denken erproben, ob es wirklich mit den
Tatsachen konform geht.
Wahrhaftig, nicht um zu renommieren, sondern um moglichst
Selbsterlebtes zu erzahlen, will ich folgendes anfuhren. Ich rede lie-
ber von erlebten Begriffen als von allerlei erdachten. Wer durchaus
glauben will, daft das, was ich jetzt sage, gesagt ist, um zu renom-
mieren, der mag es glauben, aber es ist nicht so.
Als ich in den achtziger Jahren die Weltanschauung Goethes dar-
zustellen versuchte, habe ich aus dem heraus, was man findet, wenn
man sich hineinlebt, gesagt: Goethe muft einmal einen Aufsatz ge-
schrieben haben, der das Intimste seiner naturwissenschaftlichen
Anschauung ausspricht. Und ich sagte, nachdem ich den Aufsatz
nachkonstruiert hatte, dieser Aufsatz muft, wenigstens in Goethes
Kopf, dagewesen sein. - Sie finden das in meiner Einleitung zu
Goethes naturwissenschaftlichen Schriften. Sie finden da auch den
nachkonstruierten Aufsatz. Ich kam dann in das Goethe- Archiv und
da fand sich denn auch der Aufsatz tichtig so, wie ich ihn konstruiert
hatte. Man mufi also mit den Tatsachen gehen. Wer die Weisheit
sucht, der lalk die Tatsachen sprechen. Das ist allerdings das Un-
bequemere, denn mit den Tatsachen mufi man sich beschaftigen,
mit den Gedanken, die so kommen, braucht man sich nicht zu be-
schaftigen.
Das nachste Kapitel heifit:
Anwendung der Vorstellung der Willkiir auf die Umivelt
Da unsere Empfindung dasjenige ist, von dem wir, als dem un-
mittelbar Gegebenen, bei allem Denken ausgehen, so beurteilen
wir auch das, was wir als Aufienwelt ansprechen, zunachst nach
dem, was in uns vorgeht.
Wenn ich Ihnen «Wahrheit und Wissenschaft» vorlesen wiirde, so
konnte ich Ihnen zeigen, welches der richtige Gedanke, die richtige
Auffassung ist und wie hier wieder ein leichtgeschiirztes Denken
vorliegt. Ich mochte erstens wissen, wie es jemals eine Mathematik
geben wiirde, wenn wir bei allem unserem Denken von unseren
Empfindungen ausgehen wiirden. Dann wiirden wir niemals zu
einer Mathematik kommen konnen. Denn was soli unsere Empfin-
dung sein bei der Frage: Wie grofi ist die Summe der beiden Kathe-
tenquadrate bei einem rechtwinkligen Dreieck in bezug auf das
Quadrat der Hypotenuse? Aber Wrangell meint: «Da unsere Emp-
findung dasjenige ist, von dem wir, als dem unmittelbar Gegebe-
nen, bei allem Denken ausgehen, so beurteilen wir auch das, was
wir als Aufienwelt ansprechen, zunachst nach dem, was in uns
vorgeht. » - Man kann nicht viel mit diesem Satz anfangen. Wir
wollen weiter sehen:
Wir haben das Bewufitsein, dafi diejenigen Veranderungen in
der Umwelt, welche wir selbst bewufit durch Bewegungen unse-
rer Gliedmaften hervorbringen, durch innere Vorgange hervor-
gerufen werden, die wir Willensimpulse nennen. Deshalb setzt
der unbefangene Mensch auch bei anderen Veranderungen der
Umwelt zunachst ahnliche Ursachen voraus, d.h. er nimmt an,
daft auch sie durch Willensimpulse von Wesen, die ihm ahnlich
sind, verursacht werden. Die Mythologien aller Volker sind die
Aufierungen dieser anthropomorphischen Belebung der Natur,
und der Glaube an geistige Wesenheiten, welcher auch jetzt
noch vielen Menschen zur Erklarung vieles Geschehens in der
Umwelt dient, hat den gleichen Ursprung. Endlich zeigt die Be-
obachtung des Kindes, dafi es sogar leblosen Gegenstanden ein
Wollen, ahnlich dem seinen, zuspricht. Es stofit sich am Tisch
und schilt den Tisch dieser Unart wegen.
Ich habe ofter schon gesagt: das Kind stofit sich am Tisch und prii-
gelt den Tisch, weil es einen Willen hineinversetzt. Es beurteilt den
Tisch als seinesgleichen, weil es bei sich noch nicht die Vorstellung
des Tisches entwickelt hat. Es ist genau das Umgekehrte der Fall,
und an dieser Verwechslung krankt auch das nachste Kapitel:
Beobachtung gleichmafiig verlaufender Erscheinungen
Wenn daher zunachst vieles Geschehen vom Menschen auf freie
Willensimpulse zuruckgefuhrt wird, so zeigt ihm doch die tag-
liche Beobachtung, daft bezuglich mancher Erscheinungen er mit
Sicherheit auf eine regelmafiige, ihm bekannte Wiederholung
rechnen kann. Er weifi zum Beispiel, dafi die Sonne, nachdem sie
im Westen untergegangen, am nachsten Tage im Osten wieder
erscheinen wird; dafi damit Licht und Warme zusammenhangt.
Er weifi, dafi die Jahreszeiten in ihrem regelmafiigen Verlauf das
Leben der Pflanzen beeinflussen usw. Dieses Wissen befahigt
den Menschen, sein Tun zweckmafiig danach einzurichten. Er fin-
det bald, dafi er um so besser sich in Einklang mit der Natur set-
zen kann, je genauer er sie beobachtet, je mehr Regelmafiig-
keiten er in ihr entdeckt.
Wenn man auf diese Weise von den Regelmafiigkeiten in der Na-
tur sprechen will, dann darf man nicht aufier acht lassen, dafi wir in
ganz verschiedener Art von solchen Regelmafiigkeiten sprechen. Ich
habe in «Wahrheit und Wissenschaft» darauf aufmerksam gemacht.
Nehmen wir zum Beispiel an: Ich ziehe mich am Morgen an, gehe
ans Fenster und sehe drauften einen Menschen vorbeigehen. Am
nachsten Morgen ziehe ich mich wieder an, schaue wieder zum Fen-
ster hinaus, und der Mensch geht wieder vorbei. Am dritten Morgen
geschieht dasselbe und am vierten wieder. Da sehe ich eine Regel-
maftigkeit. Das erste, was ich tue, ist das Anziehen, dann das Gehen
zum Fenster; das nachste ist, daft ich den Menschen da drauften ge-
hen sehe. Ich sehe eine Regelmafiigkeit, denn die Vorgange wieder-
holen sich. Also bilde ich mir ein Urteil und dieses miiftte lauten:
Weil ich mich anziehe, und weil ich aus dem Fenster hinausschaue,
darum geht der Mensch da drauften vorbei. - Wir bilden uns solche
Urteile naturlich nicht, weil es verriickt ware. Aber in anderen Fallen
scheint es so, als ob wir es taten; aber in Wirklichkeit tun wir es auch
dann nicht. Aber wir bilden uns Begriffe, und aus der inneren Kon-
struktion der Begriffe finden wir, daft eine innere Gesetzmafiigkeit
in den Erscheinungen steckt. Und weil ich nicht konstruieren kann
eine Kausalitat zwischen meinem Anziehen, dem Zum-Fenster-
Hinaussehen und dem, was da drauften vorbeigeht, so erkenne ich
auch keine Kausalitat an. Das Genauere hieruber finden Sie in
«Wahrheit und Wissenschaft». Sie finden da alle Voraussetzungen,
auch die von David Hume dargestellte, daft wir aus Wiederholungen
heraus etwas iiber die Gesetzmaftigkeit der Welt gewinnen konnen.
Das nachste Kapitel heiftt:
Wesen aller Wissenschaft
Das ist wo hi der Anfang aller Wissenschaft, deren Wesen darin
besteht, Tatsachen der Erfahrung iibersichtlich zusammenzufas-
sen, um aus ihnen Regeln zu entnehmen, die den Menschen be-
fahigen, im voraus zu wissen, was geschehen wird. Deshalb ent-
halt jede Wissenschaft einen beschreibenden Teil, die ubersicht-
liche Zusammenstellung von Tatsachen, und einen theoretischen
Teil, das Entnehmen von Regeln aus diesen Tatsachen und die
aus diesen Regeln zu ziehenden Folgerungen.
Goethe hat gegen solche Folgerungen eingewandt: Brauchte denn
etwa ein Galilei viele Erscheinungen wie die schwingende Kirchen-
lampe im Dome zu Pisa zu sehen, um zu seinem Gesetz des Falles zu
kommen? Nein, er erkannte das Gesetz, nachdem er diese Erschei-
nung gesehen hatte. Da ging ihm die Sache auf. Nicht aus der Wie-
derholung der Tatsachen, sondern aus der innerlich erlebten Kon-
struktion der Tatsachen erfahren wir etwas iiber das Wesen der
Dinge. Es war ein Grundirrtum der neueren Erkenntnistheorie, an-
zunehmen, dafi wir durch das Zusammenfassen der Tatsachen ir-
gend etwas wie die Naturgesetze gewinnen konnen. Es widerspricht
das so offenkundig allem wirklichen Gewinnen von Naturgesetzen,
und trotzdem wird es immer wieder und wieder wiederholt.
Das nachste Kapitel:
Sternenkunde , die alteste Wissenschaft
Wenn wir Umschau halten im unermefllichen Gebiete dessen,
was wir durch unsere Sinne wahrnehmen, so finden wir in keiner
Gruppe von Erscheinungen die Gesetzmafiigkeit des Geschehens
so auffallig, so leicht zu entdecken und auszudrucken, wie in der
scheinbaren Bewegung der Gestirne. Es ist darum begreiflich,
dafi die Himmelskunde die alteste aller auf Sinneswahrnehmun-
gen begriindeten Wissenschaften ist.
Es ist vor allem die gleichmafiige, sich Tag fur Tag wiederholende
scheinbare Bewegung der Gestirne, welche den aufmerksamen
Beschauer fesselt, ihn zur Beobachtung anregt und zur Bildung
einer anschaulichen Vorstellung drangt. In den wolkenlosen Ge-
bieten Vorderasiens und Nordafrikas waren die aufieren Bedin-
gungen besonders gunstig zur Erforschung der Himmelserschei-
nungen. Dem unmittelbaren Sinneseindruck folgend, nahmen
die Astronomen des Altertums an, dafi die zahllosen Fixsterne,
die in ihrer gegenseitigen Stellung unverandert bleiben, an eine
durchsichtige aber feste Himmelskugel befestigt seien, in deren
Mittelpunkt die Erde ruht. Die sich gleichmafiig um eine Achse
drehende Himmelskugel gab eine anschauliche Vorstellung des
wahrgenommenen Vorganges.
Das Kapitel heilk also «Sternenkunde, die alteste Wissenschaft».
Jetzt miifite man zuerst eigentlich eingehen darauf, wie die alteste
Sternenkunde war. Derm da kommt vor alien Dingen in Betracht,
dafi die alteste Sternenkunde so war, dafi man nicht auf die Regel-
mafiigkeit gesehen hat, sondern auf den Willen der geistigen Wesen,
die die Bewegungen bewirken. Der Verfasser hat aber die Sternen-
kunde von heute im Auge und stempelt diese zur altesten Wissen-
schaft. Manchmal ist es wirklich notwendig, in seiner Methode ganz
ungeschminkt, das heifit mit keiner geschminkten Methode der
Wahrheit nachzugehen. Und wenn das Kapitel hier auf Seite 13
heifit: «Sternenkunde, die alteste Wissenschaft», so vergleiche ich
das - weil ich bei den Tatsachen bleibe und nicht mir Gedanken
mache - mit dem, was auf Seite 3 stent . Da heilk es, «dafi ich mei-
nem Studium nach Astronom bin». Vielleicht konnte es sein, dafi
einer, der Mathematiker oder Physiologe ist, zu einer anderen An-
schauung kommen wurde; man darf also das, was auf Seite 3 steht,
nicht vergessen. Es ist von grofier Bedeutung, auf die subjektiven
Motive bei einem Menschen viel mehr hinzuweisen, als man das ge-
wohnlich tut; denn diese subjektiven Motive erklaren meist erst das-
jenige, was zu erklaren ist. Aber in bezug auf die subjektiven Mo-
tive sind wirklich die Menschen ganz eigenartig. Sie wollen sich
selber moglichst wenig von subjektiven Motiven gestehen. Ich habe
schon ofter einen Herrn erwahnt, den ich kennengelernt hatte und
der da sagte, dafi es ihm, indem er dieses oder jenes tut, vor alien
Dingen darauf ankame, nicht dasjenige zu tun, was er nach seiner
personlichen Vorliebe tun will, sondern dasjenige, was am wenigsten
seiner personlichen Vorliebe entspricht, was er aber ansehen miisse
als seine ihm von der geistigen Welt auferlegte Mission. Es hat
nichts genutzt, ihm klarzumachen, daft er sich das Fingerablecken
auch zu seiner geistigen Mission rechnen miisse, wenn er sich sagt:
Ich tue alles nach meiner mir von der geistigen Welt auferlegten
Mission. - Er maskierte das aber, denn es gefiel ihm besser, wenn
er als strenges Pflichtgefuhl hinstellen konnte, was er so furcht-
bar gern tat.
Das nachste Kapitel:
Gleichmafeige Bewegung
Wenn wir von Gleichformigkeit in der Bewegung eines Objektes
reden, so meinen wir damit, dafi der betreffende Gegenstand in
gleichen Zeitabschnitten gleiche Raumesteile durchlauft.
Erinnern Sie sich an den Vortrag von der Geschwindigkeit, den ich
hier einmal gehalten habe. [In diesem Band.]
Um das aber zu ermitteln, geniigt nicht die blofie Wahrneh-
mung; man mufi imstande sein, sowohl Raumesteile wie auch
Zeitabschnitte zu messen. Erst wenn wir durch Messen, d.h.
durch Vergleichen mit einer unveranderlichen, als Einheit ge-
wahlten, gleichartigen Grofie, sowohl Raumesteile wie auch Zeit-
abschnitte in Zahlen ausdriicken konnen, erst dann kann die
tatsachliche Gleichformigkeit einer Bewegung, so wie auch die
der Grofie nach stets gleiche Wirkung einer bestimmten Ursache
erfahrungsmafiig nachgewiesen werden.
Hier beginnt der gelehrte Wissenschafter zu sprechen. Sie brauchen
nur ein wenig Umschau zu halten, welches Verlangen die Wissen-
schafter durchdringt, nach Objektivitat dadurch zu streben, daft
man milk, was unabhangig ist vom subjektiven Menschen, dafi man
strebt, objektive Mafistabe anzuwenden. Das geschieht am objektiv-
sten, wenn wir wirklich messen. Daher gilt ja auch als wirkliche
Wissenschaft das, was durch Messen gewonnen wird. Daher spricht
Herr von Wrangell im nachsten Kapitel vom Messen selber.
Das Messen
Jeder Mefioperation liegt die Voraussetzung zugrunde, dafi das
als Einheit gewahlte Mafi, zum Beispiel ein Meter, ein Gramm,
eine Sekunde usw., unveranderlich sei. Bedingungslos konnen
wir das von unseren Mafien nicht nachweisen, wohl aber sicher
sein, daft unsere Mefioperationen in gewissen, von uns erkenn-
baren Grenzen rich tig sind. Es sei zur Erlauterung des Gesagten
ein anschauliches Beispiel angefuhrt: Wir wollen die Lange zweier
Gegenstande vergleichen und messen sie dazu mit dem gleichen
Meterstab, voraussetzend, dafi er seine Lange beibehalt. Wir wis-
sen aber, dafi alle Korper sich unter dem Einflufi der Temperatur,
Feuchtigkeit usw. verandern, unser Meterstab also auch langer
oder kiirzer geworden sein kann. Ohne die Grofie der mutmafi-
lichen Veranderung zu kennen, haben wir jedoch die begriindete
Uberzeugung, dafi die Veranderung in so kurzer Zeit die Grofie
von, sagen wir 1 mm nicht erreicht haben kann. Wir konnen also
sicher sein, bei diesem Messen keinen Fehler begangen zu haben,
der auf jeden gemessenen Meter 1 mm iibersteigt. Durch eine
solche Mefioperation haben wir eine empirische Tatsache gewon-
nen - in unserem Falle das Verhaltnis zweier Langen die fur
uns Gultigkeit hat in den durch Kritik festzustellenden Grenzen
der Genauigkeit.
Es ist dies ein sehr schones Kapitelchen, wo anschaulich gemacht
wird, wie durch Messen zunachst etwas uber Grofienverhaltnisse aus-
gesagt werden kann.
Das nachste Kapitel:
Das den Uhren zugrunde liegende Prinzip
Ahnlich verhalt es sich mit dem Messen von Zeitraumen. Die da-
zu dienenden Instrumente, die Uhren, beruhen im Wesen auf
der Uberzeugung, dafi gleiche Ursachen gleiche Wirkungen her-
vorbringen. Die Alten bedienten sich dazu meistens der Wasser-
uhren (Klepsydren), bei denen das Ausfliefien von Wasser aus ei-
nem Behalter unter moglichst gleichformige Bedingungen ge-
bracht wurde (der Wasserstand auf gleicher Hohe gehalten, die
Ausflufirohre von bestimmter Form usw.), und aus der Menge
des entstromten Wassers schlofi man auf die Grofie des Zeit-
abschnittes. Unsere Pendeluhren beruhen auf der Wahrneh-
mung, dafi die Geschwindigkeit einer Pendelschwingung unter
sonst gleichen Bedingungen von der Lange des Pendels abhangt.
Indem man dafur sorgt, dafi die Lange moglichst gleich bleibt,
dafi die Widerstande moglichst gering seien, die Kraft, welche sie
iiberwindet, gleichmafiig wirke, erreicht man einen gleichmafii-
gen Gang einer Uhr. Es gibt Methoden, um diesen Gang zu prii-
fen, wobei man genau angeben kann, um wieviel im Hochst-
mafi die Uhr im Laufe, z.B. eines Tages, zu viel oder zu wenig
gelaufen ist.
Sehen Sie, dieses Kapitel ist deshalb so gut, weil man sich in ein-
fachen Begriffen einmal ins Bewufitsein bringen kann, wie wir im
Leben gleichsam abkurzen. Wir konnen das leicht einsehen, wenn
wir zunachst bei den alten Uhren, bei den Wasseruhren bleiben.
Nehmen Sie an, ein Mann, der sich der Wasseruhr bedient hat,
hatte gesagt: Ich habe zu dieser Arbeit drei Stunden gebraucht. - Was
heifit das? Man meint, so etwas versteht jeder Mensch. Aber man be-
denkt nicht, daft man dabei schon sich auf gewisse Voraussetzungen
sttitzt. Denn der Betreffende hatte eigentlich sagen miissen, wenn er
Tatsachen ausgedriickt hatte: Wahrend ich gearbeitet habe, ist vom
Anfang bis zum Ende meiner Arbeit so und so viel Wasser ausge-
flossen. Statt dafi wir nun immer gesagt hatten: Vom Anfang bis
zum Ende meiner Arbeit ist so und so viel Wasser ausgeflossen,
haben wir das Ausfliefien des Wassers mit dem Gang der Sonne
verglichen und haben eine Abkiirzung, die Formel gebraucht: ich
habe drei Stunden gearbeitet. Diese Formel gebrauchen wir dann
weiter. Wir glauben etwas Tatsachliches im Sinn zu haben, aber wir
haben einen Gedanken ausgelassen, namlich, so und so viel ist aus-
geflossen von dem Wasser. Wir haben nur den zweiten Gedanken
als Abbreviatur. Aber indem wir uns die Moglichkeit gegeben ha-
ben, dafi eine solche Tatsache formelhaft wird, entfernen wir uns
von der Tatsache. Und nun denken Sie einmal, dafi wir im Leben
nicht nur eine Arbeit und eine Formel zusammenbringen, sondern
dafi wir uberhaupt in Formeln reden, richtig in Formeln reden. Den-
ken Sie zum Beispiel nur, was es heifit: «fleifiig sein». Wenn wir auf
die Tatsachen zumckgehen, so ist das eine ungeheure Menge von
Tatsachen, die der Formel «fleifiig sein» zugrunde liegen. Wir ha-
ben vieles geschehen sehen und es verglichen mit der Zeit, in
der es geschehen kann, und so sprechen wir von «fleifiig sein».
Ein games Heer von Tatsachen ist darin enthalten, und oft spre-
chen wir solche Formeln aus, ohne dafi wir auf die Tatsachen
reflektieren.
Wenn wir wieder auf die Tatsachen kommen, so haben wir das
Bediirfnis, die Gedanken lebensvoll zu fassen und nicht in nebu-
losen Formeln zu sprechen. Ich horte einmal einen Professor vor-
tragen, der begann ein Kolleg iiber Literaturgeschichte, indem er
sagte: Wenn wir uns zu Lessing wenden, so wollen wir, um seinen
Stil ins Auge zu fassen, zunachst uns fragen, wie Lessing sich Gedan-
ken iiber die Welt zu machen pflegte, wie seine Art zu arbeiten war,
wie er sie zu verwenden gedachte und so weiter. Und nachdem er
eine Stunde so gefragt hatte, sagte er: Meine Herren, ich habe Sie in
einen Wald von Fragezeichen gefiihrt! - Nun denken Sie sich aber
einmal einen «Wald von Fragezeichen», stellen Sie sich vor, in die-
sem Wald von Fragezeichen wollen Sie spazieren gehen; denken Sie
sich das Gefuhl! Nun, von diesem Mann habe ich auch den Aus-
spruch gehort, dafi sich diese oder jene Menschen in ein «Feuerbad»
stiirzen. Ich mufite dabei immer denken, wie die Menschen denn
ausschauen, wenn sie sich so in ein Feuerbad stiirzen. Man begeg-
net oft Menschen, die nicht gewahr werden, wie weit sie von der
Wirklichkeit entfernt sind. Wenn man sich in ihre Worte, in ihre
Wortvorstellungen vertieft und sich klarzumachen sucht, was ihre
Worte bedeuten, so flndet man, dafi alles zerstiebt und in alle
Winde verflattert, weil in der Wirklichkeit gar nicht moglich ist,
was die Menschen so aussprechen. So konnen Sie also in diesen
scharfsinnigen Kapiteln iiber «Das Messen» und iiber «Das den
Uhren zugrunde liegende Prinzip» recht viel lernen, wirklich sehr
viel lernen.
Ich kann nun nicht mit Bestimmtheit sagen, wann ich fortfahren
kann, auch die nachfolgenden Kapitel dieses Biichelchens zu bespre-
chen. Heute mochte ich nur noch bemerken, dafi ich selbstverstand-
lich nur Beispiele herausheben wollte und dafi man das selbstver-
standlich auf hunderterlei Weise machen kann. Aber wenn wir solches
tun, werden wir erreichen, dafi wir mit unserer geisteswissenschaft-
lichen Bewegung nicht eingekapselt sind, sondern wirklich die
Faden nach der ganzen Welt ziehen. Denn das ware uberhaupt
das Schlimmste, wenn wir uns einkapseln wiirden, meine lieben
Freunde.
Ich habe darauf hingewiesen, dafi von besonderer Wichtigkeit
und Bedeutung das Denken ist, und darum ist es wichtig, dafi wir
auch manches, was in den letzten Wochen vor unsere Seelen sich
hingestellt hat, so nehmen, dafi wir dariiber denken, es nicht in der
allereinseitigsten Weise auffassen und ins Leben umsetzen wollen.
Wenn zum Beispiel von «mystischer Verschrobenheit» gesprochen
worden ist, dann ist das mit Recht geschehen. Wenn man aber nun
wieder meint, man diirfe nicht mehr von geistigen Erlebnissen spre-
chen, so ware das der grofite Unsinn. Wenn geistige Erlebnisse wahr
sind, so sind sie Realitaten. Das Wichtige dabei ist, dafi sie wahr
sind, und dafi wir innerhalb der geistigen Grenzen bleiben. Es ist
wichtig, dafi wir nicht von einem Extrem ins andere verfallen. Be-
deutungsvoller ist, dafi wir wirklich versuchen, nicht nur die Geistes-
wissenschaft als solche hinzunehmen, sondern dafi wir uns auch be-
wufit werden, dafi die Geisteswissenschaft in das Gefuge der Welt
hineingestellt werden mufi.
Gewifi wiirde es auch falsch sein, wenn jetzt geglaubt wurde,
man sollte nun gar nicht mehr Geisteswissenschaft betreiben, son-
dern nur noch solche Broschiiren in den Zweigen lesen. Das ware
auch wieder eine unrichtige Ausdeutung. Man mufi nachdenken
dariiber, was ich gemeint habe. Aber das grofie Ubel, das ich ange-
deutet habe, dafi viele statt zuzuhoren, nachschreiben, wird da-
durch verhindert, dafi wir zuhoren und nicht nachschreiben. Denn
wenn beim Nachschreiben nur solches Zeug zustande kommt, wie es
wirklich beim Vorlesen von nachgeschriebenen Vortragen geschieht,
und wir glauben, dafi wir solche nachgeschriebenen Vortrage durch-
aus brauchen, ja, meine lieben Freunde, dann mufi ich sagen, zei-
gen wir erstens, dafi wir auf dasjenige, was im Druck erschienen ist,
wenig Wert legen, denn es ist wirklich eigentlich reichliches Material
da, das schon gedruckt ist; und zweitens ist es gar nicht notwendig,
dafi wir immer nach dem Allerneuesten jagen. Das ist eine durch die
Journalistik von den Menschen angenommene Eigenart, und wir
diirfen sie nicht bei uns kultivieren. Das griindliche Durcharbeiten
dessen, was da ist, ist etwas Wesentliches und Bedeutungsvolles,
und wir werden uns nicht das genaue Zuhoren verderben dadurch,
dafi wir nachschreiben, sondern Sehnsucht haben, genau zuzuhoren.
Denn bei dem Nachkritzeln kommt selten ctwas anderes heraus, als
dafi wir uns die Aufmerksamkeit verderben, die wir beim Hinhoren
entwickeln konnten. Daher glaube ich, dafi diejenigen unter uns,
die in den Zweigen arbeiten wollen, Gelegenheit finden werden,
wenn sie glauben, keinen Stoff zu haben, doch solche Stoffe zu
haben. Sie brauchen nicht mehr jeden zu zupfen, der nachgekritzelt
hat, um nachgeschriebene Vortrage zu bekommen, nur damit man
immer das Neueste vorlesen kann. Wirklich, es kommt auf den Ernst
an, und dafi in dieser Richtung nicht sehr ernst gearbeitet worden
ist, das hat viele Erscheinungen, wenn auch mittelbar, hervorge-
bracht, an denen wir eigentlich kranken.
Also, meine lieben Freunde, ich weifi es noch nicht genau; aber
wenn es wieder geht, dann werde ich vielleicht am Sonnabend die
Besprechung der ausgezeichneten, scharfsinnigen Broschiire von
Herrn von Wrangell, die ich gewahlt habe, weil sie von einem Wis-
senschafter geschrieben ist und einen zustimmenden und nicht ne-
gativen Inhalt hat, weiter fortsetzen.
DRITTER VORTRAG
Dornach, 2. Oktober 1915
Wir fahren also heute fort in unserer Betrachtung der Broschure
«Wissenschaft und Theosophie» von F. von Wrangell. Vorher mochte
ich einige Gedanken, die an die verschiedenen Kapkel bisher ange-
kniipft werden konnten, kurz rekapitulieren.
Zunachst mochte ich bemerken, warum bei unserer Betrachtung
gerade die Gesichtspunkte dieser Broschure von Bedeutung sein
konnen. Ich habe ja schon gesagt, dafi wir in der Gegenwart Verhalt-
nissen gegeniiber leben, die den, welcher sich auf den Boden der
Geisteswissenschaft stellt, in die Lage bringen konnen, die Geistes-
wissenschaft gegeniiber den verschiedenen Angriffen, denen sie aus-
gesetzt ist, verteidigen zu miissen. Nun wird in unserer Gegenwart
eine Verteidigung ganz besonders dann notwendig sein, wenn die
Angriffe von seken der Wissenschaft kommen, und zwar aus dem
Grunde, weil die Wissenschaft, die sich seit drei bis vier Jahrhunder-
ten in einer bestimmten Form entwickelt hat, mit einem gewissen
Rechte den Anspruch erheben kann, weltanschauungsbegrundend zu
sein und diesen Anspruch auch wirklich macht. Man kann also als
Geisteswissenschafter horen: Ja, wenn die Geisteswissenschaft gegen
die Einwande der Wissenschaft nichts zu sagen hat, so erweist sie
sich als schlecht begriindet; denn wer heute eine Weltanschauung
vertreten will, muE sie gegen die Einwande der Wissenschaft ver-
treten konnen. - Daher ist es ganz besonders wichtig, zur Kenntnis
zu nehmen, wenn ein Wissenschafter auftritt und auseinander-
setzt, was der Wissenschafter iiber das Verhaltnis echter wissen-
schaftlicher Denkweise zu den theosophischen, iiberhaupt zu den
spirituellen Lehren zu sagen hat.
Die bisherigen Betrachtungen haben Ihnen gezeigt, daB es ganz
besonders wichtig sein kann, wenn fur die spirituellen Lehren ein
Wort eingelegt wird gerade von dem Standpunkte, der durch ein
Bewufitsein bedingt ist, das durch die astronomische und ahnliche
wissenschaftliche Forschung gegangen ist. Ich habe ja aufmerksam
darauf gemacht, wie ein reprasentativer Vertreter moderner Welt-
anschauung, Du Bois-Reymond, gerade den sogenannten Laplace-
schen Kopf, die astro nomische Erkenntnis der Welt geltend macht;
ich habe gezeigt, was sich der moderne Mensch unter dem Laplace-
schen Kopf, unter der astronomischen Erkenntnis der Welt vorstellt.
Daher ist es notig zu zeigen, wie weit aus solchen astronomischen
Vorstellungen heraus eine umfassende Weltanschauung aufgebaut
werden kann.
Dann sagte ich, wichtig sei es, daft in dieser Broschiire darauf hin-
gewiesen wird, daft aus dem theoretischen Materialismus, aus der
theoretisch-materialistisch-mechanischen Weltauffassung doch not-
wendigerweise nach und nach praktischer Materialismus folgen miis-
se. Ich zeigte dann, wie auch die Geisteswissenschaft durchaus auf
diesem Standpunkte stehen miisse, wenn auch in unserer Gegenwart
vielfach noch der Einwand erhoben wird, daft theoretische Bekenner
der materialistisch-mechanischen Weltauffassung durchaus die Gul-
tigkeit idealer, ethischer Motive nicht leugnen, sondern im Gegen-
teil sich zu ihnen bekennen.
Wir sahen dann in der Broschiire in schoner Weise auseinander-
gesetzt, welches Weltbild sich demjenigen ergibt, der ausschlieftlich
auf dem Gesichtspunkte der mechanisch-materialistischen Weltan-
schauung stehen will. Ich habe dieses Weltbild sozusagen gezeichnet
und besonders betont - was auch in der Broschiire hervorgehoben
wird -, daft derjenige, der in dem mechanisch-materialistischen
Weltbilde das allumfassende Weltbild sieht, die inneren Erlebnisse,
die sich im Bewufttsein des Menschen abspielen, nicht wesentlich
anders ansehen kann als sonstige Naturvorgange, also als Begleit-
erscheinungen mechanisch-materialistischer Vorgange, und daft,
wenn man ein solches mechanisch-materialistisches Weltbild her-
stellt, von einem Fortleben eines seelischen Kernes nach dem Tode
konsequenterweise nicht mehr die Rede sein kann.
Die Broschiire geht dann dazu iiber, diese Grundannahme zu
priifen. Insbesondere wird darauf hingewiesen, wie das Verhaltnis
von Freiheit und Sittlichkeit zu den mechanisch-materialistischen
Grundvorstellungen ist; wie der Begriff der Freiheit und Verantwort-
lichkeit unmoglich noch festgehalten werden kann, wenn man sich
restlos zu der materialistisch-mechanischen Weltauffassung bekennt
und wie sich daraus die eigentliche Weltfrage oder das Weltratsel er-
gibt, namlich dafi es notwendig ist, ein solches Weltbild zu gewin-
nen, innerhalb dessen die Vorstellungen der Freiheit und der Ver-
antwortlichkeit eine Stelle haben konnen.
Dann wird hingewiesen darauf , wie man zu der Vorstellung einer
gleichsam als Netzwerk iiber alle Erscheinungen ausgebreiteten all-
gemeinen Gesetzmafiigkeit erst nach und nach gekommen ist und
auch darauf, wie es unmoglich ist, jemals die Freiheit des Willens
erfahrungsgemafl zu widerlegen, weil, wie wir gesehen haben, die
Freiheit des Willens niemals so in dieses Netz materialistisch-mecha-
nischer Vorgange hineinverwoben gedacht werden kann, wie es sein
mufite, wenn man sich eben zu diesem Weltbilde allein bekennen
wiirde.
Dann wird in einer erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung
gezeigt, wie der Mensch durch seine Sinne zur Aufienwelt in ein Ver-
haltnis tritt; wie man sich die Bildung der Begriffe, der Vorstellun-
gen, die Bildung der Vorstellungen von Raum und Zeit vergegen-
wartigen konne. Es wird darauf hingewiesen, wie das Kausalitats-
prinzip ein allgemeines Prinzip der Weltanschauung sein miifite,
wie es aber nur nach und nach in die Weltanschauung eingetreten
ist, weil man ursprunglich davon ausgegangen ist, dafi ahnliche
reale Motive in den Dingen vorhanden seien, wie sie in den Men-
schen selber vorhanden sind; so dafi also die Entwickelung zeigen
wiirde, dafi der Mensch ursprunglich nicht von einer mechanischen
Kausalitat ausgegangen ist, sondern im Grunde genommen erst aus
einer anderen Anschauung iiber den Zusammenhang der Erschei-
nungen sich zu der mechanisch-materialistischen Anschauung
durchgearbeitet hat.
Dann wird darauf hingewiesen, wie nunmehr in der neueren Zeit
die wissenschaftliche Betrachtung versucht hat, zu einer Objektivitat
zu kommen. Da wird nun das ganz besonders wichtige Prinzip der
materialistisch-mechanischen Wissenschaft, das Prinzip des Messens,
auseinandergesetzt, und wir werden gleich sehen, wie dieses Prinzip
des Messens weitere Konsequenzen auch fur die komplizierteren
Teile der gegenwartigen Wissenschaft hat.
Nun mochte ich Sie ganz besonders eindringlich aufmerksam
machen auf dasjenige, was in dem Biichlein iiber das Messen stent.
Wirklich, ich mochte Sie bitten, es als Ankniipfung zu beniitzen,
um den Charakter moderner Wissenschaftlichkeit gerade durch diese
Auseinandersetzung iiber das Messen sich so recht zu eigen zu ma-
chen. Wir haben ja gesehen, wie das Prinzip des Messens dann seine
Anwendung flndet auf das den Uhren zugrunde liegende Prinzip.
Ich mochte nun noch einige Bemerkungen gerade iiber das Prinzip
des Messens machen, um Ihnen zu zeigen, wie Sie dieses Kapitel der
Wrangell-Schrift «Wissenschaft und Theosophie» ais eine Art von
Leitmotiv verwenden konnten, um daran anzukmipfen, was Sie in
den verschiedenen Auseinandersetzungen iiber die moderne Wis-
senschaftlichkeit finden konnen, gerade mit Bezug auf den Charak-
ter, den man in der Gegenwart von wirklicher Wissenschaftlichkeit
verlangt.
Wir haben gesehen, welches das Wesen des Messens ist, und wir
haben auch den Hinweis darauf gefunden, wie das Messen in einer
gewissen Beziehung eine Art von Unsicherheit trotz aller Objekti-
vitat in der Betrachtung, iiber die sich das Messen erstreckt, hinein-
bringt. Auf diese Unsicherheit konnen wir sehr einfach aufmerksam
machen, indem wir folgendes sagen: Wenn wir das einfache Messen,
das Messen von Langen oder Raumlichkeiten haben, so legen wir
einen Mafistab zugrunde. Wenn wir eine Lange zu messen haben, so
haben wir es so anzustellen, daft wir das Verhaltnis der Lange zu
einem Mafistabe feststellen. Die Lange mufS in der sinnlichen Welt
gegeben sein und auch unser Marsstab mufi in der sinnlichen Welt
verwirklicht sein. Nun finden Sie in der Schrift eine Bemerkung, die
darauf aufmerksam macht, dafi da etwas hineinkommt, was das
Messen unsicher macht. Das Messen beruht darauf, dafi man etwas
vergleicht mit dem Mafistab; man vergleicht, wie oft der Mafistab
enthalten ist in dem zu Messenden.
Nun ergibt aber zum Beispiel eine leichte Erwarmung, dafi die
Warme den Mafistab ausdehnt. Nehmen wir also an, der Mafistab
ware erwarmt worden und dadurch ein Stikkchen langer geworden.
Selbstverstandlich - da wir in einem Raume messen, der ungefahr
gleichmaftige Warme zeigt, sonst wiirden wir weitere Kompliziert-
heiten ins Auge fassen miissen -, wiirde das zu Messende in dem-
selben Verhaltnis ausgedehnt wie der Mafistab. Wenn aber der Mafi-
stab und das zu Messende aus solchen Materien bestehen, die sich
nicht gleich stark ausdehnen, so dafi der Ma&tab weniger stark oder
starker sich ausdehnt als das zu Messende, so haben wir es schon mit
Ungenauigkeiten im Messen zu tun.
Also konnen wir zweierlei hervorheben. Das eine ist: die Betrach-
tung wird unabhangig von unserer Subjektivitat, von dem Betrach-
ter. Wir vergleichen das zu Messende mit dem Mafistabe, das heifit,
wir vergleichen Objektives mit Objektivem. Darauf beruht nun ein
gutes Stuck moderner Wissenschaftlichkeit, und im Grunde genom-
men liegt darin auch ausgesprochen ein Ideal moderner Wissen-
schaftlichkeit. Das andere ist, wenn wir die Dinge um uns herum
einfach nur nach unserer Subjektivitat betrachteten. Sie brauchen
sich zum Beispiel nur folgendes vorzustellen. Denken Sie sich, Sie
haben ein Gefafi mit Wasser vor sich; nun bringen Sie Ihre eine
Hand in die Nahe des Ofens und die andere Hand halten Sie in
eine Eisgrube hinein; dann strecken Sie beide Hande in das Wasser
hinein. Sie werden in jeder Hand ein ganz verschiedenes Gefuhl ha-
ben, obwohl das Wasser dieselbe Temperatur hat. Fur die erwarmte
Hand wird das Wasser kalt erscheinen, fur die kalte Hand wird es gar
nicht kalt erscheinen. So dehnt sich das Subjektive iiber alles Objek-
tive aus. Das ist nur ein grobklotziges Beispiel, aber man sieht dar-
an, wie immer das Subjektive aller Betrachtung zugrunde liegt. Das
Messen lost den Inhalt vom Subjekt, vom Betrachter los. Daher gibt
es eine objektive, vom Subjektiven losgeloste Wahrheit, eine Er-
kenntnis. Das ist wichtig. Und weil man in der neueren Zeit sich im-
mer mehr bemuht hat, in bezug auf das Weltbild unabhangig zu
werden von dem Subjektiven, so wurde das Messen eine Art Ideal.
Sehen Sie, dieses Messen wird deshalb so objektiv, weil der Mafi-
stab von uns unabhangig ist, weil wir uns ausschalten und an unserer
Stelle den Mafistab einfiigen. Diejenigen, die sich erinnern an meine
Vortrage, die ich in Berlin gehalten habe iiber die verschiedenen
Standpunkte, die man der Welt gegeniiber einnehmen kann, wer-
den sehen, dafi auch der Geisteswissenschaft selber etwas Ahnliches
zugrunde liegt. Ich habe da gesagt: Solange man auf dem Boden der
aufieren Wirklichkeit steht, stellt man sich der Welt gegeniiber und
macht sich ein Weltbild. Sobald man aber die geistige Welt betritt,
mufi man im Grunde genommen von verschiedenen Gesichts-
punkten - aber jetzt ist der Gesichtspunkt geistig gemeint - das zu
Betrachtende betrachten. Zwolf Standpunkte habe ich angefuhrt,
und erst wenn man diese zwolf Standpunkte einnimmt, korrigiert
ein Standpunkt immer den anderen. Dadurch wird man auch in ei-
ner gewissen Weise unabhangig von der Subjektivitat.
Sie sehen daraus, wie Wissenschaft und Geisteswissenschaft zu-
sammensteuern, wie das, was als ein notwendiges Entwickelungs-
motiv in der Wissenschaft liegt, die Objektivitat, auch von dem Gei-
steswissenschafter angestrebt werden mufi, allerdings nicht da-
durch, daft man alle zwolf Standpunkte geltend macht. Die zwolf
verschiedenen Standpunkte korrigieren einander. So ist das Messen
das Loslosen von der Subjektivitat. Aber auf der anderen Seite wird
darauf hingewiesen, wie auch beim Messen nur innerhalb gewisser
Grenzen eine Genauigkeit erzielt werden kann, und es wird von
Wrangell darauf hingewiesen in dem nachsten Kapitel:
Fehlergrenze beim Messen
Man kann auch beim Zeitmessen, wie beim Langenmessen, die
Grenze der Genauigkeit, richtiger die Fehlergrenze, angeben.
Innerhalb dieser Grenzen ist die gewonnene Tatsache objektiv
richtig, aber fehlerlose Richtigkeit erreicht sie nie.
Darin unterscheiden sich alle den Sinneswahrnehmungen ent-
nommene Tatsachen von intuitiven Wahrheiten des Denkens,
wie die formalen Gesetze der Logik und alle Wahrheiten der
Mathematik.
Indem also das Messen mit Recht als dasjenige Mittel hingestellt
wird, das, wenn man die Fehlergrenze berucksichtigt, eine gewisse
Genauigkeit in bezug auf ein Weltbild gibt, wird zu gleicher Zeit
darauf hingewiesen, wie diese Genauigkeit, die in bezug auf die
aufiere sinnlkhe Welt erreicht werden kann, nie eine fehlerlose
Richtigkeit sein kann. Sie kann niemals dieselbe Art von Wahrheit
geben, welche man in den sogenannten intuitiven Wahrheiten
des Denkens, in den formalen Gesetzen der Logik und in den Wahr-
heiten der Mathematik hat.
Das nachste Kapitel ist eine weitere Ausfuhrung dessen, was ich
schon gesagt habe:
Absolute Giiltigkeit logischer und mathematischer Wahrheiten
Die logische Wahrheit, zum Beispiel: ein Teil ist kleiner als das
Ganze,
- das ist eine mathematische Wahrheit. Es kann nicht mit absolut
gleicher Sicherheit gesagt werden, wieviel mal ein Teil enthalten ist
in dieser Linie [vermutlich wurde auf eine Linie an der Tafel gezeigt] -
oder: Wenn zwei Dinge einem Dritten gleich sind, so sind sie
auch untereinander gleich, unterliegt keiner Einschrankung;
- das sind absolute Wahrheiten; die werden aber auch nicht durch
aufiere Wahrnehmung gewonnen, sondern durch das Denken -
jeder Mensch bei gesundem Verstande sieht seine zwingende
Notwendigkeit ein. So auch in der Mathematik; hat man sich
iiber gewisse Grundannahmen verstandigt, so folgen alle iibrigen
Satze der Mathematik mit zwingender Notwendigkeit ohne jede
Einschrankung. Wenn man sich zum Beispiel dariiber verstan-
digt, was man eine gerade Linie nennt, was ein rechter Winkel
ist, was Parallelismus heifit, so folgen daraus die Satze der Geo-
metric mit absoluter Sicherheit.
Es ist notwendig, dafi man sich in diesen Dingen verstandigt. Man
mufi sich verstandigen dariiber, was ein rechter Winkel, was eine ge-
rade Linie ist, was Parallelismus heifit. Hat man sich dariiber verstan-
digt, daft parallele Linien diejenigen sind, die in alien Punkten, die
senkrecht ubereinanderliegen, gleich weit voneinander entfernt
sind, oder hat man sich daruber verstandigt, daft parallele Geraden
diejenigen sind, welche, noch so weit verlangert, sich niemals
schneiden, dann kann man die parallelen Linien verwenden, um
weitere Satze der Mathematik einzusehen. Ich will jetzt etwas
scheinbar recht weit Entlegenes daran ankniipfen.
Nehmen wir an, wir haben hier ein Dreieck: Wir haben schon 6f-
ter besprochen, daft die drei Winkel eines Dreiecks zusammen 180
Grad sind. Nun, was sind 180 Grad? 180 Grad sind es, wenn Sie sich
hier denken einen Punkt und eine gerade Linie dutch diesen Punkt
gezogen. 180 Grad enthalt der Kreisbogen um diesen Punkt, der ein
Halbkreis ist. Es miifiten also diese drei Winkel a,b,c sich so anord-
nen lassen, daft sie, wenn man sie facherformig zusammenlegt, eine
gerade Linie ergeben. Das kann man sehr leicht veranschaulichen
dadurch, daft man hier durch den Punkt C die Parallele zur Geraden
AB zeichnet. Dann ergibt sich, wenn man sich nur einmal iiber die
Parallele verstandigt hat, daft der Winkel a' gleich sein mufi diesem
Winkel a, und der Winkel b' gleich dem b sein mufi. Nun liegen die
drei Winkel facherformig nebeneinander und bilden 180 Grad. Ich
miifite noch Zwischenglieder einfuhren, aber Sie werden sehen, daft
die Wahrheit, die drei Winkel eines Dreiecks betragen zusammen
180 Grad, auf diesem aufgebaut ist. Das heiftt, es gibt gewisse
Grundwahrheiten der Mathematik, die sich aus dem sich selber be-
tatigenden Denken ergeben, iiber die man sich zu verstandigen hat,
und aus denen dann die ganze Mathematik folgt.
Ein Mensch, der die Fahigkeit hat, der Beweisfuhrung zu folgen,
ist von der ewigen Giiltigkeit des Schlufisatzes ebenso iiberzeugt,
wie von seiner eigenen Existenz.
Es kann einem niemals der Zweifel kommen, dafi die Winkel eines
Dreiecks zusammen 180 Grad betragen. Fur diejenigen der verehr-
ten Freunde, die etwas davon wissen, betone ich, dafi wir absehen
von einer Raumgeometrie, die sich auf einen anderen Standpunkt
stellt, das wiirde uns heute zu weit fiihren.
Die Raumeswissenschaft (Geometrie) stellt gewisse Beziehungen
fest zwischen Flacheninhalten und deren linearen Dimensionen,
sowie zwischen Raumesteilen und den entsprechenden linearen
Grofien.
Dies ist die einfachste Vorstellung. Denn wenn Sie sich ein Rechteck
aufzeichnen, so ist die Flache dieses Rechtecks diejenige, die ich
schraffiere. Nennen Sie die Lange der Grundlinie a, die dieser Linie
b - so bekommen Sie die Flache, wenn Sie a mit b multiplizieren;
das heifit, die Flache setzen Sie zusammen aus linearer Grofie und
linearer Grofie.
Diese Beziehungen wurde von Denkern durch Intuition entdeckt,
mit bereits bekannten Wahrheiten logisch verknupft (darin be-
steht der mathematische Beweis). Die Richtigkeit des Beweises
wird nicht durch Erfahrung gepriift, sondern durch Anschauung
unmittelbar erkannt.
Es ist sehr wichtig, dafi Sie sich auf diese Sache einlassen, wie sich in
dieser Beziehung mathematische Beweisfuhrung und mathemati-
sches Erkennen iiberhaupt unterscheidet von allem Erkennen, das
sich auf aufiere Sinnesgegenstande bezieht. Man kann das letztere
niemals, ohne dafi man an den aufieren Sinnesgegenstand heran-
tritt, haben. Man mufi also all die Ungenauigkeit, die dabei in Be-
tracht kommt, in Rechnung ziehen. Man braucht aber mathemati-
sche Gebilde, wenn man einen Beweis fuhren will, gar nicht aufzu-
zeichnen, sondern sie ergeben sich dem selbsttatigen Denken. Das
Aufzeichnen ist nur eine Veranschaulichung fur das trage Denken,
das nicht in sich selber arbeiten will. Aber an skh konnte man sich
denken, dafi man die Mathematik ohne jede Veranschaulichung im
inneren Vorstellen betreibt.
Es darf nie iibersehen werden dieser tiefe, grundsatzliche Unter-
schied zwischen Tatsachen, die der Erfahrung entnommen sind,
welche infolge der Beschranktheit unserer Sinne stets Fehlerquel-
len aufweisen, und den logischen resp. mathematischen Wahr-
heiten, die fur uns Menschen absolute Gultigkeit haben, sobald
man die Grundannahmen als richtig erkannt hat.
Wird nun aus einer beliebigen empirischen Tatsache durch eine
Kette mathematischer oder logischer Satze eine Schlufifolgerung
gezogen, so ist diese letztere nur innerhalb der Einschrankung
richtig, unter denen jene empirische Tatsache beobachtet wurde;
nur unter dieser Einschrankung kann man das gewonnene End-
ergebnis als wissenschaftlich erwiesene Erfahrungstatsache gelten
lassen; dies wird oft iibersehen.
Solche empirischen Tatsachen konnen in ihrer Anwendung auf
Erscheinungen der Sinneswelt zu richtigen praktischen und auch
theoretischen Ergebnissen fuhren, und oft erreichen sie einen so
hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dafi diese Wahrscheinlich-
keit uns der Gewifiheit gleichwertig diinkt, aber erkenntnis-
theoretisch ist sie es nicht.
Das weitere Kapitel heifit:
Alle Naturgesetze sind der Erfahrung entnommen, haben daher
nur bedingte Gultigkeit
Wenn wir von Naturgesetzen reden, nach denen beim Vor-
handensein gewisser Bedingungen notwendigerweise gewisse
Erscheinungen eintreten - oder anders ausgedriickt: gewisse
Ursachen haben notwendigerweise bestimmte Wirkungen -, so
sind diese Gesetze der Erfahrung entnommen und deshalb nur
innerhalb gewisser Grenzen der Genauigkeit als richtig nach-
weisbar.
Wir wollen das an einigen Beispielen erlautern: Der Astronom
sagt, die Erde dreht sich mit gleichformiger Geschwindigkeit um
ihre Achse; was meint er damit?
- Man kann also gewisse mathematische Wahrheiten innerlich er-
kennen, aber daft die Erde sich um ihre Achse dreht, kann man nicht
innerlich erkennen. Was meint also der Astronom damit? -
Zunachst heifit das: «Wir haben gewichtige Griinde anzuneh-
men, dafi die scheinbare tagliche Umdrehung des Sternenhim-
mels eine optische Tauschung 1st und durch die Umdrehung der
Erdkugel um ihre Achse hervorgerufen wird; die Dauer einer sol-
chen Umdrehung nennen wir <Sternentag> . Um die Dauer eines
Sternentages (also eine Umdrehung der Erde um ihre Achse) zu
messen, miissen wir sie mit einer Zeitdauer vergleichen, die wir
als unveranderlich annehmen. Als solche Zeiteinheit wahlen wir
die Schwingungsdauer eines mit einer Uhr verbundenen Pendels
von bestimmter Lange. Die Erfahrung zeigt uns, dafi, je besser
die Bedingungen erfullt sind, um einen gleichmafiigen Gang ei-
ner Uhr zu gewahrleisten, und je genauer wir die Sternenbe-
obachtungen anstellen, nach denen die Dauer einer Erdumdre-
hung bestimmt wird, um so unveranderlicher erweist sich das
Verhaltnis zwischen der Zahl der Pendelschwingungen und der
Zahl der Erdumdrehungen. Beim jetzigen Stand der Technik hat
sich die Umdrehung der Erde als gleichmafiig erwiesen innerhalb
der moglichen Fehlergrenzen, welche nur einen geringen Bruch-
teil einer Sekunde erreichen konnen. Absolute Gleichformigkeit
konnen wir nicht behaupten, ja wir haben Griinde, daran zu
zweifeln.»
- Auf den letzten Satz brauchen wir nicht einzugehen; er kann Ge-
genstand einer spateren Betrachtung sein. -
Was liegt nun da eigentlich der aufieren Beobachtung vor? Ein-
mal die Erscheinung, die wir als Tag und Nacht auf der Erde haben,
ferner der Vergleich mit den Schwingungen einer Pendeluhr. Und
da wir aus anderen Voraussetzungen finden, dafi das Pendel gleich-
mafiig schwingt, und daft man die gleichmafiige Schwingung des
Pendels vergleichen kann mit dem, was man in bezug auf die Erde
wahrnimmt, so mufi man daraus schliefien, daft auch die Erde sich
gleichmafiig um ihre Achse dreht. Eine andere Explizierung wird in
dem nachsten Kapitel in bezug auf die Chemie gegeben.
Chemische Gesetze
Ahnlich ist es mit der Chemie. Das ganze Gebaude dieser Wis-
senschaft ruht auf dem Satz: Chemische Verbindungen konnen
nur in ganz bestimmten Gewichtsmengen ihrer unzerlegbaren
Bestandteile vor sich gehen,
- als Beispiel hierzu wird in einer Fufinote angegeben: «Es verbindet
sich zum Beispiel eine Raumeinheit (sagen wir ein Liter) Sauerstoff
nur mit zwei Raumeinheiten Wasserstoff zu Wasser.» Also ein Atom
Sauerstoff verbindet sich mit zwei Atomen Wasserstoff zu einem
Molekul Wasser. Ich habe von dieser Verbindung des Sauerstoffs mit
dem Wasserstoff zu Wasser ofter gesprochen. Dann heifit es in der
Fufinote weiter: «Da ein Atom Sauerstoff 16mal schwerer ist als ein
Atom Wasserstoff, so kann man auch sagen: eine Gewichtseinheit
Wasserstoff verbindet sich mit 8 Gewichtseinheiten Sauerstoff zu 9
Gewichtseinheiten Wasser. Ist in der Mischung mehr Sauerstoff vor-
handen als 8mal die Gewichtsmenge Wasserstoff, so bleibt der
Uberschufi als <freier> (unverbundener) Sauerstoff nach; ist dagegen
weniger Sauerstoff vorhanden, so bleibt der uberschussige Wasser-
stoff unverbunden.» Also nur in diesem ganz bestimmten Verhaltnis
verbindet sich Sauerstoff mit Wasserstoff zu Wasser; im Wasser sind
sie in diesem Verhaltnisse vorhanden. Anders konnen sie sich nicht
verbinden. -
oder technisch ausgedriickt: die Elemente gehen chemische Ver-
bindungen nur in ganzen Vielfaltigen ihrer Atomgewichte ein.
- In diesem Satz steckt nun die ganze Hypothese des Atoms darin-
nen. Das, was hier ausgefuhrt ist, ist fur die ganze Sinnesanschau-
ung, fur die Beobachtung von Gewichtsmengen und Raumverhalt-
nissen richtig. Aber wenn man annimmt, daft der Sauerstoff und der
Wasserstoff aus kleinsten Teilen, nicht mehr teilbaren Atomen be-
stehen, dann mufi man annehmen, dafi dasselbe gewisse Verhaltnis
auch zwischen den Atomen stattfmdet. Und da wir die Atome nicht
mehr teilen konnen, so mufi, wenn sich Sauerstoff mit Wasserstoff
verbindet, also ein kleinster Teil von dem einen mit zwei kleinsten
Teilen von dem anderen sich verbinden, dasselbe Gewichtsverhaltnis
bestehen. Wenn wir das Atomgewkht des SauerstofTs und das
Atomgewicht des Wasserstoff s nehmen, so entsteht ein Gewichtsver-
haltnis, das heifit, es verbindet sich ein Atom Sauerstoff mit zwei
Atomen Wasserstoff, wobei das Sauerstoffatom achtmal schwerer 1st.
Das ganze Vielfache des Atomgewichts geht in die Verbindung ein.
Was mufi man tun, um auf eine solche Sache zu kommen? Man mufi
eine Wagung, das ist auch eine Messung, machen. Also man geht an
die sinnlichen Tatsachen heran, und aus dem Ergebnis der Wagung
bekommt man dieses Gesetz, dafi sich die einzelnen Substanzen
nicht in beliebiger Weise, sondern in einem ganz bestimmten Ver-
haltnis verbinden. -
Die Erfahrungstatsachen, denen dieses Gesetz entnommen ist,
sind aber nie ganz genau (weil alles Wagen und Messen mit
Beobachtungsfehlern behaftet ist); wenn das Gesetz trotzdem et-
was Absolutes ausdriickt, so soil damit folgendes gesagt sein: je
genauer die zur chemischen Analyse benutzten Apparate kon-
struiert sind, je sorgfaltiger die Methoden zur Zerlegung zusam-
mengesetzter Verbindungen in unzerlegbare Elemente, um so
besser lafit sich die Zusammensetzung des Stoffes aus Elementen
dutch eine Kombination von Vielfaltigen der entsprechenden
Atomgewichte dieser Elemente darstellen.
Da der Chemiker sich der moglichen Fehlergrenzen seiner Mefi-
operationen bewufit ist, so weifi er, ob das Endergebnis seiner
Analyse mit obigem Gesetz innerhalb dieser Fehlergrenzen uber-
einstimmt oder nicht. Findet er eine grofiere Abweichung, so ist
er einstweilen von der Richtigkeit des Gesetzes so tiberzeugt, dafi
er zur Erklarung der gefundenen Abweichung die Anwesenheit
eines noch unbekannten Elementes annimmt oder nach einer un-
bemerkten Fehler quelle sucht. So halt er das Gesetz in der Praxis
fur absolut richtig, obgleich er theoretisch sich der Bedingtheit
dieses empirischen Gesetzes bewufk ist.
Das heifit: Wiirde man aus anderen Erfahrungstatsachen gefunden
haben, dafi sich zwei, drei Elemente nach einem gewissen Verhaltnis
verbinden, und wiirde man in den Substanzen, in denen diese darin
sind, noch ein anderes Verhaltnis sehen, so wiirde man annehmen
mussen, dafi noch etwas anderes darinnen ist.
Das weitere Kapitel heifit:
Physikalische Gesetze
Wenn die Physik das Gesetz der Erhaltung der Energie aufstellt,
so ist damit gemeint: wenn wir eine bestimmte Menge Bewe-
gungsenergie in Warme umwandeln und die Zahlen vergleichen,
welche die Menge Bewegungsenergie in ihren Einheiten aus-
driicken und die Menge daraus entstandener Warme in Kalorien
(Warmeeinheiten) ausdriicken, so erhalten wir eine Verhaltnis-
zahl, welche man das «mechanische Warmeaquivalent» nennt; je
genauer die Messungen angestellt werden, je besser dafur gesorgt
wird, dafi die gesamte Bewegung in mefibare Warme umgesetzt
wird, - um so genauer stimmen die bei verschiedenen Versuchen
erhaltenen Verhaltniszahlen untereinander iiberein. Das ist das
tatsachliche Ergebnis der Erfahrung.
- Hier haben wir in einem einzigen Satz eine ganze physikalische
Lehre vor uns. Was zu dieser Lehre fiihrt, kann schon mit der ganz
einfachen Tatsache belegt werden, dafi, wenn wir mit einem Finger
iiber eine Flache streichen, diese warm wird. Das konnen Sie selber
priifen. Diese Energie, diese eigene Muskelenergie, die Sie da auf-
wenden, ist zunachst nicht Warme; aber Warme tritt auf und Ener-
gie geht verloren. Was ist da geschehen? Ihre Energie hat sich in
Warme umgewandelt. Wenn man hier zum Beispiel driickt, so ent-
steht eine gewisse Menge Warme; wenn man eine andere Energie
anwendet, so entsteht auch Warme. Man konnte nun glauben, sie
entstehe unregelmafiig; aber das ist nicht der Fall. Die Frage, wel-
ches Verhaltnis besteht zwischen der Aufwendung der Energie und
der Warme, die daraus entsteht, ist Gegenstand wichtiger Forschun-
gen gewesen. Imjahre 1842 hat Julius Robert May er - der von seinen
Fachgenossen dazumal recht schlecht behandelt worden ist, trotz-
dem er heute als wissenschaftliche Grofie ersten Ranges gilt - zuerst
aufmerksam darauf gemacht, dafi das Verhaltnis zwischen der Ener-
gie und der daraus entstehenden Warme etwas Konstantes ist. Und
er hat auch die Verhaltniszahl anzugeben versucht. In seiner Ab-
handlung, die im Jahre 1842 geschrieben worden ist, ist sie noch
ungenau angegeben. Spatere Gelehrte haben durch ihre For-
schungen dann die genaue Zahl festgestellt und angegeben.
Helmholtz, der sich um die Prioritat der Entdeckung gestritten hat,
ging darauf hinaus, nachzuweisen, dafi es eine solche Verhaltnis-
zahl, ein konstantes Verhaltnis zwischen der aufgewendeten Energie
und der daraus entstehenden Warme gibt. Gleich viel Energie
gibt gleich viel Warme, und die Verhaltniszahl, die zwischen Warme
und aufgewendeter Energie besteht, ist so konstant, wie das Ver-
haltnis zu den Konstanten konstant ist. Das nennt man das
«mechanische Warmeaquivalent». So bekommt man ein physika-
lisches Gesetz. -
Der Physiker geht iiber diese Erfahrung hinaus, wenn er die von
einander stets abweichenden Beobachtungsresultate durch eine
einfache gemeinsame Formel ersetzt. Er ist dazu berechtigt, so-
lange er sich der Bedingungen bewufit ist, unter denen die For-
mel Giiltigkeit hat.
- Eine Formel entsteht schon dadurch, dafi ich sage: Wenn Energie
in Warme verwandelt wird, besteht ein gewisses Verhaltnis zwischen
Energie und Warme. Aber wenn es auch noch so viele Falle gibt, die
untersucht worden sind, die Falle, die man ubermorgen untersuchen
wird, die sind noch nicht heute untersucht. Wenn also der Physiker
in einem solchen Zusammenhang eine Formel ausspricht, so mufi er
sich bewufit sein, welchen Gultigkeitsumfang eine solche Formel
haben kann. -
In ahnlicher Weise lafit sich von alien Naturgesetzen nachweisen,
daft sie in ihrer Vereinfachung iiber die Erfahrung hinausgehen.
- So dafi man im Grunde genommen schon iiber die Erfahrung hin-
ausgeht, wenn man nicht bei der Beschreibung des Einzelfalles
bleibt. -
Das nachste Kapitel wollen wir einmal in bezug auf die Gesamt-
heit seiner Tendenz ins Auge fassen; es heifit:
Die Erkenntnis schreitet vom Einfachen zum Verwickelten fort
Die Erscheinungen der Sinneswelt, wie sie uns entgegentreten,
sind so verwickelt, dafi, um ihren Zusammenhang zu ergriinden,
der Mensch genotigt ist, zunachst seine Aufmerksamkeit auf das
Einfachste zu beschranken und dann erst, Schritt fur Schritt, das
Gebiet des Erkannten zu erweitern. Die scheinbare, gleichmafii-
ge, kreisformige Bewegung der Gestirne bot in ihrer Einfachheit
die Moglichkeit, die absoluten Wahrheiten der Mathematik auf
empirische Tatsachen der Beobachtung anzuwenden und da-
durch zukiinftige Ereignisse rechnerisch vorauszusagen.
- Fur zukiinftige Mond- oder Sonnenfinsternisse, ich habe letztes
Mai schon davon gesprochen, beruht das darauf, dafi man die Ge-
stirne beobachtet hat, ihre Bewegungen in Formeln fafite, und dann
in diese Formeln gewisse Grofien einsetzte. Dadurch bekommt man
die Moglichkeit, den Tag anzugeben, an dem, sagen wir im Jahre
1950, eine Sonnenfinsternis sein wird. -
Diese von Erfolg gekronte Tatigkeit entwickelte die Fahigkeit,
grofie Gruppen von Erscheinungen in ubersichtlicher, allgemein-
giiltiger, mathematischer Form zu anschaulicher Vorstellung zu
bringen. In dem geozentrischen Weltsystem kam der Begriff des
gesetzmafiigen Naturgeschehens zum grofiartigen Ausdruck. Um
die im Mittelpunkt der Welt ruhende Erde drehte sich mit un-
wandelbarer Gleichfbrmigkeit die kristallhelle Himmelskugel
mit den zahllosen, an sie gehefteten Sternen. Nur sieben Gestir-
ne: Sonne, Mond und die mit blofiem Auge sichtbaren fiinf Pla-
neten, haben ihre eigene Bewegung, zu deren anschaulicher Vor-
stellung man verschiedene Kombinationen kreisformiger Bewe-
gungen zu Hilfe nahm. Es entstand schliefilich das sinnreiche aber
komplizierte sogenannte ptolemaische Weltsystem mit seinen
Zyklen und Epizyklen.
- Geozentrisch war das fruhere Weltsystem, das annahm, dafi die
Erde im Mittelpunkt der Welt stehe und die anderen Sterne sich ir-
gendwie um sie herumdrehen, und man beobachtete so, wie sich das
Weltgetriebe darstellte. Mathematisch ausrechnen konnte man die
Bewegungen da auch. Es kommt nicht darauf an, dafi man ein Welt-
bild hatte, das heme bei den Astronomen nicht mehr gilt. -
Mit zunehmender Genauigkeit der Beobachtungen und Erweite-
rung der Kenntnisse wuchsen die Schwierigkeiten, um die Beob-
achtungstatsachen auf diese Weise rechnerisch genau darzustel-
len, bis schliefilich die kiihnste und folgenschwerste aller wissen-
schaftlichen Hypothesen - die kopermkanische, die Schwierig-
keiten loste.
- Das ist so gekommen; heute liegen die Verhaltnisse schon wesent-
lich anders. Man hat angenommen, die Erde stehe im Mittelpunkt,
der Sternenhimmel bewege sich herum, die Planeten hatten eine Ei-
genbewegung. Man nahm an, dafi solch ein Planet sich in einem
Kreise bewege, der sich selbst wieder in einem Kreise bewege. In
Epizyklen mufite man sich das vorstellen. Man mufite ein ganz kom-
pliziertes Raumverstandnis haben, welches die ganze Weltanschau-
ung komplizierte. Nun kam in das menschliche Denken ein Prinzip
hinein, das zu dem Fufifassen der kopernikanischen Weltanschau-
ung wesentlich beigetragen hat. Das war das Prinzip, das zu keiner
Zeit ofter als dazumal angefuhrt worden ist: Die Natur mache alles
in der einfachsten Weise. - Aber das, sagte man, hatte sie nicht in
der einfachsten Weise gemacht. Und da war es Kopernikus, der die
Sache einfach umkehrte. Er sagte: Probieren wir einmal, die Sonne
in den Mittelpunkt zu stellen und die anderen Himmelskorper sich
darum herum bewegen zu lassen. Und so ergab sich ein anderes
astronomisches Weltbild, das kopernikanische. Ich habe Ihnen
schon einmal angefuhrt, daft die Kirche erst im Jahre 1822 erlaubte,
dafi ein Katholik an dieses System glaube. - ,
Die Erde aus ihrer Ruhelage im Mittelpunkt der Welt zu einem
Trabanten der Sonne entwiirdigt, um sie, gleich den anderen
Wandelsternen, mit rasender Geschwindigkeit kreisend, dabei
sich wie eine Spindel um ihre Achse drehend, - das ist eine Vor-
stellung, die dermafien dem Sinnesschein und der Lehre der Kir-
che widersprach, dafi deren Bestreben, die ketzerische Lehre im
Keime zu ersticken, begreiflich ist.
Die Griinde, welche zur Annahme dieser Hypothese drangten,
konnten zunachst nur von denen voll gewiirdigt werden, die sich
dessen bewuflt waren, wie viel einfacher die Ergebnisse der Beob-
achtungen durch diese Hypothese erklart wurden, als wenn man
die Erde als ruhend annahm. Freilich mufiten die Entfernungen,
die uns von den Fixsternen trennen, unfafibar grofi gedacht
werden.
- Nun kommt eine Auseinandersetzung, die wichtig ist, die wir aber
einmal besonders zum Gegenstand der Betrachtung machen
miissen;
Ein vollgiiltiger Beweis fur die Richtigkeit der kopernikanischen
Hypothese ist iibrigens erst zweieinhalb Jahrhunderte spater
erbracht worden, durch Entdeckung der sogenannten «Aberra-
tion des Lichtes», und noch spater durch Messung einiger Stern-
parallaxen.
- Aus dem, was Parallaxen der Sterne und Aberration des Lichtes
sind, werden Sie sehen, dafi die kopernikanische Weltanschauung
bis zu diesen Entdeckungen in der Tat mit einer gewissen Unsicher-
heit behaftet war. -
Die am Erforschen der Bewegungen der Gestirne erstarkte ma-
thematische Methode wurde allmahlich auch auf die uns naher
liegenden, deshalb sich verwickelter darbietenden Erscheinungen
der irdischen, leblosen Natur angewandt. Es entsteht schon bei
den Alten die Statik, die Lehre vom Gleichgewicht der Krafte,
dann, erst mit dem Wiederaufleben der exakten Wissenschaften,
die Dynamik, die mathematische Lehre von der Bewegung. Gali-
lei erforschte die Fallgesetze; intuitiv erkennt er sie, driickt sie
in Formeln aus, priift und beweist sie durch sinnreiche Experi-
mente, welche genaueres Messen ermoglichen.
- Da wird darauf hingewiesen, wie es im Grunde genommen ein
Durchdringen der aufieren Erscheinungen mit mathematischen Vor-
stellungen ist, auf das die Wissenschaft losgeht. Auch das ptolemai-
sche Weltbild ging darauf aus, das Mathematische auszudehnen wie
ein Netz. Wenn Sie einen Stern sehen, so miissen Sie die mathema-
tische Vorstellung des Kreises schon erfaflt haben, wenn Sie sagen
sollen: der Stern bewegt sich im Kreise. Also Sie verbinden das Ma-
thematische mit dem, was Sie empirisch erschauen. Das tut man auch
in einem grofien Teile der mechanischen Wissenschaft, zum Beispiel
in der Statik, die sich damit beschaftigt, die Verhaltnisse zu untersu-
chen, unter welchen Gleichgewicht der Krafte bewirkt wird, wohin-
gegen die Dynamik die Verhaltnisse untersucht, unter denen Bewe-
gungen geregelt werden konnen und so weiter. Also wir sehen, wie
Wissenschaften sich bilden, indem das aufierlich empirisch Wahrge-
nommene mit Mathematik durchsetzt wird. -
Newton endlich wendet die irdischen Fallgesetze auf die Him-
melserscheinungen an. Er beweist rechnerisch, daft die gleiche
Kraft, welche den Apfel zur Erde treibt - die gegenseitige Anzie-
hung zweier Stoffmassen - den Mond zwingt, um die Erde zu
kreisen und die Planeten, mitsamt der Erde, ihre Bahnen um die
Sonne zu beschreiben, deren durch Kepler entdeckte elliptische
Form den Forderungen der Mechanik entspricht.
- Da kommt die beriihmte Apfelanekdote von Newton in Betracht,
der einmal unter einem Apfelbaume safi und einen Apfel herunter-
fallen sah. Nun kann man sich fragen: Warum fallt denn der Apfel
da herunter? - Fur den naiven Menschen ist das keine rechte wissen-
schaftliche Frage; darinnen zeigt sich eben erst der wissenschaftliche
Mensch, dafi ihm das, was fur den Naiven gar keine Frage ist, zu ei-
ner Frage wird. Der naive Mensch findet es ganz naturlich, dafi der
Apfel herunterfallt. Aber er konnte auch hangen bleiben, und er
wiirde es, wenn nicht von der Erde eine Kraft ausgeubt wiirde; die
Erde zieht ihn zu sich hin. Wenn Sie sich nun die Erde und um die
Erde den Mond herumgehend vorstellen, so werden Sie einsehen,
dafi der Mond wegfliegen miifite, wenn nicht eine andere Kraft dem
entgegenwirkte. Erinnern Sie sich blofi einmal daran, was die Buben
machen; vielleicht auch die Madchen, das weifi ich aber nicht. Neh-
men Sie an, Sie haben einen Gegenstand, binden ihn an einen
Faden, halten den Faden an einem Ende und bewegen ihn im Kreise
herum. Versuchen Sie den Faden zu zerschneiden, dann fliegt der
Gegenstand weg. Der Mond geht auch so herum. Warum aber fliegt
er nicht weg? An jedem Punkte hat er das Bestreben. Nehmen wir
an, die Erde ware nicht da, so wiirde er ganz gewifi wegfliegen; weil
die Erde aber da ist, so zieht sie ihn an, und sie zieht ihn so an, daft
er nicht hiernach nach A kommt, sondern hiernach nach B kommt,
nach einer gewissen Zeit.
,'"""f'*'''.'S;y ac~...
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i /
r
Die Erde mufi ihn immer anziehen, um ihn an sich zu halten im
Kreise. Das ist dieselbe Kraft, sagte sich Newton, wie die, die da
beim Apfel wirkt, den die Erde zu sich hinunterzieht. Die gebraucht
sie auch, um den Mond in seiner Bahn zu halten. Das ist dieselbe
Kraft, mit der iiberhaupt Himmelskorper einander anziehen und
sich in ihren Bahnen halten. Wir sehen die Kraft im sinkenden Ap-
fel; dieselbe Kraft, die allgemeine Anziehungskraft, die Gravita-
tion, ist in den Himmelskorpern. Das Weitere iiber die Berechnung,
wie diese Gravitation wirkt, wie sie abnimmt mit der Entfernung
und so weiter, das sind Details. Es wurde gerade mit dieser Newton-
schen Gravitationslehre ein sehr wesentliches Kapitel der wissen-
schaftlichen Weltanschauung eingeleitet, ein Kapitel, das im Grun-
de genommen bis in unsere Zeit herein feststand; erst in unserer Zeit
wird etwas daran geriittelt. Ich habe Sie ja aufmerksam darauf ge-
macht, wie eine sogenannte Relativitatstheorie daran riittelt. Dar-
uber wollen wir aber ein anderes Mai noch sprechen. -
Erst die Entdeckung der Gravitationsgesetze machte das Welt-
bild zu einem, den ganzen Kosmos umfassenden, einheitlichen.
Die erhabene Idee einer iiberall und mit Notwendigkeit wirken-
den Ursache (Kraft), mefibar in ihren Wirkungen, daher zu ob-
jektiver Prufung geeignet, gewohnt den Menschengeist daran,
iiberall nach solcher Priifung zu suchen und stets danach zu stre-
ben, die Erscheinungen auf moglichst wenige Grundannahmen
zunickzufuhren .
Der Fortschritt europaischer Wissenschaft hangt wesentlich von
der Anwendung dieses Prinzips ab.
In der Tat, vieles dreht sich um die Anwendung dieses Prinzipes. Ich
habe Sie schon mehrfach darauf aufmerksam gemacht, wie ich als
zwolfjahriger Junge uberrascht wurde von einer Abhandlung im
Schulprogramm, in der versucht worden ist, die Erscheinungen in ei-
ner anderen Weise als durch Gravitation zu erklaren. Das hat mir
dazumal sehr viel Kopfzerbrechen gemacht, weil ich noch nicht sehr
bewandert war mit den Formeln, mit den Integral- und Differential-
formeln, mit denen die Abhandlung durchsetzt war. Ich kann Ihnen
aber doch sagen, um was es sich handelte, wenn ich das alles weglasse.
Denken Sie sich einmal die Erde hier, den Mond dort. (Es wird
gezeichnet. Zeichnung S. 166). Das heifit, durch den leeren Raum
\, ."""'ft
'J
hindurch wirkt die Erde auf den Mond; sie hat also eine Wirkung
in die Feme. Nun entstand sehr viel Nachdenken dariiber, ob eine
solche Wirkung in die Feme wirklich stattfinden kann. Viele waren
der Ansicht, daft ein Korper nicht da wirken kann, wo er nicht ist,
und andere sagten, dafi ein Korper da ist, wo er wirkt. Schramm [der
Yerfasser der erwahnten Abhandlung] sagt: Die ganze Gravitations-
lehre ist Mystik, denn sie nimmt an, dafi sich ein Weltenkorper ins
Unsichtbare erstreckt, um einen anderen anzuziehen. Ob es ein
Weltenkorper oder Molekiil ist, das sei ganz gleich. Die seien also in
bestimmter Entfernung da. Nun behauptet er das Folgende: Die
Weltkorper sind nicht allein da. Der Raum ist erfullt mit Korpern.
Da sind noch viele Korper. Die sind aber
auch nicht in Ruhe, sondern in fortwahrender
'-, Q ''-J; Bewegung. Wennwiruns nun vorstellen, daft
diese Korper alle in Bewegung sind, dann sto-
len sie fortwahrend auf diesen Korper, den
wir uns hier denken; ebenso stofien hier Kor-
per; aber es stoflen auch von innen Korper, so
dafi der Korper von alien Seiten gestoften
wird. Und nun rechnet er die Anzahl und
Wirkung dieser Stofie aus. Sie konnen das
sehr leicht sehen, daft hier kleinere Flachen
sind zum Gestofienwerden, und hier grdflere
Flachen. Dadurch aber, daft hier weniger Sto-
fie stattfinden konnen als da draufien, werden
die Korper zusammengetrieben. Sie haben
hier das Ergebnis der Anziehungskraft, zu-
sammengesetzt aus verschiedenen Stofien,
dadurch, dafi sie in verschiedener Anzahl
eben stattfinden. Also es trommelt da, es
trommelt da; also miissen weniger Stofie von
innen nach aufien als von auften nach innen
stattfinden. Die Korper haben daher die Ten-
denz, zusammenzukommen. Sie werden durch die einzelnen Stofie
zusammengetrieben .
'/'""V/
Dieser Mann [Schramm] versuchte, die Gravitationskraft durch
eine andere Art des Nahekommens zu ersetzen. Er versuchte die
Mystik in der Lehre von der Gravitation auszuschalten.
Von Paul Du Bois-Reymond wurde eine Abhandlung geschrie-
ben, in der mathematisch bewiesen worden ist, data solche Stofie nie-
mals moglich sind, welche der Erscheinung der Gravitation gleich-
kommen.
So geht die Wissenschaft in ihrer Arbeit vor; sie versucht aus un-
gewissen Voraussetzungen heraus zu Prinzipien zu kommen, diese
dann wieder umzustoflen, um wieder auf die alten Prinzipien zu-
ruckzukommen. Wenn die Auseinandersetzungen von Paul Du
Bois-Reymond richtig sind, so mufi man auf das Altere wieder zu-
riickkommen. Man kommt also auf das, was abgelehnt werden soll-
te, zuruck. Das ist ein interessanter Fall, der einem zeigen kann, wie
die Wissenschaft arbeitet.
Der Fortschritt europaischer Wissenschaft hangt wesentlich von
der Anwendung dieses Prinzips ab. Auf diesem Wege war es all-
mahlich gelungen, innerhalb der leblosen Natur immer mehr
und grofiere Gebiete von Erscheinungsformen zu vereinhekli-
chen, die Phanomene der Mechanik, der Warme, des Lichtes, des
Schalles, der Elektrizitat, des Magnetismus und der chemischen
Affinitat zuriickzufiihren auf Umwandlungen eines quantitativ
unzerstorbaren Etwas, was wir Energie nennen, und dessen mefi-
bare Grofte durch das Produkt der bewegten Masse mit dem Qua-
drate der Geschwindigkeit ausgedriickt wird.
- Das heiflt, es wird hier aufmerksam darauf gemacht, dafl wenn
man auf diese Art ein Weltbild bildet, man zu der Annahme einer
im Raume befindlichen Energie kommt. Ich habe schon darauf hin-
gewiesen, was der Naturforscher Ostwald gesagt hat, darl es nicht auf
die Ohrfeige ankommt, sondern auf die Energie, die dabei ange-
wendet wird. Und so konnen Sie, hypothetisch genommen, hier ei-
nen materiellen Korper haben: (Es wurde offensichtlich gezeichnet).
Wodurch nimmt man ihn wahr? Nur dadurch, daft man hier eine
andere Raumausdehnung konstatieren kann als in der Umgebung.
Das ist aber auch nur eine Rikkstofiung, geradeso wie Sie, wenn Sie
einen Korper sehen, nichts anderes wahrnehmen konnen, als was
mit einer gewissen Kraft auf die Augen wirkt. So kann Materie er-
setzt werden durch Energie. Was wir Materie nennen, kann iiberall
nur Energie sein, und so liefert die Beobachtung und das mathema-
tische Gesetz, nach dem die Bewegungen verlaufen, die Unterlage,
daft das Gesetz der Energie ausgedriickt werden kann durch das Pro-
dukt aus der bewegten Masse und dem Quadrat der Geschwindig-
keit. Das zu erortern, wiirde uns aber zu weit fiihren, es kann spater
einmal gemacht werden.
Bis jetzt ist keine beglaubigte Tatsache bekannt, welche inner-
halb der unbelebten Natur der Grundannahme der mechani-
schen Anschauung widersprache, dagegen haben sich unzahlige,
daraus logisch oder mathematisch abgeleitete Folgerungen, bei
empirischer Priifung bestatigt, und zwar bestatigt sich die gesetz -
mafiige Verkettung des Geschehens und die Unzerstorbarkeit
von Masse und Energie um so sicherer, je genauer die Priifung
vorgenommen wird, je geringer die moglichen Fehler bei den
Messungen sind.
Es wird hier darauf hingewiesen, daft ein gewisses umfassendes phy-
sikalisches Gesetz aus der Beobachtung gefolgert werden kann. Auf
dieses Gesetz konnen wir am leichtesten so kommen, daft wir sagen:
Wir haben eine gewisse Energie. Wir verwandeln diese in Warme.
Warme kann wiederum - wir sehen das an Dampfmaschinen und so
weiter - eine andere Umwandlung erleiden, sie kann umgewandelt
werden in eine andere Energie. Diese Verwandlung vollzieht sich in
entsprechenden Verhaltniszahlen. Das heiftt, wir werden zu dem so-
genannten Gesetze der Erhaltung der Energie gefuhrt, das heifit zu
dem Gesetze, das man so ausspricht: Im Weltall ist eine gewisse
Summe von Energie vorhanden. Die wandelt sich um. Wenn eine
gewisse Summe von Energie, sagen wir von Warme, verwandelt
wird, so verschwindet auf der einen Seite Energie, aber auf der ande-
ren Seite ist eine andere Energie da. Es findet also eine Umwandlung
der Energie statt. Das ist ein Gesetz, das eine wichtige Rolle spielt
und das in neuester Zeit auf das gesamte Weltbild auszudehnen ver-
sucht worden ist. Und damit kommen wir auf das nachste Kapitel:
Ausdehnung der mechanischen Vorstellung auf dm Organische
Das hat sich aber zahlenmafiig nur innerhalb der anorganischen
Welt, so weit wir von ihr durch unsere funf Sinne Eindriicke er-
halten, nachweisen lassen. Es ist begreiflich, dafi diese Vorstel-
lung des Gesetzmafligen auch auf die organische, die belebte
Natur, angewandt wird.
Es fragt sich aber, wie weit sind wir dazu berechtigt?
Das heifit also, wenn wir diese Energien vergleichen, das Energie-
gesetz anwenden, daft man es fur alles, was leblose, anorganische
Natur ist, anwenden kann und nun auch versucht, die organische
Natur mit demselben Gesetze zu umspannen. Datum heifk das
nachste Kapitel:
Unterschied zwischen leblosen und belebten Korpern
Worin besteht der Unterschied zwischen einem belebten und un-
belebten Korper?
Wir nennen einen Korper belebt, wenn in ihm stoffliche Veran-
derungen nicht nur nach physikalischen und chemischen Geset-
zen stattfinden, sondern aufier diesen, in der unbelebten Natur
allein wirkenden Kraften, auch noch andere, jeder Art und je-
dem Individuum eigentiimliche Krafte wirken, welche das
Wachsen, Fortpflanzen und Absterben jedes lebenden Einzel-
wesens bedingen.
- Es ist das Charakteristische der Lebewesen, dafi sie wachsen, sich
fortpflanzen und sterben. Bei dem Unorganischen finden wir das
nicht. Nun besteht aber die Tendenz in der mechanisch-materiali-
stischen Weltanschauung, dieselben Prinzipien, die auf die unorga-
nische Welt angewendet werden, auch auf die belebten Wesen, auf
das Organische anzuwenden. -
Ob wir diese Gesetze einer «Lebenskraft» oder sonst einer hypo-
thetischen Ursache zuschreiben, - Tatsache ist, daft die Kluft
zwischen Organischem und Unorganischem bis jetzt nicht iiber-
briickt worden ist und daft, je genauer die Beobachtungen ange-
stellt werden, um so sicherer sich herausstellt, daft Lebendiges
nur aus Lebendigem entsteht.
Nun folgt ein Satz, den man unzahlige Male angefiihrt findet; er
heifit hier:
Die entgegengesetzte Annahme: das Lebendige sei nur eine an-
dere Anordnung des Leblosen, ist einstweilen eine durch keine
Tatsache bestatigte Hypothese.
- Aber ich habe auch ein anderes angefiihrt, und es ist wichtig, daft
man mit Bezug auf diesen Gesichtspunkt auch das andere ins Auge
fafit. Man konnte namlich glauben, daft die Giiltigkeit einer spiri-
tuellen Weltanschauung davon abhange, daft man nicht beweisen
kann, wie aus anorganischen Substanzen ein Lebendiges entsteht. Es
hat aber eine lange Zeit gegeben, die auf dem Boden der spirituellen
Weltanschauung gestanden hat, und doch glaubte, man konne
einen Homunkulus laboratoriumsmaftig herstellen. Man hat also die
spirituelle Weltanschauung nicht immer davon abhangig gemacht,
daft man aus Leblosem nicht Lebendiges erstehen lassen kann. Es ge-
hort unserer Zeit an, zu betonen, daft Lebendiges nur aus Lebendi-
gem entsteht, und daft daran die spirituelle Weltanschauung hangt.
Ich habe schon oft gesagt, wie Francesco Redi erst vor etwa 200 Jah-
ren den Satz aufgestellt hat: «Lebendiges kann nur aus Lebendigem
kommen», und es als unrichtig nachgewiesen hat, daft aus Unleben-
digem Lebendiges entstehen kann. Es ist auch wichtig, daft von der
Wissenschaft darauf hingewiesen wird, daft zwischen dem Organi-
schen und dem Unorganischen eine Kluft besteht. Ferdinand Cohn
hat bei der Naturforscherversammlung in Berlin betont, daft die Ge-
setze, die man anwendet, um das Anorganische zu beweisen, nicht
hinreichen, um das Organische zu beweisen. Bunge aus Basel konn-
te angefiihrt werden; und Julius Wiesner, der Botaniker, sagt: Je
weiter die Botanik fortschreitet, desto mehr zeigt sich, wie eine Kluft
besteht zwischen dem Anorganischen und dem Organischen. -
Wrangell sagt daher:
Wir miissen also, wollen wir innerhalb des zur Zeit wissenschaft-
lich Festgestellten bleiben, - zwei wesentlich verschiedene Gruppen
von Erscheinungen unterscheiden: Lebendiges und Unbelebtes.
Das nachste Kapitel heifit:
Das Bewufitsein
Uns Menschen tritt durch innere Erfahrung noch ein Phanomen
entgegen: das Bewufitsein mit seinen Aufierungen, die da sind:
Empfinden, Denken, Wollen.
Wir haben keinen zwingenden Grund zur Annahme, dafi auch
die Pflanze denkt und will, und sind, ohne den Boden der Erfah-
rung zu verlassen, berechtigt, innerhalb des organischen Reiches
noch den Unterschied zu machen zwischen dem unbewuiken
Pflanzlichen und dem bewufiten Tierischen.*
- Wir haben oftmals davon gesprochen, dafi es Leute gibt, die den
Unterschied zwischen dem Pflanzlichen und Tierischen verwischen
wollen, die behaupten, dafi Pflanzen lebendige Wesen anziehen
und verschlingen. So ein Wesen kennen Sie auch, das in die Nahe
kommende Wesen anzieht und sie dann verschlingt: das ist namlich
eine Mausefalle. Und dennoch braucht man nicht anzunehmen, dafi
eine Mausefalle ein Tierisch-Seelisches in sich habe. -
Alle Erscheinungen, die mit dem Bewufitsein zusammenhangen,
nennen wir «geistige Erscheinungen*.
- Wir wiirden genauer zu sagen haben «Alle Erscheinungen, welche
wir zu einem Bewufitsein bringen», denn wir miissen in der Geistes-
wissenschaft auch dasjenige geistig nennen, was nicht astralischer
Leib und Ich sind. Wenn Sie nur im physischen Leib und Atherleib
sind, dann haben wir es nicht mit Bewufitsein, sondern mit geistiger
Tatigkeit zu tun. -
* Hier folgt in der Broschiire noch die Fufinote: «Diejenigen, welche keinen grundsatzlichen
Unterschied zwischen Pflanze und Tier anerkennen, behalten die Scheidung nur aus Ruck-
sichten grofierer Ubersichtlichkeit.»
So scheint die Welt, soweit wir ihrer vermittelst unserer fiinf Sin-
ne und unseres Denkvermogens gewahr werden, drei voneinan-
der wesentlich verschiedene Prinzipien zu enthalten: die in ihrer
Masse und in ihren Eigenschaften unwandelbare Materie, das sei-
nen eignen Gesetzen gehorchende Leben und das Geistige.
- Ich mochte noch darauf hinweisen, dafi selbst Philosophen, die au-
fterhalb der Geisteswissenschaft stehen, wie Eduard von Hartmann
und andere, von einem unbewuiken Geistigen gesprochen haben, so
dalS man . . . [Liicke in der Nachschrift]
In der Wissenschaft, welche das Unorganische zum Objekt hat,
bewahrt sich, wie bereits gesagt, die Annahme, dafi Ursache und
Wirkung in einem zahlenmafiig festen Verhaltnis zueinander ste-
hen, dafi alles Geschehen innerhalb dieser Welt des Unbelebten
dem strengen Gesetz der Notwendigkeit folgt.
Die biologische Wissenschaft, welche sich die Erforschung der Le-
benserscheinungen zur Aufgabe stellt, geht dem Wesen jeder
Wissenschaft gemafi, von der gleichen Annahme aus. Da jedoch
bei vielen Lebenserscheinungen das Messen, folglich die zahlen-
mafiige Pruning des gesetzmaftigen Verlaufs der Veranderungen
(also des Geschehens) nicht anwendbar ist, kann auf dem Gebiet
der Biologie das Herrschen der notwendigen, unabanderlichen
Verkniipfung von Ursache und Wirkung nicht einwandfrei nach-
gewiesen werden. Es spricht aber nichts dagegen, und die innere
Wahrscheinlichkeit, sowie die Analogie mit dem uns sicher Be-
kannten spricht dafur. Jedenfalls raufi diese Annahme aller wis-
senschaftlichen Forschung zugrunde gelegt werden, denn deren
Aufgabe besteht ja im Entdecken dieser Gesetze.
Nun habe ich bei verschiedenenVortragen darauf hingewiesen, wie
man in der neueren Zeit bemiiht ist, die zahlenmafiige Konstanz bis
hinauf in die tierischen und menschlichen Erscheinungen zu verfol-
gen. So versuchte zum Beispiel Rubner nachzuweisen, wieviel War-
meenergien in der Nahrung enthalten sind, die ein bestimmtes Tier
bekommt; und dann versuchte er nachzuweisen, wieviel Warme bei
seinen Lebenserscheinungen das Tier entwickelt. Aus der sich erge-
benden konstanten Zahl ergibt sich, daft die mit der Nahrung aufge-
nommene Warme in der Tatigkeit wieder zum Vorschein kommt.
Die Tatigkeit wiirde umgewandelte Nahrung sein.
Ein anderer Forscher hat das auf das Seelische ausgedehnt, in-
dem er eine Anzahl von Studenten gepriift hat. Das Prinzip, zahlen-
maflige Verhaltnisse einzusetzen, ist ganz gut. Das kann auf alle
diese Erscheinungen angewendet werden. Wir werden morgen davon
sprechen, inwiefern das ganz richtig ist. Aber logisch ist die Sache
gewohnlich sehr kurzsichtig gehalten, denn es konnte ja jemand
nach denselben Jogischen Gesetzen, nach denen Rubner vorgeht,
priifen, wie die Geldwerte oder die Aquivalente dafiir, die in die
Bank hineingetragen werden, und ebenso alle, die herausgetragen
werden, sich entsprechen. Die miissen ja einander entsprechen.
Wenn man daraus schliefien wiirde, daft keine Menschen in der
Bank seien, die das machen, so ware das sicher falsch. Wenn man die
Nahrung, die in den Organismus eingefuhrt wird, und die wie-
der herauskommende Energie priift und einander entsprechend
findet, so diirfte man nicht annehmen, daft nichts Seelisches dabei
vorhanden ist.
Dann kommt ein weiteres Kapitel:
Die geistigen Erscheinungen
Betrachten wir die geistigen Erscheinungen, so sind sie, fur die
gewohnliche sinnliche Beobachtung, an gewisse materielle Be-
dingungen gekniipft, und dadurch konnte die materialistische
Auffassung entstehen, wonach geistige Erscheinungen iiber-
haupt nicht vorhanden waren, ohne die materielle Grundlage
eines Lebewesens mit seinem Gehirn, Nerven usw.
- Diese Annahme ist so stark entstanden, daft Du Bois-Reymondbzi
einer seiner Reden gesagt hat, wenn man von einer Weltseele spre-
chen wolle, so miisse man nachweisen, wo das Weltgehirn ist. Also
er sagte: Wollt ihr von einer Seele der Welt sprechen, so mufit ihr
nachweisen, wo ein Gehirn der Welt ist. - So sehr hat man das ins
Materialistische umgedeutet, weil man, wenn man den Menschen in
der physischen Welt beobachtet, sieht, daft alles Seelische an das Ge-
hirn gebunden ist. -
Gegen diese Auffassung hat von jeher bei den meisten Menschen
eine innere Abneigung geherrscht, und der Glaube an eine selb-
standige Existenz geistiger Wesenheiten sowie an deren Wechsel-
wirkung mit der uns vertrauten Sinneswelt, ist in den verschie-
densten Formen religioser und spiritualistischer Vorstellungen
zum Ausdruck gekommen.
Sehr viele Tatsachen, welche als unmittelbare Bestatigungen sol-
cher Ansicht gelten sollen, beruhen gewift auf Tauschung und
Wahn.
- Wir haben ja auch einiges von diesen Tauschungen und diesem
Wahn in den letzten Zeiten hier durchgemacht. Es ist von grofler
Wichtigkeit, daft der, der auf dem Boden der geisteswissenschaftli-
chen Weltanschauung steht, frei von Tauschung und Wahn ist. -
Es ist aber in letzter Zeit wohlbeglaubigtes Tatsachenmaterial zu-
sammengebracht worden, welches zu seiner Erklarung die An-
nahme einer spirituellen Welt als die wahrscheinlichste Hypothe-
se erscheinen lafit, daft es jetzt unwissenschaftlich ware, letztere
einfach von der Hand zu weisen, - wie es noch vor wenigen Jahr-
zehnten geschah.
Und nun wird das in dem folgenden Kapitel weiter besprochen:
Die okkulten Vahigkeiten des Menschen
Wenn schon zahlreiche, mit den gewohnlichen Sinnen wahr-
nehmbare Tatsachen eine spiritualistische Deutung nahelegen,
wenn nicht gar erheischen, so kommt noch hinzu, daft viele
glaubwiirdige Menschen behaupten, aufter den funf Sinnen noch
andere bei den meisten Menschen nicht entwickelte Wahr-
nehmungsorgane zu besitzen, die ihnen gestatten, in direkten
Verkehr mit der Geisteswelt zu treten.
Daft die funf Sinne des Menschen nicht alle Moglichkeiten der
Wahrnehmungsfahigkeiten erschopfen, ist ja schon a priori an-
zunehmen und wird durch manche Erscheinungen in der Tier-
welt bestatigt. Es liegt also keine Berechtigung vor, es zu bestrei-
ten, sondern es ist wissenschaftliche Pflicht, die betreffenden
Tatsachen sorgfaltig, vorurteilsfrei zu priifen, was ja auch jetzt
seitens vieler hervorragender Vertreter der exakten Wissenschaf-
ten geschieht.
Fur sehr viele Menschen, die selbst okkulte Erlebnisse haben oder
von glaubwiirdigen Personen davon erfahren, ist die Existenz gei-
stiger Welten eine erwiesene Tatsache, und die Moglichkeit,
durch Eindringen in dieselben Einblick in die Ratsel der Welt zu
gewinnen, keinem Zweifel unterworfen.
Seit jeher haben sich aus solchen vermeintlichen oder wirklichen
Einblicken Lehren ausgebildet, die bald als Geheimlehren unter
Auserwahlten verbreitet, bald als offen gelehrte Religionssysteme
auftreten. Von den grofien Weltreligionen ist die europaische
Kulturwelt aufs engste mit der christlichen Lehre verwoben.
Nun ist es wichtig, dafi wir eine solche Auseinandersetzung beniit-
zen, um daran anzukniipfen, wie die Geisteswissenschaft sich dazu
stellt. Die Geisteswissenschaft steht heute, wenn sie mit allem, was
die Menschheitsentwickelung bis heute durchgemacht hat, rechnet,
auf dem Standpunkte, zunachst nicht so sehr zu betonen, dafi es
aufier den fiinf Sinnen des Menschen noch andere Wahrnehmungs-
organe schon gibt - Sie wissen, wenn Sie auf vieles zuriickblicken,
was wir durchgenommen haben, dafi es andere Organe gibt son-
dern zu betonen, dafi andere Wahrnehmungsorgane gebildet wer-
den konnen. In «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Wel-
ten? » ist ja beschrieben, was man zu tun hat, damit solche Organe
gebildet werden konnen. Es ist wichtig, dafi die Geisteswissenschaft
von heute in einem zwar anderen Sinne, aber doch in gewissem Sin-
ne dieselbe Allgemeingultigkeit in Anspruch nimmt wie die andere
Wissenschaft. Die andere Wissenschaft versucht Erkenntnisse zu ge-
winnen, die fur alle Menschen gelten. Die Geisteswissenschaft sucht
solche Wahrnehmungsorgane auszubilden, die von alien Menschen
ausgebildet werden konnen. Kann der Wissenschafter priifen, was
da behauptet wird, so kann derjenige, der die geistigen Organe
ausbildet, priifen, was die Geisteswissenschaft behauptet. Die ge-
wohnliche Wissenschaft rechnet mit jenen Fahigkeiten, die schon
da sind, die Geisteswissenschaft mit solchen, die entwickelt werden
konnen.
Nun wollen wir einmal das Prinzip, nach dem die Fahigkeiten
entwickelt werden, ins Auge fassen. Wie diese Fahigkeiten ent-
wickelt werden, finden Sie im einzelnen konkret geschildert in
«Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?». Jetzt will
ich nur kurz deklarieren, wie man solche Fahigkeiten aufzufas-
sen hat.
Wenn eine Symphonie gespielt wird, so sind im Raume eigent-
lich nichts weiter als Luftschwingungen vorhanden. Diese Luft-
schwingungen kann man auch mathematisch berechnen. Und wenn
man geniigend viele Berechnungen anstellte, konnte man die ganze
Beweglichkeit, die im Instrument und in der Luft stattfindet,
mathematisch ausdriicken als die Summe der Bewegungstatsachen.
Man konnte von der Symphonie, die man anhort, ganz abstrahieren
und sich sagen: Die Symphonie Beethovens ist mir egal; ich will
Mathematiker sein und untersuchen, was da fur Bewegungszustande
herrschen. - Wenn man so verfuhre, wiirde man die Symphonie ge-
strichen und nur die Bewegungszustande haben. Aber Sie werden
zugeben mussen, dafi die Symphonie aufierdem noch da ist. Sie ist
nicht wegzuleugnen und etwas anderes als das blofie Bild der Bewe-
gungszustande. Was ist da geschehen? Es ist doch eigentlich nur
von Beethoven in einer gewissen Weise veranlafit worden, dafi solche
Bewegungszustande entstehen. Das gibt aber noch keine wirkliche
Symphonie.
Wenn Sie sich nun vorstellen, dafi ein Mensch alle jene Fahigkei-
ten, die man sonst anwendet, um die aufiere physische Welt zu er-
kennen, anwendet, um solche Gesetze zu bekommen, wie die intui-
tiven Gesetze der Mathematik und Logik es sind, also die Gesetze,
die der Mensch entwickelt dadurch, dafi er ein denkender Mensch
ist, und wenn er mit diesen Gesetzen sich selber so behandelte, wie
der Komponist die Bewegungszustande der Luft, wenn er die Fahig-
keiten der Mathematik und Logik und andere Fahigkeiten nicht so
hinnimmt, wie sie sind, sondern innerlich bearbeitet, dann entsteht
in ihm etwas, das etwas anderes ist als die empirischen Fahigkeiten
der Logik, der Mathematik und der empirischen Forschung. Verglei-
chen Sie dies und die Behandlung, die der Komponist der Luft an-
gedeihen laftt, mit dem, was man innerlich macht, und betrachten
Sie das, was da herauskommt, dann haben Sie die Moglichkeit zu sa-
gen: Da ist ein Mensch, der hat die Fahigkeit, empirisch zu forschen,
die Fahigkeit, mathematische und logische Urteile zu bilden, das ist
geradeso wie eine Summe von Bewegungszustanden, die in den In-
strumenten und in der Luft sind. Aber wenn man diese wieder in ge-
wisser Weise behandelt, so entsteht eine Symphonie, ein musikali-
sches Kunstwerk. Die Gesetze, durch die man sich selber behandelt,
sind eben solche, wie sie in meinem Buche «Wie erlangt man Er-
kenntnisse der hoheren Welten?» angegeben sind. Dann entsteht et-
was, was sich erst entwickelt, was eine Folge der menschlichen Tatig-
keit ist. Und so wie der, welcher ein musikalisches Ohr hat, nicht
bloft die Schwingungen der Instrumente und der Luft wahrnimmt,
so nimmt der, welcher die inneren Sinne ausgebildet hat, nicht bloft
die sinnliche, die mathematische und nicht bloft die logische Welt
wahr, sondern er nimmt auch die geistige Welt wahr. Diese Erzie-
hung eines Neuen auf Grundlage des Vorhandenen fuhrt dazu, daft
man sich hineinarbeitet in eine geistige Welt. So handelt es sich fur
die Geisteswissenschaft darum, anzuerkennen, daft die Fahigkeiten,
die der Mensch schon hat, fortbildbar sind, so wie fortbildbar sind
die Bewegungen der Instrumente und der Luft. Auf dieser Fortbild-
barkeit beruht es, daft der Mensch sich hinentwickeln kann zu einer
Auffassung der Welt, die ihm etwas gibt, was er ohne diese Fortbil-
dung nicht wahrnimmt. Das Wesentliche bei der Geisteswissen-
schaft ist, daft sie hinweist auf die Moglichkeit der Fortentwickelung
gewisser Fahigkeiten; nicht auf das Dasein schon vorhandener, son-
dern auf die Fortbildung derselben. Und dann ist es richtig, wenn
Wrangell sagt, daft in den verschiedenen Religionssystemen hinge -
wiesen wird auf dasselbe wie in den Geheimlehren.
Das nachste Kapitel heiftt:
Wesen derLehre Jesu
Wenn man das alien zahllosen Deutungen der Lehre Jesu Ge-
meinsame als das Wesen des Christentums ansieht, so besteht es
in der «frohen Botschaft», daft der Schopfer und Lenker des Welt-
alls dem Menschen, den er nach seinem Ebenbild geschaffen, ein
lieber Vater ist, daft Liebe zu Gott und den Mitmenschen das
hochste sittliche Gebot ist, daft die Seele des Menschen unver-
ganglich ist und daft ihr nach dem Tode ein Los bereitet wird,
weches dem sittlichen Verhalten des Menschen wahrend seines
Lebens entspricht.
- So, wie wir mit dem Instruments der Geisteswissenschaft das
Wesen des Christentums ausgebildet haben, mufi man sagen, daft
das, was hier ausgesprochen wird, zwar der Inhalt der Lehre Jesu ist,
aber nicht das Wesen des Christentums. Das Wesen des Christen-
tums besteht darinnen, daft in der Zeit eine Entwickelung stattge-
funden hat, indem eine Befruchtung des Menschen Jesu mit der
Gottheit stattfand, das heiftt, daft ein Wesen, das bis dahin nicht
mit der Erde verbunden war, sich durch den bekannten Vorgang mit
derselben verbunden hat, wodurch also die Zeit in einen vorchristli-
chen und einen nachchristlichen Abschnitt eingeteilt wird. Dieses
Erkennen vom Erscheinen des Christus-Wesens auf der Erde gehort
zum Wesen des Christentums hinzu. -
Die augenfalligen Verirrungen, in welche die organisierten
christlichen Gemeinschaften, die historischen Kirchen, gerieten,
haben ihre Dogmen in Gegensatz zu manchen festbegrundeten
wissenschaftlichen Errungenschaften gebracht und dadurch den
Konflikt zwischen Glauben und Wissen, Religion und Wissen-
schaft, der das geistige Leben der europaischen Kulturwelt zer-
setzt, hervorgerufen.
Aus dieser Sachlage heraus ist das Interesse zu erklaren, welches
sich anderen Religionssystemen zugewandt hat, welche den An-
spruch erheben, mit der Wissenschaft nicht nur in Einklang zu
sein, sondern sie auch noch zu erweitern.
Unter diesen Lehren verdient die Theosophie besondere Beach-
tung. Seit die europaische Kulturwelt durch H. P. Blavatsky auf
diese, aus Indien stammende Lehre aufmerksam gemacht wurde,
hat sie verschiedene Darstellungen gefunden.
Immer, wenn das Wort «Theosophie» ausgesprochen wird, ist es
wichtig, auf das, was Geisteswissenschaft ist, und auf das, was theo-
sophische Weltanschauung ist, aufmerksam zu machen.
Morgen glaube ich zu Ende kommen zu konnen. Ich mufi aber
noch besprechen, inwiefern Blavatsky s Lehre aus Indien und inwie-
fern sie nicht aus Indien stammt, und ich mufi dabei auf einiges ein-
gehen, was die Geisteswissenschaft von vielem, was Theosophie ge-
nannt wird, abtrennt. Also davon morgen.
VIERTER VORTRAG
Dornach, 3. September 1915
Wir fahren nun fort mit den Interpretationen, die wir an die Wran-
gell-Broschure «Wissenschaft und Theosophie» angekniipft haben.
Wir sind stehengeblieben bei dem Kapitelchen «Wesen der Lehre
Jesu», nach dem das Wesen der Lehre Jesu bestehen soli «in der <fro-
hen Botschafb , daft der Schopfer und Lenker des Weltalls dem Men-
schen, den er nach seinem Ebenbild geschaffen, ein lieber Vater ist,
daft Liebe zu Gott und den Mitmenschen das hochste sittliche Gebot
ist, daft die Seele des Menschen unverganglich ist und daft ihr nach
dem Tode ein Los bereitet wird, welches dem sittlichen Verhalten
des Menschen wahrend seines Lebens entspricht.»
Wir mufken darauf aufmerksam machen, daft man wohl die Leh-
re Jesu so umschreiben kann, daft aber das Wesen des Christentums
im geisteswissenschaftlichen Sinne nicht getroffen wird, wenn man
sich nicht bewufit wird, wie in dem Erscheinen des Chrisms in Jesus
von Nazareth und in dem Mysterium von Golgatha Tatsachen vorlie-
gen, welche von dem verstanden werden mussen, der allmahlich sich
in das Wesen des Christentums hineinfinden will. Diese Tatsachen
gehoren zum Wesen des Christentums. Das Christentum ist, ich
habe das oftmals ausgesprochen, nicht bloft eine Lehre, sondern um-
fafit eine Tatsachlichkeit und diese Tatsachlichkeit, die man als das
«Mysterium von Golgatha» ausdriicken kann, zu verstehen, gehort
mit zum Verstandnis vom Wesen des Christentums.
Dann wird darauf aufmerksam gemacht, daft die verschiedenen
Religionen einen Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft her-
vorgerufen haben: «Die augenfalligen Verirrungen, in welche die or-
ganisierten christlichen Gemeinschaften, die historischen Kirchen,
gerieten, haben ihre Dogmen in Gegensatz zu manchen festbegriin-
deten wissenschaftlichen Errungenschaften gebracht und dadurch
den Konflikt zwischen Glauben und Wissen, Religion und Wissen-
schaft, der das geistige Leben der europaischen Kulturwelt zersetzt,
hervorgerufen. Aus dieser Sachlage heraus ist das Interesse zu erkla-
ren, welches sich anderen Religionssystemen zugewandt hat, welche
den Anspruch erheben, mit der Wissenschaft nicht nur in Einklang
zu sein, sondern sie noch zu erweitern. Unter diesen Lehren verdient
die Theosophie besondere Beachtung. Seit die europaische Kultur-
welt durch H. P. Blavatsky auf diese, aus Indien stammende Lehre
aufmerksam gemacht wurde, hat sie verschiedene Darstellungen
gefunden.»
Vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus mufi insbesonde-
re darauf hingewiesen werden, dafi dasjenige, was die Geisteswissen-
schaft der modernen Menschheit notwendig ist, nicht als eine aus In-
dien stammende Lehre bezeichnet werden darf , sondern dafi sie sich
rein aus sich selbst heraus, aus den Impulsen des gegenwartigen Ent-
wickelungszyklus heraus gebildet hat. Und wenn Aufienstehende im-
mer wieder und wieder unserer Geisteswissenschaft gegeniiber auf
eine Verwandtschaft mit indischen Lehren hinweisen, so kommt das
nur davon her, dafi dem Abendland die Auffassung von den wieder-
holten Erdenleben so fremd geblieben ist, dafi jeder, der von den
wiederholten Erdenleben hort, gleich an Indien denkt, weil dort die-
se Lehre innerhalb der Religionsvorstellungen zum Dogma gewor-
den ist. Allein wichtig ist, immer wieder zu betonen, dafi das, was
unser geisteswissenschaftlicher Inhalt ist, aus den Bediirfnissen der
Gegenwart selbst sich aufbaut und nicht eine von da oder dort her-
stammende Lehre ist, sondern aus sich selbst erfafit und begriffen
werden soil.
Schliefilich mufi auch hinsichtlich Blavatsky s gesagt werden, dafi
sie zuerst mit ihren Lehren, wie sie sie zum Beispiel in der «Ent-
schleierten Isis» zum Ausdruck gebracht hat, ganz unabhangig war
von jeder orientalisierenden Kulturstromung; dafi das, was in den
ersten Zeiten von ihr geschrieben worden ist, ganz der europaischen
Geisteskultur angehort. Nur ist es dann durch verschiedene Verwick-
lungen dazu gekommen, dafi Blavatsky sich immer mehr und mehr
zu dem Indischen hingezogen fuhlte. Dadurch hat sie der von ihr
stammenden und auf sie schworenden Stromung eine Art indischer
Vignette aufgedriickt, die wiederum weggenommen werden mufi,
weil es unmoglich ware, in der neueren Kultur mit irgendeinem al-
ten Religionssystem auch nur das Allergeringste zu Recht bewerk-
stelligen zu konnen. Das ist aufierordentlich wichtig; es bleibt auch
wichtig fur die Betrachtung des besonders interessanten Kapitels un-
serer Broschiire, in dem die theosophischen Lehren zusammenge-
stellt werden. Das Kapitel heiflt: «Wesen der theosophischen Leh-
ren. » Herr von Wrangell schildert hier nicht etwa, was die Geistes-
wissenschaft unmittelbar als solche ist, sondern dasjenige, was er in
der Literatur der verschiedenen Weltanschauungen, die sich theoso-
phisch nennen, gefunden hat. Ich werde dieses Kapitel lesen und
dann wollen wir unsere Betrachtungen daran kniipfen. Also:
Wesen der theosophischen Lehren
Die wesentlichsten Annahmen, welche den verschiedenen Dar-
stellungen und Auffassungen der Theosophie gemein sind, kann
man folgendermafien ausdriicken.
1. Es bestehen aufier der, durch unsere fiinf Sinne wahrnehmba-
ren Welt, noch andere, geistige Welten, von denen jede hohere
Welt auf die niederen einwirkt.
2. Es gibt Menschen, die aufier den gewohnlichen fiinf Sinnen
noch andere Wahmehmungsmoglichkeiten haben, sogenannte
«okkulte Sinne».
3. Gedanken, Gefuhle, Willensimpulse, kurz, das, was wir im
menschlkhen Erleben als «geistige Erscheinungen» bezeichnen,
sind - auch wenn sie sich in der Sinneswelt nicht als Worte oder
Taten geauitert haben, lebendige Wesenheiten, zu Wirkungen
in den geistigen Welten und mittelbar in der Sinneswelt be-
fahigt.
4. Das seelische Leben jedes Menschen hinterlalk unvergangliche
Spuren in den hoheren Welten, die in ihrer Gesamtheit von den
Geheimforschern als «Akasha-Chronik» bezeichnet wird und
von einigen dazu befahigten Menschen (Eingeweihten) erforscht
werden kann.
5. Der lebendige Mensch ist nicht ein einfaches, aus dem beleb-
ten Korper bestehendes Wesen, sondern der physische Korper ist
nur das Werkzeug, vermittelst dessen das eigentliche Wesen des
Menschen, sein unzerstorbares «Ich», mit der physischen Welt in
Beziehung treten kann. Diese Beziehungen werden vermittelt
durch Zwischenglieder: erstens den «atherischen Leib», der Tra-
ger des unbewuftten, vegetativen Lebens ist und die materiellen
StofFe des Korpers seinen eigenen Gesetzen gemafi gestaltet;
zweitens «Astralleib», Trager der Begierden, Leidenschaften,
Triebe.
6. Das «Ich» des Menschen, Trager seines Selbstbewufitseins, ist
mit Freiheit begabt, d.h. er kann seine Begierden, Willensimpul-
se, Gedanken usw. leiten, ihnen Ziel und Richtung setzen.
7. Je nachdem ob das Ich die sich ihm im Leben bietenden aufie-
ren Moglichkeiten den ewigen Gesetzen und dem Zweck des
Weltganzen gemafi ausnutzt oder aber es verabsaumt, gestaltet
es sein «Karma», d.h. das im Weltganzen ihm zukommende Mafi
von Befriedigung oder Pein.
8. Nach dem leiblichen Tode durchzieht das unsterbliche «Ich»
des Menschen verschiedene geistige Welten, die Summe der
Ewigkeitswerte, die es im irdischen Leben gewonnen hat, mit sich
fuhrend. Nach einer, fur jedes Einzelwesen verschiedenen Zek-
dauer tritt das «Ich» die Riickwanderung an, aus den hoheren
Welten in die niederen, bereichert um die in jenen Welten ge-
wonnenen Einblicke und beginnt, durch Wiederverkorperung,
ein neues Erdenleben, welches sich je nach sein em Karma und je
nach den Bestrebungen seines veranderten «Ich» gestaltet.
9. Das Weltgeschehen wird, dem Zwecke des Ganzen gemafi,
von geistigen Wesenheiten geregelt, die - fordernd oder hem-
mend, je nach ihrer Beschaffenheit oder Willensrichtung, in das
Geschehen eingreifen.
10. Diese Wesenheiten sind, ihrer Wirkungssphare und Macht
gemafi, hierarchisch gegliedert und unterliegen, wie alles in der
Welt, der Entwickelung von niederem zum hoheren.
1 1 . Das oberste Gesetz alles Weltgeschehens ist «freies Opfer aus
Liebe». Die das All umfassende Gottheit hat, diesem Gesetze fol-
gend, sich durch Manifestation in der Aufienwelt geopfert, in-
dem sie die aus ihr entstammenden geistigen Wesenheiten mit
der Fahigkeit freier Willensimpulse ausstattete. Der durch diese
Tat ins Leben gerufene Kosmos ist seiner Entwickelung iiber-
lassen.
12. Diese Entwickelung fuhrt durch Aonen hindurch vom unbe-
wufiten zum bewufiten Erfassen des obersten Weltgesetzes und
durch Verwirklichung desselben zur Wiedervereinigung des Ein-
zelnen mit dem Ganzen.
Wir wollen nun die einzelnen Punkte durchgehen. Unter 1. heifit
es: «Es bestehen aufier der, durch unsere fiinf Sinne wahrnehmbaren
Welt, noch andere, geistige Welten, von denen jede hohere Welt
auf die niederen einwirkt.» Wir konnen damit einverstanden sein.
Unter 2. heifit es: es gibt sogenannte okkulte Sinne. - Ich habe
schon gestern gesagt, dafi es notwendig ist zu betonen, dafi die Gei-
steswissenschaft auf dem Standpunkte steht, dafi durch besondere
Behandlung der gewohnlichen Fahigkeiten auch geistige Wahrneh-
mungsfahigkeiten im Menschen herangebildet werden konnen, und
dafi es im heutigen Entwickelungszyklus auf diese methodisch her-
angebildeten Fahigkeiten vorzugsweise ankommt. Man kann auch
solche Fahigkeiten, welche noch aus friiheren Zeiten stammen, im
Menschen ftnden. Sie konnen zwar geweckt werden, da sie fast in je-
dem Menschen vorhanden sind, aber sie miissen so entwickelt wer-
den, wie es in «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten ?»
geschildert ist. Es ist also nicht gut, das so zu sagen wie es Herr von
Wrangell sagt, sondern man miifite sagen: Es ist moglich, dafi der
Mensch, so wie er seine fiinf Sinne durch die vorgeburtliche Ent-
wickelung heranbildet und sie weiterentwickelt im aufiermiitterli-
chen Dasein, er auch innere Krafte entwickelt im rein Geistigen; Fa-
higkeiten entwickelt, um rein geistige Welten zu schauen. Solche
Fahigkeiten sind bewufite Umwandlungen alterer Fahigkeiten, die
fur friihere Erdenepochen angemessen waren, und die in jedem
Menschen schon von selber erwachen, entweder durch aufiere Veran-
lassung oder wahrend der systematischen Heranbildung durch die
Methoden, die in «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Wel-
ten?» geschildert sind. Der Ausdruck «okkulte Sinne» sollte vermie-
den werden, denn man kann nicht sagen, daft der Mensch okkulte
Sinne bekommt, sondern es ist eine ganz andere Art des Wahrneh-
mens. Man sollte das, was sich aus dem, was man die Lotosblumen
nennt, organisiert, nicht Sinne, sondern hochstens Sinnesfahigkeit
nennen.
Unter 3. heifit es: «Gedanken, Gefiihle, Willensimpulse, kurz
das, was wir im menschlichen Erleben als <geistige Erscheinungen>
bezeichnen, sind - auch wenn sie sich in der Sinneswelt nicht als
Worte oder Taten geauftert haben, lebendige Wesenheiten, zu Wir-
kungen in den geistigen Welten und mittelbar in der Sinneswelt be-
fahigt.» - Nun, das ist oftmals sehr genau beschrieben worden, be-
sonders in der letzten Zeit, wo ich das Ubergehen der Wahrneh-
mung der Gedanken in das Erleben der lebendigen Gedanken ge-
schildert habe. Und es wiirde sogar besser sein, wenn man sagen
wiirde: Dasjenige, was im Menschen als Gedanken, Gefiihle und
Willensimpulse erscheint, ist, so wie es dem Menschen in der Seele
erscheint, das Abbild von Wesenheiten der hoheren Welten, der
elementarischen Welt und den noch hoheren Welten, so daft wir
eigentlich in dem, was wir zunachst als Gedanken, Gefiihle und
Willensimpulse haben, ebenso die wahre Wirklichkeit haben, in
derselben Art, wie man in den Sinneswahrnehmungen die wahre
Wirklichkeit hat. Sie liegt ebenso hinter dem einen wie hinter dem
anderen.
Der 4. Punkt heiftt: «Das seelische Leben jedes Menschen hinter-
lafit unvergangliche Spuren in den hoheren Welten, die in ihrer
Gesamtheit von den Geheimforschern als <Akasha-Chronik> be-
zeichnet wird und von einigen dazu befahigten Menschen (Einge-
weihten) erforscht werden kann.» - Das ist oftmals geschildert wor-
den, und es ist von ganz besonderer Bedeutung, daft man eben das
in Rechnung zieht, daft man sogleich, wenn man in die Akasha-
Welt eintritt, in eine lebendige Welt eintritt und nicht in eine Welt
toter Bilder.
Dann wird unter 5. darauf aufmerksam gemacht, daft der Mensch
aus verschiedenen Gliedern seiner Wesenheit besteht. Das wissen
Sie viel genauer anzugeben als es hier angegeben ist.
Wie es mit dem 6. Punkt steht, bezuglich der Freiheit, so haben
wir oft davon gesprochen, dafi man den Menschen auf seinem Wege
der Freiheit zufuhrt, dafi der Mensch immer freier und freier wird.
Punkt 7 iiber Karma, das kennen Sie auch ganz genau.
Punkt 8 heifk: «Nach dem leib lichen Tode durchzieht das un-
sterbliche <Ich> des Menschen verschiedene geistige Welten, die
Summe der Ewigkeitswerte, die es im irdischen Leben gewonnen
hat, mit sich fuhrend. Nach einer, fur jedes Einzelwesen verschie-
denen Zeitdauer tritt das <Ich> die Riickwanderung an, aus den
hoheren Welten in die niederen, bereichert um die in jenen Welten
gewonnenen Einblicke, und beginnt, durch Wiederverkorperung,
ein neues Erdenleben, welches sich je nach seinem Karma und je
nach den Bestrebungen seines veranderten <Ich> gestaltet.» - Sie
konnen ganz genau, bis zu einem gewissen Grade, dasjenige, was
dariiber zu sagen ist, erfahren aus dem Vortragszyklus «Inneres
Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt».
Punkt 9: «Das Weltgeschehen wird, dem Zwecke des Ganzen ge-
mafi, von geistigen Wesenheiten geregelt, die - fordernd oder hem-
mend, je nach ihrer Beschaffenheit und Willensrichtung, in das
Geschehen eingreifen.» - Sie kennen das auch.
Punkt 10 heilk: «Diese Wesenheiten sind, ihrer Wirkungssphare
und Macht gemafi, hierarchisch gegliedert und unterliegen, wie
alles in der Welt, der Entwickelung von niederem zum hoheren. » -
Es ist nicht gut, wenn alles in dieser Weise wieder generalisiert wird.
Auch der Entwickelungsgedanke hat eine eingeschrankte Gultigkeit.
Ich habe es oftmals gesagt, dafi es notwendig ist, neue Gedanken zu
formieren, wenn man in die hoheren Welten hinaufsteigt. So kann
man sagen, dafi man beim Aufstieg in die hoheren Welten zunachst
Regionen durchdringt, in denen die Zeit noch eine Rolle spielt;
dann aber kommt man in Regionen, die man als Regionen der
Dauer bezeichnen kann. In diesen spielt die Zeit keine Rolle mehr.
Da kann man nicht anders sprechen, als dafi man darauf aufmerk-
sam macht, dafi das Gesetz der Entwickelung nur als ein Sym-
bolisches gilt, wie ich das in meiner «Geheimwissenschaft» ge-
tan habe.
Punkt 11 heifk: «Das oberste Gesetz alles Weltgeschehens ist
<freies Opfer aus Liebe> . Die das All umfassende Gottheit hat, die-
sem Gesetze folgend, sich durch Manifestation in der Auflenwelt
geopfert, indem sie die aus ihr entstammenden geistigen Wesen-
heiten mit der Fahigkeit freier Willensimpulse ausstattete. Der
durch diese Tat ins Leben gerufene Kosmos ist seiner Entwickelung
uberlassen.» Punkt 12: «Diese Entwickelung fuhrt durch Aonen hin-
durch vom unbewufiten zum bewufiten Erfassen des obersten Welt-
gesetzes und durch Verwirklichung desselben zur Wiedervereini-
gung des Einzelnen mit dem Ganzen.» - Alles das ist im Zusam-
menhang mit der geisteswissenschaftlichen Forschung genauer
ersichtlich, und Sie sehen wohl, dafi diese Zusammenstellung fur
Aufienstehende gemacht ist. Ich hoffe, daft jeder von Ihnen eine
ahnliche Zusammenstellung machen konnte, die wohl genauer noch
als es hier der Fall ist, sein konnte, da sie die eigentliche Geisteswis-
senschaft dann umschreiben wtirde.
Nun versucht Herr von Wrangell, die angefuhrten Punkte noch
einmal zu rekapitulieren und zu charakterisieren, indem er sagt:
In diesen Grundlehren sind alle Geheimforscher europaischer
Kultur einig: H. P. Blavatsky, Mrs. A. Besant, Leadbeater, Dr.
Hartmann, Dr. R. Steiner u.a. Dieselben Lehren sollen auch in
den indischen Geheimschulen, denen H. P. Blavatsky sie ent-
nommen hat, gelten.
Hier wissen wir nun aber, daft die Geisteswissenschaft - wie sie
sich in ihrer Reinheit nach und nach vor der Welt reprasentiert -,
nicht mit anderen Dingen vermischt werden darf ; denn ihre Mission
kann sie wirklich nur erfiillen, wenn sie mit dem Wesentlichen der
abendlandischen Kulturwelt und deshalb auch der abendlandischen
Wissenschaftlichkeit rechnet. Davon kann aber bei Personlichkeiten
wie dem verstorbenen Dr. Franz Hartmann keine Rede sein, auch
nicht, dafi die Gestalt, welche die Theosophie unter Fiihrung von
Mrs. Besant oder gar unter Leadbeater erhalten hat, noch etwas mit
der abendlandischen Kulturwelt zu tun hat, so wie diese nun einmal
ihre selbstverstandlichen Kulturforderungen stellt.
Und hier darf ich wohl gerade diejenigen, die als suchende
Menschen in unserer Geisteswissenschaft ein gewisses Interesse zu
entwickeln beginnen und einen grofien Wert darauf legen, dafi
unsere Geisteswissenschaft sich loslost von demjenigen, was sonst in
der Welt als Theosophie vielfach herrscht, hinweisen auf einen sehr
netten und lieben Artikel, den Dr. Rittelmeyer in der Zeitschrift
«Christentum und Gegenwart» geschrieben hat. Wahrhaftig, ich er-
wahne diesen Artikel nicht deshalb, weil Dr. Rittelmeyer darin auch
einiges iiber mich sagt. Diejenigen, die mich besser kennen, wissen,
daft ich aus diesen Gninden die Sache nicht erwahne, sondern weil
mit einem gewissen liebevollen Verstandnis von unserer Sache und
namentlich auch von unserem Bau gesprochen wird und mit liebe-
vollem Eingehen nach der einen oder anderen Richtung charakteri-
siert wird. Es scheint mir wichtig zu sein, aus diesem Artikel, den ich
heute morgen bekommen habe, eine Stelle hervorzuheben:
«Aufier der gemeinsamen Arbeit am Bau ist das, was die verschie-
denen Volker und Menschen zusammenhalt und zusammenfuhrt,
die Vortrage von Steiner. Ich bekam die freundliche Erlaubnis, meh-
rere dieser Vortrage mitanzuhoren. Sie handelten hauptsachlich von
Christus und stellten ein aufierordentliches Ringen dar, die weltge-
schichtliche Tatsache Christus als tiefstes und innerstes Kulturereig-
nis nach verschiedenen Seiten hin zu erfassen. Es wird wohl auch
einmal die Zeit kommen, wo dieses innere Ringen um Christus wei-
terem Kreis zuganglich gemacht werden wird. Denn wie sich in Stei-
ner die alte theosophische Bewegung aus dem Dogmatischen und
Mediumhaften ins Wissenschaftliche hineinarbeitet, so vollzieht sie
in ihm auch den bedeutungsvollen Ubergang aus dem Indischen ins
Christlkhe.»
Es ist also wichtig fur diejenigen, die sich aus der abendlandischen
Kultur heraus interessieren wollen fur dasjenige, was die Geistes-
wissenschaft sein will, dafi wir nicht altindische Lehren aufwarmen
wollen, sondern daft wir etwas aus der geistigen Welt heraus gerade
fur unseren Zeitenzyklus Geeignetes schaffen wollen.
Vielleicht darf ich Sie doch noch weiter auf den Artikel hin-
weisen. Ich kann das wohl mit Reserve tun; denn nach dem Mancher-
lei, was iiber unsere Bewegung und iiber meine Schriften gesagt
wird, kann auch einmal etwas gesagt werden, was nicht schimpft,
sondern mit einigem Verstandnis darauf eingeht. Der Artikel steht
in Nummer 10 der Zeitschrift «Christentum und Gegenwart» vom
Oktober 1915, welche in Niirnberg, Ebnergasse 10, Buchhandlung
des Vereins fur innere Mission erscheint. Wie gesagt, mifiverstehen
Sie nicht, wenn Sie diesen Artikel lesen, diesen Hinweis. Aber nach-
dem ich gesagt habe, dafi es gut ware, die Vorstellungen kennen-
zulernen, die das aufienstehende geistige Leben mit uns verbindet,
so konnte es Sie auch interessieren, wenn einmal etwas erscheint, was
das Gegenteil von dem tut, was sonst mit unserer Bewegung ge-
schieht. Der Artikel heifit: «2wei Bauten deutscher Zukunft (Dorn-
ach und Elmau)». Elmau ist eine Griindung von Dr. Muller. Es
wird mit groflem Verstandnis gerade in diesem Artikel auf das Unter-
scheidende des Dornacher Baues von dem Bau in Elmau hinge -
wiesen. Vielleicht darf ich diese Stelle vorlesen. Eine andere Stelle
darf ich nicht vorlesen, weil zuviel von mir die Rede ist; aber viel-
leicht darf ich das Folgende vorlesen:
«Selbst wenn man Dr. Muller nur wenig und nur in rmiden Stun-
den sieht, empfangt man doch immer wieder den Eindruck, wie sehr
es ihm ganz personlich ernst ist mit dem Leben, von dem er redet,
und wie viel unausgesetzte innerliche Bemiihung um dieses Leben in
seiner Seele vorhanden ist. Die <Mainberger> selbst - nun ja, es sind
naturlich allerlei Leute darunter und nicht lauter sympathische, wie
auch unter den < Anthroposophen> , aber man trifft doch auch immer
wieder Menschen, bei denen man froh wird, dafi es solche Menschen
gibt, Manner und Frauen, vor deren innerem Leben und Streben
man alle Hochachtung gewinnt. Hochinteressant ware es, die Art
der inneren Arbeit der Menschen an sich selbst in Dornach und in
Mainberg-Elmau zu vergleichen. Welch ein bezeichnender Unter-
schied schon aufierlich zwischen den volkstrachtahnlichen Frauenge-
wandern in Elmau und den stolenahnlichen, ernsten, aber zumTeile
sehr geschmackvollen Frauengewandern, die man in Dornach sieht!
Oder wenn einem zum Bewufitsein kommt, dafi sowohl in Dornach
wie in Mainberg-Elmau auf freie naturliche Korperbewegung Ge-
wicht gelegt wird, daft dies in Elmau in der Pflege des alten deut-
schen Tan2es zum Ausdruck kommt, wahrend man in Dornach
ernstlich nach <Eurythmie> sucht, d.h. nach einerForm korperlicher
Darstellung des Geistigen, zunachst etwa beim Vortrag von Gedich-
ten, bei der die eigentlichen inneren Erlebnisse des Korpers an der
menschlichen Sprache auch aufierlich zum Ausdruck kommen. Viele
Christen, denen noch die alte Miftachtung des Korpers im Blute
liegt, werden das eine so wenig verstehen wie das andere.»
Im Grunde sagt hier Rittelmeyer, daft man in Elmau das Alte auf-
warmen will, und wir hier etwas Neues schaffen wollen. Damit kon-
nen wir ja ganz zufrieden sein. Es ist sehr erfreulich, daft es doch
einige Leute gibt, die Verstandnis fur die geisteswissenschaftliche
Bewegung haben, wahrend sie von denjenigen, die sich nicht iiber
sie unterrichten wollen, in einer so wenig erfreulichen Weise vor der
Welt angeschwarzt wird.
Nun sagt Herr von Wrangell weiter:
Die okkulten Fahigkeiten sollen, ahnlich wie die sinnlichen
Fahigkeiten im irdischen Leben des Menschen, sehr verschiede-
nen Grades sein. Die hochste, zur Zeit erreichbare Stufe der Ein-
weihung befahigt den Menschen, in wachem Zustande und im
Vollbesitz seiner geistigen Fahigkeiten sich mit dem Ich nach
Belieben in hohere Geisteswelten zu begeben, bis in jene Welt,
wo die Akasha-Chronik iiber Vergangenheit des Weltganzen und
jedes einzelnen Menschen Aufschluft gewahrt.
Also im ganzen kann man mit der Darstellung sehr einverstanden
sein. Es ist nur notwendig, daft man weifi, was unsere geisteswissen-
schaftliche Bewegung im besonderen will und dies scharf ins Auge
faftt. Denn es ist schon notwendig, daft sie nicht verwechselt wird
mit anderen, die sich auch mit den geistigen Welten befassen, aber
alles in einen grofien Mischmasch bringen und von einem Vertiefen
ins Gottliche und so weiter reden. Da kommt es darauf an, daft dies
scharf ins Auge gefafit wird.
Darauf folgt das Kapitel:
Geheimlehren
Die Ergebnisse der durch den Geheimforscher gewonnenen Er-
kenntnisse wurden friiher nur in Geheimschulen mitgeteilt, wer-
den aber jetzt teilweise in jedermann zuganglichen Schriften und
Vortragen offenbart. Diese Mitteilungen tragen natiirlich in
Form und Inhalt den Stempel der Personlichkeit des Geheim-
forschers. Da sie ihrer Angabe nach auf okkulten Wahrnehmun-
gen beruhen, kann ihre Wahrheit selbstandig nur von Menschen
gepriift werden, die den gleichen Grad okkulter Gaben und die
gleiche Urteilsfahigkeit besitzen. Denn aus den in der Geistes-
welt gewonnenen Wahrnehmungen miissen ja erst Urteile ge-
zogen und diese Schlusse in die Sprache der irdischen Sinneswelt
iibertragen werden, um sie den Mitmenschen mitteilen zu
konnen.
Demgegeniiber ist darauf aufmerksam zu machen, dafi zwar der
Inhalt der geistigen Welten nur erforscht werden kann bei Anwesen-
heit jener Fahigkeiten, von denen gesprochen worden ist, dafi aber
das Erforschte im Grunde genommen wirklich jeder priifen kann.
Denn die Welt, die jeder beobachten kann, ist in gewisser Weise ein
Abbild der geistigen Welt, in die man durch die geistige Wahr-
nehmungsfahigkeit hineinschauen kann. Und wenn jemand nur mit
wirklich offenen Augen die Welt um sich herum betrachtet und sich
fragt: Stimmt dasjenige, was in der Welt der geistigen Wirklichkeit
von dem Geheimforscher erkundet wird, zusammen mit dem, was
sich im Leben zutragt, dann kann er - auch ohne okkulte Fahig-
keiten zu entwickeln - alles beurteilen. Es liegt nicht daran, dafi
man nicht beurteilen kann, wenn man sagt, man mufi dem Geheim-
forscher «vertrauen», sondern daran, dafi man sich nicht einlassen
will auf eine Prufung. Es bewahrt sich dasjenige, was von der Geistes-
wissenschaft gesagt wird, in Leben und Welt, und jeder kann prii-
fen. Wer sagt, er kann nicht priifen, der behauptet im Grunde
genommen: ich will mich nicht darauf einlassen, ob man im Leben
und in der Welt die geisteswissenschaftlichen Lehren priifen kann;
ich will mich auf diese wache Anschauung nicht einlassen, ich will
schlafen mit raeinem Vcrstand und meiner Urteilskraft. - Und weil
die Menschen so gerne schlafen mit ihrem Verstand und ihrer Ur-
teilskraft, deshalb sagen sie: Man kann nicht priifen.
Aber, immer wieder und wieder mochte ich der Welt sozusagen
einbleuen, dafi es darauf ankommt, dafi die Geisteswissenschaft
nicht auf Autoritat hin angenommen wird, sondern gepriift werden
kann an dem, was in der sinnlichen Welt vorgeht. Nur weil die
Wissenschaft noch sinnlich beobachtet, lafit sie sich auf eine geistig
wache Lebensbetrachtung nicht ein. Daher sieht man die Richtigkeit
dessen, was der Geistesforscher sagt, nicht ein. Und deshalb ver-
suche ich, nicht auf eine Autoritat zu bauen, nicht einen Glauben in
Anspruch zu nehmen, sondern ich bemiihe mich immer wieder,
durch dieses oder jenes in der aufieren Wissenschaft, in philosophi-
schen Strebensrichtungen zu zeigen, wie die Leute vor der geistigen
Welt stehen und nur nicht sich gestehen wollen, dafi sie weitergehen
miifiten. Man braucht nicht auf Autoritat zu bauen, sondern nur
offene Augen zu haben, dann bewahrheitet sich einem das Streben
in der Geisteswissenschaft als ein echtes und in unserer Zeit not-
wendiges.
Man mufi sich nur andererseits dariiber klar sein, dafi manches,
was man als Geisteswissenschaft bezeichnet, geeignet ist, den Men-
schen den Verstand fur die wirkliche geistige Welt zu verrammeln.
Das ist der Fall bei Weltanschauungen, die es sonst gut meinen,
zum Beispiel bei der Euckenschen. Aber sie schlagt doch die Leute
mit Blindheit, indem sie von Geist spricht in Worten, Worten, Wor-
ten, die aber nichts anderes bezeichnen als was die physische Seelen-
spiegelung gibt. Man braucht deshalb nicht ungerecht zu sein. Sie
sehen das in meinem Buche «Die Ratsel der Philosophie» so durchge-
fixhrt, dafi es nicht ungerecht genannt werden kann, was iiber solche
Menschen wie Eucken zu sagen ist. Aber man mufi auch wissen, dafi
durch die unrichtige Geisteswissenschaft der Ausblick auf eine rich-
tige verstellt wird. Es ist unendlich bequemer, in der Euckenschen
Weise vom Geistigen zu reden, als sich auf das wirkliche Geistige
einzulassen, das erforscht werden kann.
Das nachste Kapitel:
Unterschied zwischen Sinneswissenschaft und
Geisteswissenschaft
Darin unterscheiden sie sich wesentlich von den Wahrheiten, die
man mittelst der gewohnlichen Sinne gewinnen kann, da hier die
Pruning der Tatsachen von zahllosen Menschen vorgenommen
werden kann und die logische Verkettung derselben dem Urteil
eines jeden unterliegt. Bei den okkulten Erkenntnissen ist das
wichtigste Kriterium fur die Glaubwiirdigkeit der Mitteilungen
eines Geheimforschers der sittliche Wert seiner Personlichkeit.
- Nicht das ist das Wichtige, sondern das Wichtige ist, data er auf
dem Boden wahren geistigen Strebens steht, dafi er sich bemiiht, die
Menschen in der richtigen Weise hineinzufuhren in die geistige
Welt. Wenn man die Wege sieht, die in die gewohnliche Wissen-
schaft hineinfiihren und sich dadurch die Moglichkeit vorstellen
kann, wie sie weiterzuleiten ist, dann bekommt man Unterlagen,
die nicht der Einwand trifft, daft man dem Geistesforscher als an-
standigem Menschen einfach glaubt. -
Liegen Griinde vor, an seiner Wahrhaftigkeit zu zweifeln, so haben
seine okkulten Mitteilungen selbstverstandlkh nur geringen Wert.
- Das ware ebenso, wie wenn wir, wenn einer in der gewohn-
lichen Wissenschaft etwas geleistet hat, unsere personliche Zustim-
mung zu seiner Forschung von seiner Personlichkeit abhangig ma-
chen wiirden. -
Hat man kein Vertrauen zu seiner Urteilskraft im gewohnlichen
Leben, so ist es hochst unwahrscheinlich, dafi er sie unter den un-
endlich schwierigen Verhaltnissen, zum Beispiel des Erforschens
der Akasha-Chronik, bewahren sollte.
- Man kann ja dem nachgehen, ob das, was aus der Akasha-Chronik
entdeckt worden ist, mit dem Leben iibereinstimmt. -
Aber selbst bei ungewohnlichen okkulten Gaben, bei hochster
Entwickelung des Intellekts, bei voller Unbefangenheit des For-
schers, ist es nicht wahrscheinlich, dafi Menschen, die in irdischen
Dingen nie unfehlbar sind, es in iiberirdischen sein sollen.
- Von Unfehlbarkeit sollte iiberhaupt nicht gesprochen werden,
sondern selbstverstandlich nur davon, dafi es sich darum handelt,
dafi von einem gewissen Gesichtspunkte aus der Geistesforscher die
Dinge darstellt. Aber das hat im Grunde genommen nichts zu tun
mit der Art und Weise, wie wir uns zu den Mitteilungen des Ge-
heimforschers stellen. -
Man ist also genotigt, den Mitteilungen des Geheimforschers mit
ungleich scharferer Kritik entgegenzutreten, als es gegenuber
irgendwelchem Zeugen irdischer Wahrnehmungen geboten ist.
- Also nicht entgegentreten mit Ablehnung oder Kritik. Das meiste,
was geleistet wird, ist Ablehnung ohne Kritik; wiirde man mit Kritik
ablehnen, so wiirde so viel Ablehnung gar nicht herauskommen. -
Da mufi ein mehr oder weniger verlafiliches Gefuhl der Wahr-
scheinlichkeit die innere Ubereinstimmung der verschiedenen
Mitteilungen, vor allem aber das Vertrauen zur Person des Ge-
heimforschers leiten.
- Also von diesem Vertrauen diirfen wir uns nicht falsche Vor-
stellungen machen. Dagegen ist das, was jetzt kommt, besonders
wichtig:
Wenn seine Mitteilungen aus jenen, den meisten Menschen un-
zuganglichen Welten demjenigen widerspricht, was mittelst der
Sinneswahrnehmungen untriiglich nachgewiesen ist, so wird kein
unbefangener Mensch dariiber schwanken, welcher Mitteilung
der Vorzug gebiihrt. Wenn ich, um ein Beispiel anzufuhren,
zum Beispiel wirklich alle Tatsachen kenne, die dafur sprechen,
dafi die Erde frei im Raume schwebend sich dreht, und ein Ge-
heimforscher mir mitteilt, er habe aus okkulten Wahrnehmun-
gen entnommen, dafi die Erde sich nicht dreht, sondern dafi die
Fixsterne sich um die Erde bewegen, so wird ein Mensch bei
gesunden Sinnen solcher okkulter Forschung keine Beachtung
schenken.
- Also mit der aufieren Wissenschaft mufi die Geheimwissenschaft
iibereinstimmen; und wenn sie nicht ubereinstimmt, mufi sie an-
geben, warum und versuchen, mit der Wissenschaft in Einklang
zu kommen. -
Selbstverstandlich kann sich ein solcher Widerspruch nur auf
Tatsachen der Sinneswelt beziehen, also nicht auf transzendente
Fragen, die jenseits aller sinnlichen Erfahrung liegen.
- Dennoch, auch die transzendenten Fragen lassen sich ins Auge
fassen. -
So kann, um ein anderes Beispiel anzufuhren, ein Astronom, der
die Kant-Laplacesche Hypothese iiber Entstehung des Sonnen-
systems fur wahrscheinlich halt, dem Geheimforscher, der ihm
eine ganz andere Kosmogonie mitteilt, nicht sagen, wie im erste-
ren Fall, dafi seine Behauptung irrtumlich ist, denn die Drehung
der Erde wird jeder gesunde Mensch als erwiesen ansehen, da-
gegen die Entstehung des Sonnensystems aus einem Nebel, nach
der Kant-Laplaceschen Hypothese, kann man wohl fur wahr-
scheinlich halten, aber nicht fur erwiesen.
- Herr von Wrangell sagt das ganz richtig. Ich habe immer auf die
Unzulanglichkeit der Kant-Laplaceschen Hypothese hingewiesen,
dafi die Welt aus einem Urnebel heraus sich gebildet habe, was man
den Kindern ja schon in der Schule an dem bekannten Experiment
zeigt. Man gieUt einen Oltropfen auf Wasser, durchsticht ihn mit
einer Nadel, an der ein Kartenblattausschnitt befestigt ist, dreht,
bewegt diese Nadel und sieht dann, wie sich die einzelnen Tropfen
abspalten. Man hat dann schon den Vorgang der Entstehung eines
Weltsystems, wenn man sich selbst dabei vergifit. Aber wenn man
dieses Experiment macht, so mufite es so sein, dafi man darauf hin-
weist, dafi der Lehrer da ist und die Stecknadel dreht, denn sonst
vergifit man auch den Lehrer, den grofien, der das Weltsystem dreht. -
Es wird also, das ist meine tiefste Uberzeugung, in einem Streit
zwischen wirklich erwiesenen Tatsachen der Sinneswelt und Er-
gebnissen okkulter Forschung der Sieg immer auf Seiten der
Wissenschaft bleiben.
- Es wird keinen Sieg geben, sondern wenn die Tatsachen der Sin-
neswissenschaft verlaftlich erforscht sind und auf der anderen Seite
die Tatsachen der Geisteswissenschaft verlaftlich erforscht sind, so
werden sie zusammenstimmen. -
Wenn einige Okkultisten die Ansicht aussprechen, es gebe nichts
Feststehendes in der irdischen Wissenschaft, so ist das nur fur
diejenigen moglich, die mit Wissenschaften nur aus zweiter
Hand bekannt sind, nicht aber mit den betreffenden Funda-
menten.
Jedoch die zur Zeit leitenden Theosophen Europas, Mrs. A. Be-
sant, Dr. R. Steiner u.a., beanspruchen, daft ein Gegensatz zwi-
schen ihren okkulten Forschungen und dem sicheren Ergebnis
irdischer Wissenschaft nicht bestehe, und namentlich Dr. Steiner
ist durch umfassende und griindliche Kenntnis der exakten Wis-
senschaften in ihrer Methoden wohl befahigt, dariiber zu urteilen.
Ob der Geheimforscher sich darin im einzelnen irrt, mag dahin-
gestellt bleiben, und ist m.E. nicht von grofier Bedeutung, denn
wenn solcher Widerspruch nachgewiesen ware, scheint mir damit
die Frage doch nicht beriihrt zu werden, ob die Grundlehren der
Theosophie der Wahrheit entsprechen oder nicht. All diese Leh-
ren beziehen sich auf Gebiete, die jenseits der Sinneserfahrung
liegen, konnen also von der ausschliefilich auf Sinneswahrneh-
mungen begriindeten Wissenschaft weder bestatigt noch wider-
legt werden.
Das ist wichtig, weil es zeigt, daft derjenige, der sich als Wissen-
schafter bekennt, aus seiner wissenschaftlichen Uberzeugung heraus
zu der Anschauung kommt, daft eine geistige Weltanschauung not-
wendig ist, und daft man notwendigerweise auf sie gefuhrt wird,
wenn man ein wissenschaftlicher Mensch in unserer Zeit ist.
Das nachste Kapitel ist iiberschrieben:
Theosophie - eine Religion
Diese theosophischen Lehren beanspruchen, den Menschen iiber
Zweck und Ziel des Weltganzen sowie des einzelnen Menschen-
lebens Aufschlufi zu geben, somit eine religiose Weltanschauung
zu sein.
Meine lieben Freunde, es ist notwendig, daft wir uns klar werden,
daft die eigentliche Geisteswissenschaft, unsere geisteswissenschaft-
liche Bewegung, mit Religion unmittelbar wirklich nichts zu tun
hat, daft sie keine religiose Bewegung sein will. Seien wir uns dar-
iiber klar, dafi in bezug auf das religiose Leben die Geisteswissen-
schaft auch nichts anderes geben kann als eine innere Beziehung der
menschlichen Seek mit dem Christus. Das ist das religiose Moment,
das ist das religiose Element, das ist aber Christentum. Hegel und
insbesondere die Geisteswissenschaft erkennen an, dafi das Christen-
tum die Erfullung des religiosen Strebens der Menschheit ist, dafi
neue Religionsbegnindungen weder stattfinden werden noch statt-
finden konnen. Die geistigen Tatsachen soli man kennenlernen und
dafur ist die Geisteswissenschaft ein neues Instrument, will aber
keine neue Religion begriinden. Sie will sich nicht als eine neue
Bewegung neben das Christentum hinstellen, sondern sie gibt nur
die Forschungen, so wie Kopernikus seine Entdeckung gegeben hat.
Aber wie war es damals? Im 15. Jahrhundert kam Kopernikus
und gab, was er zu geben hatte, aber die katholische Kirche hat erst
im Jahre 1822 erlaubt, an die kopernikanische Lehre zu glauben.
Und Luther sagte: Der neue Astrologe, der Kopernikus, will be-
weisen, dafi die Erde sich bewegt und nicht der Himmel, die Sonne
und der Mond. - Denken Sie nun, wie lange es gewahrt hat, bis man
den Kopernikus anerkannte. Wenn nun Leute kommen, die sagen,
es sei eine Phantasterei, wiederholte Erdenleben zu lehren, so ist das
verstandlich, aber an uns ist es nicht, den Leuten die Meinung bei-
zubringen, als ob es sich darum handle, eine neue Religion zu be-
griinden. Das Christentum ist die Synthese, der Zusammenflufi der
Weltreligionen. Durch die Geisteswissenschaft wollen wir die christ-
lichen Wahrheiten besser verstehen lernen, als man sie ohne Geistes-
wissenschaft verstehen kann. Aber wir wollen es nicht in den Kopfen
lassen, daft man es in der Theosophie mit einer neuen Religion, mit
einer neuen religiosen Weltanschauung zu tun habe. Dagegen mufi
sich die Geisteswissenschaft wehren. Sie will Wissenschaft sein und
dadurch auch das religiose Leben vertiefen. Es wird aber das reli-
giose Leben auch vertieft durch den Kopernikanismus. So sagte der
katholische Theologe Milliner, von dem ich bei Gelegenheit der Re-
zitation der delle Grazie'schen Gedichte gesprochen habe, in den
neunziger Jahren tiber Galilei: Derjenige, der wirklich Christ ist und
das religiose Verhaltnis der menschlichen Seele zu den gottlichen
Welten versteht, der kann dadurch, daft er die Welt genauer er-
forscht, nur eine Vertiefung des religiosen Lebens erfahren und nicht
eine Gefahrdung.
Immer wieder mufi betont werden, daft es eine Schwache ist,
wenn man sich dem, was von der Geisteswissenschaft an Vertiefung
des Religiosen gebracht wird, entgegenstemmt. Denken Sie sich,
wenn man dem Kolumbus gesagt hatte: Nur ja nicht Amerika ent-
decken; denn da konnten ja andere Leute, andere Gotter sein. -
Denken Sie sich, was das fur eine Schwache ware, wenn man nicht so
fest auf dem Boden des Christentums steht, um sagen zu konnen:
Was immer entdeckt werden wird, der Boden des Christentums ist
so stark, daft er standhalten wird! - Daher ist es nichts anderes als ein
Beweis fur die Lahmheit derjenigen, die sagen, wir mussen die Gei-
steswissenschaft ablehnen. Denen muft man sagen: Das ist kein
Christentum, wenn ihr glaubt, eure Lehren konnten durch die Gei-
steswissenschaft umgestofien werden. Auch Kopernikus hat nicht
umgestoften, im Gegenteil, das religiose Leben wurde durch ihn
vertieft. Schwache Lahmherzigkeit ist es, was vom aufteren, offi-
ziellen, sogenannten christlichen Standpunkte den Kampf auf-
drangt dem, was die Geisteswissenschaft will.
Das ist der Standpunkt, den wir einnehmen mussen gegen die,
welche uns mit ihren matten, lahmherzigen Einwanden gegeniiber
der Theosophie kommen.
[Das Kapitel «Die Theosophie - eine Religion* wird zu Ende ge-
lesen:] Es scheint zweifelhaft, ob irgendeine Losung des Weltrat-
sels dem zur Kritik erzogenen Menschen der Gegenwart beziig-
lich ihrer verstandesmafiigen Begriindung voll geniigen kann. Es
wird sich immer nur darum handeln, wieweit Geist und Gemut
des Menschen befriedigt werden durch die sich ihm darbietende
Losung der groflen, ewigen Fragen. Da hier eine verstandesma-
fiige Beweisfuhrung fur oder wider nicht moglich ist, mufi das
Gefuhl tiber die grofiere oder geringere Wahrscheinlichkeit der
einen oder anderen Losung mit entscheiden.
Wir wollen einige der Weltanschauungen, wie sie sich dem ge-
bildeten Menschen europaischer Kultur darbieten, von diesem
Gesichtspunkt aus vergleichen.
In den folgenden Kapiteln vergleicht nun Wrangell den Materialis-
mus, den Agnostizismus, den Okkultismus miteinander und hat
dann noch ein Kapitel iiber Wiederverkorperung und Karma. Er
kommt dann zu Lessings Ansicht von der Wiedergeburt und zu ei-
ner Rekapitulation des ganzen Gedankenganges. Es ist nicht mehr
Zeit genug, um die Schlufikapitel zu besprechen. Wir werden daher
morgen um sieben Uhr die Sache fortsetzen, denn wir haben iiber
die Schlufikapitel noch einiges Wichtige zu sagen.
FUNFTER VORTRAG
Dornach, 4. Oktober 1915
Wir sind in der Besprechung der Wrangellschen Broschure bis zu
dem Kapitelchen gekommen, das Seite 37 beginnt und betitelt ist
«Materialismus». Ich werde dieses Kapitelchen zunachst lesen:
Materialismus
Wie bereits friiher gesagt, anerkennt die materialistische Auff as-
sung nur solche Erkenntnis, welche durch Sinneswahrnehmun-
gen und darauf begriindete logische Schlufifolgerungen gewon-
nen werden kann, und leugnet die Realitat okkulter Wahrneh-
mungen. Die Sinneswahrnehmungen der meisten Menschen lie-
fern keine unmittelbaren Beweise fiir die Wirklichkeit geistiger
Krafte und Erscheinungen, welche nicht an materielle Korper ge-
bunden sind. Daraus folgert der Materialist, dafi die Annahme
solcher, vom Stofflichen unabhangiger Krafte und Wesen nicht
gerechtfertigt sei, und erklart die daraus zu ziehenden Schlusse
fur wertlos. Es ist nach ihm das ' Weltgeschehen die notwendige
Folge der im Stoff von Anbeginn vorhandenen Krafte und Zu-
stande, die nur einen Verlauf zulassen, und zwar, nach dem Ge-
setz der Zerstreuung der Energie, schlieftlich zum Zustande des
Gleichgewichts, folglich des ewigen Todes fiihren miissen. Intel-
lektuelle Aufgabe des Menschen sei es, die Gesetze zu erfor-
schen, nach denen der Verlauf dieser Weltentwickelung vor sich
geht, um moglichst geringe Leiden und Kraftvergeudung zu er-
dulden, indem man sich diesen Gesetzen anpafit.
Wenn man die okkulten Beweise fur das Vorhandensein geistiger
Wesenheiten grundsatzlich verwirft, so lafit sich logisch nichts ge-
gen die materialistische Auffassung einwenden.
Wir sehen hier in der Tat mit einigen pragnanten Satzen das Wesen
des materialistischen Gedankenganges charakterisiert. Aber um zu
einer Klarheit uber die ganze Bedeutung der materialistischen Welt-
anschauung in unserer Zeit zu kommen, mufi man eigentlich ver-
schiedenes beriicksichtigen.
Man mufi sich klar dariiber sein, dafi diejenigen, die in unserer
Zeit ehrliche Materialisten geworden sind, es in der Tat schwer ha-
ben, zu einer spiritualistischen Weltanschauung zu kommen. Und
wenn man von «ehrlichen» Gegnern des Spiritualismus spricht, so
mufi man unter ihnen eigentlich in erster Linie die theoretischen
Materialisten ins Auge fassen, denn diejenigen Menschen, welche
von vornherein, ich mochte sagen «gewerbsmafiig» diese oder jene
Weltanschauung vertreten zu miissen glauben, brauchen ja nicht
immer mit dem Pradikat «ehrliche» Vertreter einer Weltanschauung
bezeichnet zu werden. Aber Ludtvig Bilchner zum Beispiel war ein
ehrlicher Vertreter des Materialismus in der zweiten Halfte des 19-
Jahrhunderts, ehrlicher als viele, die von irgendeinem, wie sie mei-
nen, religiosen Gesichtspunkte aus sich zu Gegnern einer spirituel-
len Weltauffassung im Sinne der Geisteswissenschaft glauben ma-
chen zu miissen.
Nun, ich sagte, die Materialisten haben es schwer, zu einer spiri-
tuellen Weltauffassung zu kommen. Denn der Materialismus, so wie
er uns heute entgegentritt bei denen, die da sagen: Ja, der Mensch
hat eben seine Sinne und nimmt durch die Sinne die Welt wahr, er
beobachtet die Vorgange, die die Sinne verfolgen konnen und kann
nicht auf Grundlage desjenigen, was ihm die Sinne darbieten, zu
der Annahme einer geistigen Wesenheit kommen, die unabhangig
von der Sinneswelt ist dieser Materialismus ist mit einer gewissen
Notwendigkeit aus der Entwickelung der neueren Menschheit her-
vorgegangen, denn er fufit auf etwas, was in der Entwickelung der
neueren Menschheit kommen mufite.
Wer sich die Miihe macht, das altere Geistesleben der Mensch-
heit zu studieren, der findet, dafi dieses mit dem 14. , 15. , 16. Jahr-
hundert bei den eigentlichen Kulturvolkern an einem Ende ange-
kommen war. Man braucht heute nur wirklich sich mit dem ausein-
anderzusetzen, was die Gegenwart dem Bewufitsein des Menschen
geben kann und dann ein Buch in die Hand zu nehmen, das in be-
zug auf seine Auffassung noch ganz darinnensteht in der Art und
Weise, wie man die Welt naturwissenschaftlich betrachtet hat im
13., 14., 15. Jahrhundert, und man wird finden, dafi der gegenwar-
tige Mensch, wenn er die Dinge ernst und wiirdig nimmt, kein rich-
tiges Verstandnis mehr hat und haben kann fur das, was in der alte-
ren Literatur bis zu dem gekennzeichneten Wendepunkte wirklich
gesagt wird.
Allerdings, es kommt ja vor, aber doch eigentlich nur bei denje-
nigen, die Dilettanten sind, ja sogar bei denjenigen, die noch nicht
einmal Dilettanten geworden sind, dafi sie immer wieder und wieder
aus dieser alteren Literatur alle moglichen Schmoker ausgraben, die
da iiber Naturwissenschaft handeln und dann zu allerlei Urteilen
kommen iiber das, was darinnen tiefsinnig enthalten sein soil. Aber
wer etwas auf wahre Beziehungen halt zu dem, was man sich aneig-
net, der wird finden miissen, dafi der gegenwartige Mensch eigent-
lich wirklich wahre Beziehungen zu dieser alteren Art der Natur-
anschauung nicht haben kann. Anders ist es mit der philosophischen
Anschauung. Aber gerade mit der Naturanschauung der alteren Zeit
kann der heutige Mensch eigentlich nichts anfangen, denn alle Be-
griffe, die er sich iiber die Natur bilden kann, sind ja erst ein paar
Jahrhunderte alt, und mit diesen mufi man heute an die Natur her-
angehen. Unsere physikalischen Begriffe gehen im Grunde genom-
men alle auf die galileische Weltanschauung zuriick und auf nichts
Friiheres. Man mufi schon ein ausgebreitetes historisch-wissen-
schaftliches Studium entfalten, wenn man sich auf friihere natur-
wissenschaftliche Werke einlafit, denn das genaue Durchforschen
der stofflichen Welt, der aufieren Sinneswelt, in deren Stromung wir
uns heute darinnen befinden, hat ja eigentlich erst seit einigen Jahr-
hunderten begonnen.
Erinnern Sie sich, dafi wir gerade in Anlehnung an das Wrangell-
sche Biichelchen iiber das Messen gesprochen haben. Zum Messen
gehort auch das Wiegen, wie wir gesehen haben. Das Wiegen aber
als ein Instrument einzufuhren in die naturwissenschaftlichen Me-
thoden, ist erst iiblich etwa seit Lavoisier, in dieser Art also noch nicht
iiber 150 Jahre alt, und alle Grundvorstellungen zum Beispiel der
heutigen Chemie beruhen ja auf diesem Wiegen.
Wiederum, wenn wir heute uns Vorstellungen bilden wollen
zum Beispiel iiber die Wirkungsweise elektrischer Krafte oder auch
nur von Warmekraften, so miissen es solche sein, die mit der For-
schung aus der letzten Halite des 19. Jahrhunderts rechnen. Mit den
alteren Vorstellungen kann der heutige Mensch nicht mehr zurecht-
kommen. Ebenso konnte man auch in bezug auf die biologische
Wissenschaft sprechen. Wer allerdings den Entwickelungsgang der
Wissenschaft kennen mull, miifite auch die altere Literatur kennen-
lernen; aber wir, die wir Geisteswissenschaft ernst pflegen wollen,
miissen uns abgewohnen, was einem bei sogenannten Theosophen
so oft entgegentreten kann. Ich habe ofters davon gesprochen, dafi
ich zum Beispiel in Wien in den achtziger Jahren eine Theosophen-
gemeinde kennengelernt habe. Da war es geradezu eine Art von
Usus, alle moglichen alten Schmoker herauszusuchen und darin
Dinge nachzulesen, die man wirklich wenig verstanden hat, weil im
Grunde genommen ziemlich viel dazu gehort, ein naturwissenschaft-
liches Werk zum Beispiel des 14. Jahrhunderts zu lesen. Aber die
Leute bildeten sich Urteile. Diese Urteile lauteten zwar immer ziem-
lich gleich. Namlich, wenn wieder einer vorgab, einen solchen
Schmoker gelesen zu haben - er hat ihn zwar nur durchgeblattert -,
dann sagte er «abgrundartig tief». So oder ahnlich lauteten die Urtei-
le. Ich habe am Ende der achtziger Jahre kein Wort so oft gehort -
verhaltnismafiig selbstverstandlich - wie das Wort «abgrundartig
tief». Naturlich habe ich auch oft das Wort «Untiefen» gehort.
Dasjenige, was man ins Auge fassen mufi, das ist die grofie Be-
deutung der Anschauungen, Begriffe und Vorstellungen, welche
unter dem Einflufi der Anschauungen der letzten Jahrhunderte ge-
wonnen worden sind. Wenn man die Erklarungen iiber die mecha-
nischen Grundbegriffe erfahren hat, die Fiille der physikalischen,
chemischen, biologischen Begriffe ins Auge fafit und auch manches,
was zusammengetragen worden ist, um zu sehen, wie sich das Seeli-
sche in dem aufieren physischen Korper ausdriickt, so haben wir als
Ergebnis der letzten Jahrhunderte, und namentlich der zweiten Half-
te des letzten Jahrhunderts, ein ungeheuer ausgebreitetes For-
schungsergebnis vor uns. Und dieses Forschungsergebnis mufi man
notwendigerweise gewinnen, nicht blofi deshalb, weil darauf alles
aufiere, technische, wirtschaftliche, materielle Leben beruht, zu dem
es schon einmal die Menschheit bringen mufite, sondern weil darauf
auch ein grofier Teil unserer Weltanschauungsvorstellungen beruht.
Und man ist doch eigentlich - auch wenn es in gewisser Beziehung
auf einem eingeschrankten Felde nichts schadet, aber wahr ist es
doch -, man ist doch eigentlich auf einem solchen Weltanschau-
ungsgebiete wie dem der heutigen Wissenschaft ein heuriger Hase,
wenn man nichts weifi von der heutigen Physik, Biologie und so wei-
ter, wie sie sich herausgebildet haben.
Gewifi, es mufi immer wieder betont werden, dafi die Forschungs-
ergebnisse der Geisteswissenschaft auf Grundlage jener Wahrneh-
mungsfahigkeiten gewonnen werden, von denen oftmals gesprochen
worden ist. Sie konnen nicht auf demselben Wege, obwohl mit der-
selben Sicherheit, wie die naturwissenschaftlich-materialistischen
Resultate, gewonnen werden. Und selbstverstandlich ist - wenn man
sich demjenigen ergibt, was gestern angedeutet worden ist - diese
Geisteswissenschaft eine Realitat. Aber fur unsere heutige Zeit, fur
unsere Gegenwart ist noch viel mehr notwendig, als nur irgendwie
eine spirituelle Beziehung zu haben zu den geisteswissenschaftlichen
Resultaten, die von dem gesunden Menschenverstande durchaus be-
griffen werden konnen. Viel notwendiger als irgendwie Fetzen der
geistigen Welt zu erhaschen, ist es, sich mit der materialistischen
Weltanschauung bekanntzumachen, wenigstens mit einem Aus-
schnitt, um vor der Aufienwelt heute wirklich vertreten zu konnen,
was die Geisteswissenschaft will. Denn man kann nicht vor die Welt
hintreten und die Geisteswissenschaft wahrhaft vertreten, wenn man
keine Ahnung hat von der Art und Weise, wie der Wissenschafter
heute forscht, wie er denken mufi und wie er das Forschen neben
dem Klaren handhaben mufi. Und wenn man immer wieder ver-
schmaht, ein naturwissenschaftliches Buch in die Hand zu nehmen,
um sich mit der Naturwissenschaft von heute bekanntzumachen, so
wird man es niemals vermeiden konnen, beim Vertreten der geistes-
wissenschaftlichen Weltanschauung Tapsigkeiten zu begehen gegen-
iiber dem, was der Bodensatz der aufieren Weltanschauung ist. Es
ist heute auch viel weniger wichtig, auf die iiberlieferten Religions-
systeme hinzuhoren, als auf die ehrlich gewonnenen ehrwiirdigen
Resultate materialistischer Forschung. Man mufi sich nur in richtiger
Weise zu diesen materialistischen Forschungsergebnissen stellen
konnen.
Nehmen wir, nur um zu zeigen, um was es sich in dem gegen-
wartigen Augenblicke handelt, irgendein Gebiet heraus; nehmen
wir einmal das Gebiet der menschlichen Anatomie und Physiologic
Wenn man heute irgendein gebrauchliches Buch zur Hand nimmt -
und ich habe im Verlaufe der vielen Zyklen immer solche Biicher
empfohlen -, so wird sich einem ein Bild ergeben, wie sich der heu-
tige Physiologe seine Vorstellungen iiber den Bau des menschlichen
Leibes aufbaut unter Zugrundelegung des Knochensystems, des
Knorpel-, Sehnen-, Muskelsystems, des Nerven-, Blut-, Sinnes-,
Hauptsystems und so weiter. Und es wird sich ein Bild ergeben, wie
sich die heutigen in den materialistischen Gedanken lebenden Men-
schen das Zusammenwirken, sagen wir des Herzens und der Lunge,
und wiederum des Herzens mit den anderen Gefaftsystemen des Lei-
bes vorstellen. Da kann sich einem dann eine Antwort ergeben auf
die Frage: Wie stellt sich eigentlich heute ein Mensch, der sich seine
Begriffe aus der materialistischen Forschung heraus angeeignet hat,
zu diesen Dingen? Welche Vorstellungen hat er da eigentlich in sich
leben? - Und da mufi man sagen: Es sind schon bedeutungsvolle
Vorstellungen gewonnen worden; Vorstellungen, die so gewonnen
werden mufiten, dafi man wirklich einmal absah von allem Spirituel-
len, von allem Hineintragen spiritueller Gedanken in die Forschung.
Man mufite sich nun einmal einlassen auf das materielle Gebiet, so
wie es sich, wie man im Popularen sagt, den funf Sinnen darbietet
und auf den Zusammenhang, der sich den funf Sinnen ergibt. Man
mufite schon einmal so die Welt durchschauen, und vieles ist noch
zu tun auf diesem Gebiete, auf alien moglichen Feldern natur-
wissenschaftlicher Forschung.
Nun aber nehmen Sie einmal an, Sie haben sich ein solches Bild
vom Aufbau des menschlichen Leibes angeeignet, wie es sich der
Anatom und Physiologe heute machen, dann werden Sie finden,
dafi der Anatom und der Physiologe sagen: Nun ja, der Mensch baut
sich auf aus verschiedenen Organen und Organsystemen, und diese
wirken in einer gewissen Weise zusammen.
Sehen Sie, wcnn heute der Anatom, der Physiologe redet und
seine Vorstellungen zu einem Gesamtbilde des Menschen zusam-
menfalk, dann bleibt innerhalb dieses Bildes, demselben zugrunde
liegend die sinnliche Beobachtung. Daraus ergeben sich ganz be-
stimmte Vorstellungen, die man aufnehmen kann. Zu denen mufi
man sich aber in der richtigen Weise stellen. Ich kann das vielleicht
durch einen Vergleich klarmachen. Es konnte zum Beispiel jemand
sagen: Ich will ifo^W/kennenlernen, wie mufi ich das machen? - Da
wiirde ich ihm sagen: Wenn du Raffael kennenlernen willst, dann ver-
suche dich einmal in die Bilder von Raffael zu vertiefen; studiere von
den Mailander Bildern die Hochzeit des Joseph und der Maria, wei-
ter die verschiedenen Bilder bis zur Sixtinischen Madonna, bis zur
Himmelfahrt, und mache dir einen Begriff davon, wie Raffael ver-
sucht hat, die Gestalten im Raume zu verteilen, wie er versucht
hat, Licht und Schatten zu verteilen, den einen Platz im Bilde auf
Kosten des anderen zu beleben, das eine hervor-, das andere zuriick-
treten zu lassen und so weiter, dann wirst du etwas iiber Raffael
wissen. Dann wirst du die Vorbereitung vielleicht haben, noch mehr
iiber Raffael kennenzulernen, dann wirst du allmahlich ein Bild be-
kommen von der Konfiguration von Raffaels Seele, von dem, was er
gewollt hat, aus welchen Quellen seines Gemiites die Schopfungen
hervorgegangen sind. - Man konnte sich nun vorstellen, dafi jemand
kommt und sagt: Ach, die Bilder anzuschauen, das paik mir nicht,
ich bin ein Hellseher und schaue direkt in Raffaels Seele, schaue, wie
Raffael geschaffen hat und rede dann iiber Raffael. - Ich kann mir
denken, dafi jemand kommt und sagt: Ich brauche iiberhaupt nichts
von Raffael zu sehen, sondern vertiefe mich direkt in die Seele von
Raffael. - Selbstverstandlich wiirde das in der Raffael-Forschung fur
einen Unsinn gehalten, aber auf dem Gebiete der Geisteswissen-
schaft wird das viel, viel geiibt, trotz der vielen Ermahnungen in all
den Jahren, in denen wir Geisteswissenschaft treiben. Man konnte
sehen, wie wenige sich veranlafit sahen, die Literatur, die im Laufe
der Vortragszyklen erwahnt worden ist, zu beniitzen und so zu be-
niitzen, dafi man von dem, was die materialistische Forschung gelie-
fert hat, Bilder bekommt.
Aber so, wie man nun fehlgehen wiirde, wenn man beim Bilde
stehenbliebe und nicht zum Seelischen, das durch das Bild zum Aus-
druck kommt, fortschreiten wollte, so bleibt der Materialist stehen.
Was man dem Materialisten sagen konnte, ist beispielsweise das: Ja,
du betrachtest ein Bild, aber du beachtest nicht, dafi du das, was du
betrachtest, als aufiere Offenbarung eines geistigen Inneren ins Au-
ge fassen solltest. - Aber es ist richtig, dafi die materialistische For-
schung ein ungeheuer reiches Material zusammengetragen hat.
Wenn man das als aufiere Offenbarung eines geistigen Inneren be-
trachtet, ist man auf dem richtigen Wege. Der Materialist begeht
nur den Fehler, dafi er das Materielle hat und nicht gelten lassen
will, dafi es der Ausdruck eines Geistigen ist. Aber andererseits mufi
man immer im Unrecht bleiben, wenn man irgend etwas Geistiges
behauptet und einem der Materialist Dinge sagt, von denen man
keine Ahnung hat. Selbstverstandlich kann man das reiche Gebiet
der Forschung iiberblicken und doch von sehr vielem keine Ahnung
haben; aber von der Art und Weise, wie die Dinge gewonnen wer-
den, mufi man eine Vorstellung haben. Und wenn unsere Hoch-
schule fur Geisteswissenschaft dazu dienen wird, dafi eine Anzahl
von Menschen, die sich mit dem einen oder anderen Gebiete befafit
haben, interpretieren werden die materialistischen Grundvorausset-
zungen, die man nach der heutigen Entwickelung haben mufi, dann
wird unsere Hochschule fur Geisteswissenschaft sehr viel leisten.
Wir konnten es heute schon durchaus so machen, zu sagen: Das-
jenige, was in unseren Zyklen an Material niedergelegt ist, konnte
genugen; wir konnten damit abschliefien und die nachste Zeit dazu
verwenden, unseren Freunden vorzufuhren den materiellen Grund-
stock von Voraussetzungen, die da sein miissen. Man wird dann
schon sehen, wenn man die heutige Physik, Chemie und Biologie in
entsprechender Weise betrachten wird, dafi sich das, was in unseren
Zyklen steht, ergeben wird. Dann wiirde man sich in der richtigen
Weise zu dem Materialismus gestellt haben.
Man geht ganz fehl, meine lieben Freunde, wenn man davon re-
det, der Materialismus sei falsch. Was ist das fiir ein Unsinn! Zu sa-
gen, der Materialismus ist falsch, das ist ebenso wie wenn man sagen
wollte: Die Sixtinische Madonna hat hier Blau, da Rot, das ist doch
falsch, das ist doch nur Materie. - Der Materialismus hat auf seinem
Gebiete recht; und wenn man nimmt, was er beigesteuert hat zum
menschlichen Wissen, so ist das etwas Ungeheures. Man braucht
nicht den Materialismus zu bekampfen, sondern nur an der Ent-
wickelung aufzuzeigen, wie der Materialismus, wenn er sich selber
versteht, iiber sich hinausfiihrt, so wie ich gezeigt habe, wie die Ana-
tomie und die Physiologie iiber sich selber hinausfuhren und not-
wendig in das geistige Gebiet hineinfuhren.
Man kann nur fragen: Warum gibt es so viele Leute, die, statt
den Materialismus als blofie Forschungsmethode gelten zu lassen,
bei ihm als einer Weltanschauung stehenbleiben? - Das Richtige ware
zu sagen, dafi es heute in der Tat etwas vollig Vertracktes und To-
richtes ware, wenn man Alchemie statt Chemie betriebe; man mufi
heute Chemie betreiben und nicht Alchemie wie im 12. Jahrhun-
dert. Das ist selbstverstandlich. Aber es ist notig, aus der heutigen
Forschung heraufzusteigen in das geistige Leben. Wenn unsere
Freunde sich nur die Miihe nehmen wiirden, das kleine Buchelchen
«Haeckel und seine Gegner» durchzustudieren, so wiirden sie fin-
den, dafi alle die Gedanken, die da zugrunde liegen, von dem bio-
genetischen Grundgesetz beherrscht sind. Es ist schon bezeichnend,
dafi wir gerade von diesem Schriftchen «Haeckel und seine Gegner»
es noch nicht bis zu einer zweiten Auflage gebracht haben. Und
doch ist es aufierordentlich wichtig, dafi man sich informiert, wenn
auch nicht iiber die letzten Forschungsresultate - man braucht
diese ja nicht unbedingt im einzelnen zu kennen -, aber iiber
die Art und Weise, wie der Forscher verfahrt und wie er sich nach
seiner Forschungsmethode richtet. Das ist von aufierordentlicher
Wichtigkeit.
Wenn jemand sagt: Das Buch brauche ich nicht zu studieren,
wozu habe ich das notig, fiir mich ist die geistige Welt von vorn-
herein eine Klarheit; ich brauche nicht die ganze Leiter hinaufzukrie-
chen -, wenn jemand das sagt, so ist er heute ein Egoist, der nur mit
sich rechnet und nicht beachtet, was die Zeit fur Anforderungen an
uns stellt. Aber darauf milssen wir achten, wenn wir dem Geist der
Zeit Dienste leisten wollen. Es ist aufierordentlich wichtig, dafi wir
gerade dieses ins Auge fassen. Gewifi hat man ein Recht zu sagen,
wozu brauche ich eine wissenschaftliche Grundlage, fur mich ist die
geistige Welt klar. Das kann wahr sein. Aber will man auf dem Ge-
biete der geistigen Welt etwas lernen - man kann es selbstverstand-
lich so machen, dafi man interpretiert, was da ist -, will man aber et-
was lernen, so mufi man sich mit dem, was in der materialistischen
Wissenschaft da ist, bekanntmachen.
Andererseits mufi man fragen: Wie kommt es, dafi es viele Ana-
tomen, Physiologen, Physiker, Chemiker und so weiter heute gibt
als Naturforscher, und sogar solche, welche sich Experimentalpsy-
chologen nennen, dafi diese den Materialismus nicht als Forschungs-
methode, sondern als Weltanschauung festhalten wollen? Da mufi
man ganz ehrlich den Mut zu der Antwort haben: Um materiali-
stisch zu forschen, dazu gehort nur, dafi man auf die Welt hinstarrt
mit den funf Sinnen und die aufieren Methoden handhabt. Man
braucht sich der Welt nur passiv hinzugeben, dann steht man fest.
Irgendeine Pflanze zu zerzupfen, die Staubgefafie zu zahlen, das
Mikroskop zu nehmen, einen Querschnitt zu farben, um dann die
Struktur zu studieren und so weiter - ich konnte selbstverstandlich
noch vieles auf zahlen -, dazu bringen es die Leute. Da braucht man
sich nur hinzustellen, nur passiv zu sein und die Natur auf sich wir-
ken zu lassen. Man lafit sich von der Natur gangeln.
Ich habe das in den allerersten Schriften, die ich veroffentlicht
habe, den Dogmatismus der Erfahrung genannt. An den Dogmatis-
mus der Erfahrung halt man sich. Sie konnen in meinem Buche
«Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Welt-
anschauung» nachlesen, was ich da iiber den Dogmatismus der Er-
fahrung sage. «Tatsachen-Fanatismus» habe ich ihn spater auch ge-
nannt. Um aber in die geistige Welt zu kommen, mufi man inner-
lich arbeiten, dazu ist innerliche Regsamkeit notwendig. Und da
geht den Leuten durchaus die Kraft aus. Man kann in unserer Zeit
sehen, daft diese Kraft ausgegangen ist. Wenn Sie zum Beispiel Ver-
gleiche anstellen auf dem Gebiete der Anatomie, so werden Sie fin-
den, dafi man fast mit dem Finger hinzeigen kann auf den Punkt,
wo die Kraft ausgegangen ist.
Nehmen Sie den Anatomen Hyrtl, der auf seinem Lehrstuhl von
dem Anatomen hanger abgelost wurde. Vergleichen Sie wissen-
schaftlich die Schriften der beiden, und Sie werden sehen, wie in der
Aufeinanderfolge der beiden Gelehrten der eine sich absolut klar ist
daruber, daft hinter dem Aufieren ein Geistiges steckt, und der
andere sich nicht mehr darum kiimmert. Worauf beruht das? Dar-
auf, dafi, so verdienstvoll der Materialismus als Forschungsmethode
ist und dadurch Grofies und Gewaltiges geliefert hat, ohne das die
Menschen heute nicht leben konnten, die Menschen zu faul waren,
um das, was sie erfafit haben, heraufzuholen in das tatige Leben,
Faulheit, wirkliche Tragheit des Geistes hat die Leute im Materialis-
mus beharren lassen. Weil der Materialismus so beherrschend wurde
und sich als Realitat ausgab, deshalb ist man nicht aufgestiegen
ins Geistige. Faulheit und Tragheit ist es, und man mull den Mut
haben, diesen Grund einzusehen.
Vertiefen Sie sich in die Gebiete der naturwissenschaftlichen For-
schung, so werden Sie sehen, dafi diese naturwissenschaftliche For-
schung grofiartig und bewunderungswiirdig ist. Vertiefen Sie sich in
alles das, was von den Monisten und sonstigen Vereinen als «Weltan-
schauungen» fabriziert wird, so werden Sie sehen, dafi sie auf einer
Faulheit und Tragheit, auf einer Verknocherung des Denkens beru-
hen. Das ist es, was man einmal klar ins Auge fassen mufi, dafi wir
unterscheiden miissen - wenn wir auf dem Boden wahrer Geisteswis-
senschaft stehen - zwischen dem ganz und gar Berechtigten der ma-
terialistischen Forschungsmethoden und Forschungsergebnisse und
der sogenannten materialistischen Weltanschauung.
Meistens konnen diejenigen, welche materialistisch forschen, gar
nicht denken, weil es leichter ist, materialistisch zu forschen als
spirituell zu denken. Ich will Ihnen an einem Beispiele anschaulich
machen, dafi die Materialisten einfach stolpern, wenn sie von der
materialistischen Forschungsmethode aufriicken wollen zu einer
Weltanschauung. Also nehmen wir an, ich habe versucht, ein atomi-
stisches Weltanschauungsbild zu gewinnen. Ich will also sagen: die
Korper bestehen aus Atomen. Diese mull man sich in Bewegung
denken, so daft, wenn man ein Materienobjekt vor sich hat, es - so
ist das zu denken - aus Atomen besteht. Zwischen den Atomen sind
Zwischenraume. Die Atome sind in Bewegung, und durch die Be-
wegung wird - nach der materialistischen Weltanschauung - die
Warme erzeugt. Wiirde man sagen: der Warme liegt eine Bewegung
der Atome zugrunde, dann wiirde man Recht haben, dann wiirde
man nur etwas konstatieren. Man kommt aber zu der Anschauung,
daft es unmoglich ist, von den Atomen als von etwas tatsachlich Exi-
stierendem zu reden. Die Atome sind erdacht - und sie miissen er-
dacht werden, wenn sie einen Sinn haben sollen -, aber was wahrge-
nommen wird, soli erst durch die Atome bewirkt werden. Man kann
also ein Atom nicht sehen. Man sieht, das sogenannte atomistische
Weltbild 1st aus nichts Sichtbarem, aus nichts sinnlich Wahrnehm-
barem zusammengesetzt.
Nun kann man aber nachdenken und sagen: Die Welt besteht
aus Atomen und diese sind in Bewegung. Man will nun die Art der
Bewegung, die der Warme, dem Licht, dem Magnetismus, der Elek-
trizitat und so weiter zugrundeliegt, erforschen, und da kommt man
dazu, gewisse Bewegungen der Atome als Ursachen der Sinnesemp-
findung anzunehmen. Man kommt also dabei zu Atomen. Man teilt
also das, was gegeben ist, und wenn man immer und immer teilt, so
mufi man schliefilich auf das Unteilbare kommen, und das ist das
Atom. Teilbare Atome sind sinnlos. Die letzten Teile, also die Ato-
me miissen unteilbar sein. Nun will man heute aber auch die Bewe-
gung aus den Atomen erklaren - ich kann das nur andeuten, aber
Sie konnen es in der philosophisch-wissenschaftlichen Lkeratur der
neueren Zeit weiter verfolgen -, man will also die Bewegung aus der
Beschaffenheit der Atome erklaren. Wenn man aber nachdenkt, wie
ein Atom das andere stofien mufi, damit die Bewegung herauskom-
men kann, die man bei der Warme, der Elektrizitat und so weiter
hat, dann kann man die Atome nicht starr denken, dann mufi man
sie elastisch denken. Es ist notwendig, sie elastisch zu denken, denn
starre Atome gaben bei einem Stofie nicht die Bewegung, die heraus-
kommen mufi, wenn Warme, Elektrizitat oder Magnetismus heraus-
kommen soli.
Also diese Atome miissen elastisch sein. Was heifit das aber? Das
heilk, das Atom kann zusammengedriickt werden und schnellt dann
in den friiheren Zustand zuriick. Es mufi also zusammendriickbar
sein und wieder zuruckschnellen, sonst kann man sich das Stofien
der Atome gar nicht denken. Nun hat man zweierlei gewonnen: Er-
stens, das Atom mufi unteilbar sein, zweitens mufi es elastisch sein.
Vor diesen zwei Dingen steht das moderne Denken, das dem Ato-
mismus huldigt. Das Atom mufi unteilbar gedacht werden, sonst ist
es kein Atom mehr und es mufi elastisch gedacht werden, denn es
wiirde eine sinnlose Vorstellung sein, die Atombewegung auf starre
Atome zuruckzufuhren. Sehr scharf haben besonders englische Den-
ker diese zwei Satze betont: erstens, das Atom ist unteilbar, und
zweitens, das Atom mufi elastisch gedacht werden. - Wenn ich ei-
nen Korper elastisch sein lasse, ist es nicht anders denkbar, als dafi
die Teile sich zusammenschieben und dann wieder in die urspriing-
liche Lage zuriickspringend den elastischen Korper herstellen. Dieser
ist nicht denkbar, ohne dafi er teilbar, verschiebbar ist. Das Atom
mufi aber unteilbar sein einerseits und andererseits mufi es teilbar
sein, denn sonst kann es nicht elastisch sein. Was heifit das aber?
Das heifit, wenn wir uns Atome vorstellen wollen, so kommen
wir auf zwei sich widersprechende Grundannahmen. Uber diese
kommt man nicht hinaus. Es ist eine ungeheuer interessante Litera-
tur dariiber vorhanden, das Weltbild aus nicht starren Atomen zu-
sammengefugt zu denken. Dann aber ist das Atom kein Atom
mehr, denn es mufi teilbar gedacht werden. Das heifit, man kommt
darauf, dafi die Vorstellung des Atoms unmoglich ist, solange man
annimmt, das Atom sei materiell. In dem Augenblicke, wo Sie das
Atom nicht materiell denken, wo Sie denken, das Atom sei nicht et-
was Materielles, sondern etwas anderes, kann man sich das Atom un-
teilbar denken, so wie das menschliche Ich auch unteilbar gedacht
wird. Nehmen Sie an, das Atom sei Kraft, dann konnen Sie sich
dasselbe auch zusammengefugt denken. Wenn Sie nicht materiali-
stisch denken, brauchen Sie nicht zu denken, dafi Zwischenraume da
sind. Die beiden Dinge sind also durchaus vereinbar, wenn wir uns
die Atome nicht materiell denken. Wenn wir unter sorgfaltiger Be-
riicksichtigung dessen, was uns die Optik, die Elektrizitatslehre und
so weiter bietet, die letzten Konsequenzen Ziehen, wie das Atom
sein mufi, dann kommt man dazu, zu sagen: Das Atom kann nicht
materiell sein. - Da kommen Sie notwendig in das Spirituelle hin-
ein. Abet diesen Schritt mufi man machen. Es ist dann ganz gleich,
ob das Atom elastisch oder starr ist; das ktimmert uns nicht, da ma-
chen wir nicht mit. Aber der Materialismus mufi nicht bekampft,
sondern verstanden werden. Die grofie Summe von Arbeit und
guten Erfolgen darf von der Geisteswissenschaft nicht verachtet
werden.
Gehen wir nun zum nachsten Kapitel der Wrangell-Schrift:
Zweifel an der materialistischen Weltanschauung
Nur tritt im Gemiit manches Menschen der Zweifel auf: sollte es
wirklich sich so verhalten, dafi dem Weltganzen kein verniinfti-
ger, kein sittlicher Gedanke zugrunde liegt, und die Begriffe des
Zweckmafiigen, des Sittlichen nur in der Menschenbrust entste-
hen, aufierhalb derselben aber keine Geltung haben?
Wir fiihlen in uns das Streben zum Guten, und der Begriff des
Guten ist von dem Begriff der Freiheit unzertrennlich, denn wo
absolute Notwendigkeit herrscht, gibt es nichts Boses und Gutes.
Ein Stein mufi in bestimmter Richtung mit bestimmter Ge-
schwindigkeit fallen, und es ware sinnlos, diesen Fall bose oder
gut zu nennen.
Sollte das, was wir im Innersten als den eigentlichen Wertmesser
des Lebens empfinden, nur Tauschung und Wahn sein, und sich
im Weltganzen, von dem der Mensch nur ein verschwindender
Bruchteil ist, sich diese Idee des Guten, also des in Freiheit ge-
wahlten Sittlichen, nicht wiederfinden? Sollte der geringe Teil,
der Mensch, mit erhabenen Gefiihlen und Gedanken begabt, in
dieser Hinsicht hoher stehen als das Ganze, das ohne Bewufit-
sein, ohne Zweckbegriff, gleich einem toten Raderwerk seinen
Verlauf nimmt, um mit ewigem Tode zu enden? Das Gerniit der
meisten Menschen widerstrebt solcher Losung und sucht nach ei-
ner anderen.
Es ist gut, davon zu sprechen, daft das Gerniit dem widerstrebt, aber
viel wich tiger noch ist es in unserer Zeit zu sagen, dafi das Denken
dem widerstrebt. Will man sich nur auf den Boden des Materialis-
mus stellen, so mufi man zum Atom hin und es als Materie fassen.
Man kann es aber auch Kraft nennen, und dann kommt man dazu,
dafi da, wo man die Materie hindenkt, die kosmische Gedanken-
welt ist. Da hat dann die sittliche Weltordnung ihren vollen Platz
darinnen.
Nun haben es allerdings einige bequemer gefunden, zu sagen:
Ja, wenn man so die Welt iiberdenkt, stellen sich allerdings fur das
Sinneswissen uberall Skrupel und Zweifel ein und es geht nicht an,
dieses Sinneswissen einzig und allein gelten zu lassen; aber der Mensch
ist nun einmal so veranlagt, nicht tiefer hineindringen zu konnen. -
Das ergibt dann ungefahr die folgende Situation: Da steht der
Mensch, der vielleicht ein sehr guter Forscher ist auf dem Gebiet
der aufieren Sinnenwelt und der Bleibendes, Schones, Grofiartiges
hervorbringen kann als materialistischer Forscher, aber er ist nicht
geneigt, weiter hineinzusteigen. Und so sagt er: Da mufi so alles
mogliche hinter der Materie vorhanden sein; aber wir sind mit dem
menschlichen Erkenntnisvermogen nicht befahigt, dahin zu drin-
gen. Er nennt sich selber einen Agnostiker. Er merkt nicht, dafi diese
Rede, der Mensch hat nicht die Fahigkeit und so weiter, von Ahri-
man eingegeben ist und er hort nicht das, was ihm gute Geister ein-
geben; darauf hort er nicht. In Wahrheit ist er nur ein Faulpelz.
Faulpelz nennt man es, wenn man es ehrlich sagt, Agnostizismus
nennt man es in der Wissenschaft.
Das nachste Kapitel bei Wrangell heifit nun:
Agnostizismus
Diejenige Antwort auf die Frage nach Ursprung und Ziel des
Weltganzen und nach der Bestimmung des Menschen, welche
dem Verstande die geringsten Schwierigkeiten bietet, dagegen
die Forderungen des Gemutes ganz unbefriedigt lafit, ist der
Standpunkt des Agnostikers («Nichtwissers»), wenn er sagt: diese
Fragen iibersteigen die Grenzen menschlicher Erkenntnis, miis-
sen also, ihrem Wesen nach, unbeantwortet bleiben, und es ist
vernunftiger, seine Zeit und Krafte Aufgaben zu widmen, wo
Aussicht vorhanden ist, sie zu bewaltigen.
- Man kann nkhts dagegen haben, zu sagen, ich will mich einer
Aufgabe widmen, die ich bewaltigen kann. Das steht in des Men-
schen Freiheit. Aber es steht nicht in des Menschen Freiheit, zu sa-
gen: Was ich nicht weift, darf kein anderer wissen. - Alles Philoso-
phieren iiber das, was der Mensch nicht wissen kann, ist eigentlich
im Grunde genommen eine wissenschaftliche Infamie, und aufier-
dem ist es eine wissenschaftliche Grofimannssucht sondergleichen,
weil man sich aufwirft zum Herrscher dessen, was erforscht werden
darf und nicht erforscht werden darf, weil man das, was man selber
annehmen will, als mafigebend fur alle anderen Leute hinstellt.
Welche Impotenz liegt in dem Satze: «Es gibt Grenzen des Er-
kennens»! Welcher Hochmut und welcher Diinkel darinnen liegt,
sollte man sich aber auch einmal klarmachen. Das sollte nicht in die
Ohren geraunt, sondern geschmettert werden. -
Ohne die Existenz geistiger Wesenheiten zu leugnen, behauptet
der Agnostiker, dieses Gebiet sei jedenfalls nicht jedem zugang-
lich, wahrend alles, was auf sinnlicher Erfahrung beruht, im Be-
reich der Erkenntnis des normalen Menschen liegt, und damit
sollte er sich begniigen. Diejenigen Menschen, bei denen der zur
Kritik geschulte Intellekt vorwiegt, konnen bei diesem Stand-
punkt verharren, ohne in ihrem Tun gelahmt zu werden; fur die
meisten Menschen ist diese Antwort aber keine Antwort. Stellt
man sich auf den Standpunkt eines Menschen ohne personliche
okkulte Erfahrungen und ohne Kenntnis ihm glaubwurdig er-
scheinender Berichte anderer iiber solche Wahrnehmungen, so
steht es ihm, logisch geurteilt, frei, sich fur oder gegen die Exi-
stenz geistiger Welten auszusprechen.
- Selbstverstandlich steht es im menschlichen Zusammenleben je-
dem frei, sich gegen die Existenz einer geistigen Welt auszuspre-
chen. Nur sollte man sich klar sein dariiber, dafi ein solcher Aus-
spruch nichts taugt. Man kann sich auch dagegen aussprechen, dafi
drei mal drei neun ist. -
Nur ist er nicht berechtigt, der entgegengesetzten Ansicht Wis-
senschaftlichkeit abzusprechen.
Der Grad von Glaubwiirdigkeit der Berichte anderer lafit sich
nicht mit objektiver, d.h. allgemeingiiltiger Strenge bemessen,
und es wird das Urteil dariiber notgedrungen in jedem Einzelfall
von subjektiven Beweggriinden beeinflulk.
- Ja, das kann man zeigen. -
Handelt es sich um Tatsachen, die von jedem normalen Men-
schen gepruft werden konnen, so braucht man in den meisten
Fallen sich nicht der Miihe zu unterziehen, sie personlich zu prii-
fen, denn bei der jetzigen Organisation wissenschaftlicher For-
schung ist dafiir gesorgt, dafi eine fehlerhafte Beobachtung oder
falscher Bericht bald entdeckt wird, und das zwingt jeden Beob-
achter und Berichterstatter schon seines Rufes wegen zu moglich-
ster Vorsicht und Wahrhaftigkeit, und jedenfalls bleibt ein Be-
obachtungsfehler nicht lange unentdeckt.
- Im Grunde besagt das nicht viel mehr, als wenn einer folgendes sa-
gen wiirde: Bei der heutigen Art der Organisierung der wissenschaft-
lichen Arbeit kann man, wenn man nach Basel fahrt und ein Che-
miebuch kauft, dem, was darinnen steht, schon glauben, weil darin-
nen chemische Resultate stehen, und es einem Chemiker nicht ein-
fallen kann, zu liigen. - Aber damit legitimierte man doch nur den
Autoritatsglauben. Und wenn die Leute sich das gestehen wurden,
so wurden sie sich klar sein, wieviel sie heute auf Treu und Glauben
hinnehmen. Dafi die Geisteswissenschaft zwar an ihrem Anfange
steht, aber gepruft werden kann, habe ich oft betont. Die Geistes-
wissenschaft ist noch jung; wenn sie alter sein wird, dann wird es mit
dem Geisteswissenschafter so sein, wie es heute beim Chemiker ist:
man wird sich dann klar sein, dafi man in der Geisteswissenschaft
nicht liigt. -
Bei okkulten Wahrnehmungen dagegen ist es anders, und dieser
wesentliche Unterschied hat die an kontrollierbare Tatsachen ge-
wohnten Manner der exakten Wissenschaft so lange veranlafit,
skh den okkulten Mitteilungen gegeniiber nicht nur kritisch,
d.h. priifend, sondern skeptisch, d.h. direkt abwehrend, zu ver-
halten.
- Der wirkliche Grund ist der, dafi sie zu faul sind. -
Jetzt scheint das aber nicht mehr moglich, denn das Beweismate-
rial fur die immaterielle Existenz geistiger Wesenheiten ist so ge-
wichtig, dafi Manner von zweifellos wissenschaftlicher Schulung
diese Frage fur erwiesen halten. Es geniigt, an Namen wie Zoll-
ner, Wallace, du Prel, Crookes, Butlerow, Rochas, Oliver Lodge,
Flammarion, Morselli, Schiaparelli, Ochorowicz, James u.a. zu
erinnern.
- Da verlafit sich Herr von Wrangell auf diejenigen, die an atavisti-
sche Fahigkeiten ankniipfen, wahrend wir annehmen, dafi jeder
Mensch die Fahigkeiten sich aneignen kann, die es ermoglichen, dafi
man das Geistige priift, wie man das Wissenschaftliche priift. -
Diese Manner finden nicht nur keinen Widerspruch zwischen ok-
kulten Tatsachen und feststehenden Ergebnissen exakter Sinnes-
forschung, sondern eben ihre Gewohnung zu vorurteilsfreier Kri-
tik veranlafit sie, den Skeptizismus des Materialisten zu verwerfen
und sich dem Studium okkulter Phanomene zu widmen.
- Aber sie tun es nicht auf die richtige Weise, sondern sie ziehen al-
les herunter auf dasselbe Laboratoriumsgebiet, in dem die Chemie
steht, auch das, was nur in freier Betatigung des Denkens errungen
werden kann. Statt innerlich zu konstruieren, geht man gleichsam
mit dem Zollstab herum und mifit. -
Diese Autoritaten konnen sich in ihrem Urteil irren, ihr Stand-
punkt kann aber als Beweis dafur dienen, dafi wir berechtigt
sind, die Existenz geistiger Wesenheiten anzunehmen, ohne uns
dem Vorwurf wissenschaftlicher Ignoranz auszusetzen. Vorausge-
setzt, dafl man selbst keine okkulten Fahigkeken hat, ist man auf
die Berichte anderer angewiesen und mufi sie auf ihre Glaubens-
wiirdigkeit priifen.
- Besser ware es, wenn man versuchte, sich auf dasjenige einzulas-
sen, was in «Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten?»
gesagt ist. Es ist viel leichter als viele annehmen. Die meisten er-
kennen es nur nicht an; aber alle moglichen Vertracktheiten werden
anerkannt. Es ware wirklich verhaltnismaftig sehr leicht, in ein paar
Jahren wenigstens so viel von der geistigen Welt zu erleben, als notig
ist, um sie im allgemeinen anzuerkennen. Aber die Leute sagen: Das
ist nichts; denn sie streben nach dem, was ich das Bauchhellsehen
genannt habe. Und wenn es nicht zum Bauchhellsehen kommt,
dann gilt ihnen das alles nichts. -
Die Quellen des Irrtums okkulter Wahrnehmungen liegen so-
wohl im Subjekt wie auch im Objekt. Selbst eine oberflachliche
Kenntnisnahme des von Spiritisten und anderen Okkultisten zu-
sammengehauften Wahrnehmungsmaterials zeigt uns, dafi hier,
zugestandenermaflen, die Quellen der Irrtiimer iiberreichlich
fliefien . . .
- Das tun sie wahrhaftig nicht. Es ist nicht anders als wenn man sagt:
Die Natur liigt nie! Aber sie liigt alle Augenblicke. Nehmen Sie ein
Glas mit Wasser und stecken Sie einen Stab hinein, so erscheint er
Ihnen gebrochen; er ist es aber nicht. Nehmen Sie den Gang der
Sonne am Himmelsgewolbe, vergleichen Sie die Grofie am Mor-
gen und die Grofie am Mittag: den ganzen Tag iiber liigt die Natur
Sie an. Genau ebensoviel und ebensowenig liigt die geistige Welt.
Es ist zum Beispiel aufierordentlich interessant , die Vorgange im Athe-
rischen des Menschen sich zu vergegenwartigen, wenn man eine
Unpafilichkeit in den Gedarmen hat, oder zu beobachten, was der
Atherleib tut, wenn die Verdauungsvorgange vor sich gehen. Es ist
ebenso interessant, wie wenn man gewohnlich Anatomie oder Phy-
siologic studiert, ja noch interessanter. Aber unberechtigt ist es,
wenn man dasjenige, was nichts anderes als ein Vorgang im Ather-
leib bei der Verdauung ist, als grofiartigen Vorgang der kosmischen
Welt ansieht. Die geistige Welt selbst liigt also nicht; man mufi sie
nur in der richtigen Weise deuten. Es ist auch nicht notig, dasjenige,
was bei unserer Verdauung im Atherleibe vorgeht, zu verachten.
Man darf es nur nicht miftverstehen. Auch die Sinne trugen in Wirk-
lichkeit nicht. Wenn man hineingreift in das Wasser, so findet man
mit der Tastwahrnehmung . . . [Likke in der Nachschrift]. Die Na-
turforschung hat sich im Laufe der Zeit gute Regeln durch Studium
angeeignet, wahrend man glaubt, in der Geisteswissenschaft gelte,
dafl man um so besser dazu tauge, je weniger Studien man durch-
gemacht habe.
Also: «Selbst eine oberflachliche Kenntnisnahme des von Spiriti-
sten und anderen Okkultisten zusammengehauften Wahrnehmungs-
materials zeigt uns, dafi hier, zugestandenermaften, die Quellen
der Irrtiimer reichlich fliefien ...»
denn sie liegen nicht nur, wie in der sinnlichen Welt, im Sub-
jekt, sondern aufierdem noch im Objekt, indem zahlreiche bos-
artige Wesenheiten es sich zur Aufgabe machen sollen, den for-
schenden Menschen irre zu leiten. Wenn man von den gewohn-
lichen Sinneswahrnehmungen mit Recht sagen konnte: die Na-
tur liigt nie, nur der Mensch mifiversteht sie manchmal ist es,
nach Aussage der Geheimforscher, in der Geisteswelt anders. Es
ist also, falls die Realitat geistiger, vom Stofflichen unabhangiger
Erscheinungen zugestanden wird, eine grofie und schwierige
Aufgabe, dort die Spreu vom Weizen zu scheiden. Das ist die
Aufgabe der Geisteswissenschaft, die, will man sie ernst betrei-
ben, die ganze Zeit und Kraft eines Menschen erfordert, wie das
iibrigens mit jedem anderen Wissenszweig der Fall ist, wenn
auch vielleicht in geringerem Mafie.
Fur die Mehrzahl der Menschen ist ein solches Studium jedoch
weder moglich noch auch erforderlich. Wie man Christ sein kann
und in den Lehren Jesu Trost und Erhebung finden, in seiner
Person das sittliche Ideal verwirklicht sehen, ohne Theologe zu
sein, so kann man in den Grundlehren der Theosophie eine Deu-
tung des eigentlichen Sinnes und Zweckes des eigenen Lebens er-
kennen, ohne mit dem umfassenden Gebaude der Geheimwis-
senschaft vertraut zu sein.
- Das ist eine Behauptung, die nicht ohne weiteres festgehalten wer-
den kann, denn wenn die Menschen nicht Chemiker von Fach, nicht
Biologen von Fach sind, so lafit es sich heute doch leben. Aber dasje-
nige, was der Welt angehort, der die menschliche Seele selbst ange-
hort, wird der Mensch nach und nach wissen mussen. Es ist eine Art
ungerechtfertigter Ablehnung, wenn man so spricht, daft man, um
Theosoph zu sein, ebensowenig mit der Geheimwissenschaft ver-
traut zu sein brauche, wie man Theologe zu sein brauche, um ein
Christ zu sein. -
Es wird diejenige Weltanschauung dem Handeln und Empfin-
den des Menschen am forderlichsten sein, welche sowohl seinen
Verstand wie sein Gefuhl am meisten befriedigt.
Das nachste Kapitel ist iiberschrieben:
Fortbestehen der Seele nach dem Tode
Wenn man annimmt, das geistige Prinzip im Menschen, das, was
man mit dem Worte Seele bezeichnet, sei eine Wesenheit, die
auch nach dem Tode des Korpers weiterbesteht, so sind iiber sein
ferneres Schicksal verschiedene Vorstellungen moglich, von de-
nen wir hier, als zur Zeit fur uns im Vordergrund stehend, nur
die christliche Auffassung und die Lehre von der Wiederverkor-
perung betrachten wollen. Die Lehre Christi ist fur Millionen
eine Quelle von Trost und sittlicher Kraft gewesen und wird es
wohl auch in Zukunft sein. Es lafit sich jedoch nicht leugnen, daft
sich fur den wissenschaftlich gebildeten Europaer die Schwierig-
keken intellektueller Art gehauft haben und den Kampf zwi-
schen Glauben und Wissen auf Grundlage der christlichen Lehre
nicht zum Ausgleich kommen lassen. Der bestehende Gegensatz
erheischt ein Opfer, entweder des Verstandes oder des Gemiits.
Zu diesen intellektuellen Schwierigkeiten gesellen sich bei man-
chem schwere sitdiche Bedenken gegen die iibliche Auffassung
des Christentums. Alle christlichen Konfessionen lehren, daft die
Seele des Menschen nach seinem Tode ein Schicksal erduldet, das
von ewiger Dauer ist: ewige Seligkeit oder ewige Verdammnis.
Daft dieser Glaube der Forderung nach Gerechtigkeit wider-
spricht, empfindet wohl jeder Mensch. Die Grundlage jeder Sitt-
lichkeit ist Gerechtigkeit.
- Wiirde man nur etwas mehr wissen! Selbstverstandlich hat Wran-
gell recht, wenn er sagt, dafi man so nicht von ewiger Seligkeit und
ewiger Verdammnis sprechen kann, da diese der Gerechtigkeit wi-
dersprechen. Denn «ewig» ist ein Unding, wenn man glaubt, dafi es
etwas Unendliches ist. «Ewig» ist nur ein Zeitalter, ein Weltalter,
und eigentlich sollte man auch im Christlichen von «ewig» nicht an-
ders sprechen als von einem Zeitalter, und das entspricht ungefahr
der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. -
In jedes Menschen Brust liegt tief und unerschutterlich das Ver-
langen, dafi jedem nach Verdienst geschehe. Die Auffassung von
Verdienst ist freilich wechselnd; die Wertschatzung des Erlebten
und Empfundenen gleichfalls. Aber dariiber kann kein Zweifel
herrschen, dafi der Mensch glucklicher, besser, befriedigter ware,
wenn er die Uberzeugung hatte, dafi das Geschehen des Welt-
ganzen der Forderung nach Gerechtigkeit auch im einzelnen ent-
spricht. In dem, was wir im Verlauf des leiblichen Lebens an uns
selbst und anderen erfahren, sehen wir keine Gerechtigkeit wal-
ten, gleichviel ob wir seelische, geistige oder korperliche Leiden
und Freuden als Wertmesser des Erlebten ansetzen. Nach der
Lehre der christlichen Kirchen soli diese scheinbare Ungerechtig-
keit des irdischen Lebens im Jenseits ausgeglichen werden; sie
wird aber im Grunde noch unendlich verscharft durch die ewigen
Folgen zeitlicher Vergehungen beziehungsweise Verdienste.
- Es ist selbstverstandlich, daft Wrangell nur von dem spricht, was
die christlichen Kirchen sagen, die entstanden sind, nachdem Justi-
nian die griechischen Philosophenschulen geschlossen hatte. Er
ubersieht aber, daft wir die Aufgabe haben, die versperrte Weisheit
der Menschheit wieder zuganglich zu machen. Man mufi schon die
richtigen Grunde suchen. Man konnte auch zeigen, daft die, welche
heute Christentum lehren, nicht das wahre Christentum lehren,
sondern ein solches, das zurechtgemacht worden ist. -
Das nachste Kapitel heiftt:
Wiederverkdrperung und Karma
Die Lehre von der Wiederverkdrperung und dem Karma bietet
uns dagegen die Moglichkeit, die sichtbare Ungerechtigkeit eines
Lebensschicksals dadurch aufzulosen, daft es in fruheren Lebens-
laufen selbst verschuldet war, und daft die Moglichkeit vorliegt,
es fur die folgenden Wiederverkorperungen zu verbessern.
Ein solcher Glaube, wenn er zu innerer Gewiftheit geworden,
gibt die Kraft, ohne innere Emporung sein Schicksal, auch das
harteste, zu tragen und spornt dazu an, es fur die Zukunft zu
verbessern, indem man der Stimme folgt, die wir «Gewissen»
nennen.
Das in unserem Bewufttsein vorhandene Verantwortlichkeitsge-
fiihl wird gekraftigt, und die Gefahr, daft die Menschheit in Sin-
nestaumel und Selbstsucht die kurze Spanne des zeitlichen Le-
bens auszunutzen sucht, ware beseitigt. Die Lehre von der Wie-
dergeburt und dem Karma macht den Menschen frei, denn sie
stellt ihn auf sich selbst.
Gewift bleibt das grofie Ratsel von dem «Wozu» des Ganzen un-
gelost, aber Zweck und Aufgabe des einzelnen Lebens sind klar
und bestimmt.
Als nachstes Kapitel wird der Schluft von Lessings «Erziehung
des Menschengeschlechtes» angefuhrt:
Lessings Ansicht iiber die Lehre der Wiedergeburt
«Ist diese Hypothese (von der Wiederverkorperung) darum so la-
cherlich, weil sie die alteste ist? Weil der menschlkhe Verstand,
ehe ihn die Sophisterei und Schule zerstreut und geschwacht hat-
te, sogleich darauf verfiel? Warum sollte ich nicht so oft wieder-
kommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen
geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daft es der Miihe
wiederzukommen etwa nicht lohnt?
Nach der Wiedergeburtslehre ist es unser Los, auf dieser Erde zu
leben, bis wir unsere Bestimmung erreicht haben: Gotteser-
kenntnis, welche ist Selbsterkenntnis. Der Tod ist keine Vernich-
tung; das Ich-Bewufitsein, unser eigentliches Wesen, tritt nur in
einen anderen Korper. Auch der Selbstmorder entrinnt nicht, er
schneidet nur den Lebensfaden ab, der nach unerbittlichen Ge-
setzen wieder angekniipft werden mui»
- So Lessing. Das waren kraftige Worte. Das waren aber auch Worte
eines Mannes, der die Bildung seiner Zeit in sich hatte und durch
das, was ihm diese und das Christentum geben konnten, notwendig
zu dieser Lehre von der Wiederverkorperung gefuhrt wurde. Man
sieht an dieser Stelle die eminente Bildung, man sieht den Ge-
schichtskritiker. Aber nun sagt man, naturlich ist Lessing ein grofier
Mann; er hat den «Nathan» geschrieben und so weiter, das ist gut,
aber, alt geworden, hat er sich solchen phantastischen Traumereien
hingegeben wie der Lehre von der Wiedergeburt; da kann man nicht
mitgehen. - Nun, da ist eben der Hofmeisternde viel gescheiter als
Lessing in seinem Alter geworden ist. So mancher glaubt ja, dafi er
doch viel gescheiter ist als Lessing, den man sonst sogar als grofien
Mann gelten lafit. Man sollte wenigstens das Lacherliche einer sol-
chen Anerkennung einsehen; einsehen, dafi man hinstreben mufi zu
dem, wozu Lessing sich zuletzt durchgearbeitet hatte. Man sollte das
Lacherliche einsehen, wenn man nicht mitgehen will bis zu dieser
reifsten Frucht des Lessingschen Denkens, geschweige nicht zu ge-
denken dessen, was in dem neueren Geistesleben nachgekommen
ist. Diese Menschen sprechen, ohne auf den eigentlichen Grundkern
einzugehen, der schon dem neuen Geistesleben zugrunde gelegen
hat, der aber fur viele, die es interpretieren, ein Buch mit sieben
Siegeln ist. - Nun, Wrangell sagt weiter:
Dafi auch Goethe am Glauben an eine Wiedergeburt hing, wis-
sen wir aus den Mitteilungen Eckermanns und Boisserees. Kant
sagt in seinen «Vorlesungen iiber Psychologie»: «Der Anfang des
Lebens ist die Geburt; dieses ist aber nicht der Anfang des Lebens
der Seele, sondern des Menschen. Geburt, Leben und Tod sind
also nur Zustande der Seele... Mithin bleibt die Substanz,
wenngleich der Korper vergeht, und also mufi auch die Substanz
dagewesen sein, als der Korper entstand.»
Jetzt folgt das letzte Kapitel:
Kurze Zusammenfassung des Gedankenganges
Versuchen wir, den oben niedergelegten Gedankengang kurz zu-
sammenzufassen.
Der Begriff des Gesetzmafligen, der notwendigen Verkettung
von Ursache und Wirkung im Geschehen, ist keine ursprungliche
Erkenntnis. Das unmittelbare Bewufltsein gibt uns im Gegenteil
die Vorstellung der bedingten Freiheit.
Der Begriff des Gesetzmafiigen, worauf jede Wissenschaft be-
ruht, trat dem Menschen zuerst wohl aus Beobachtung des zeit-
lich regelmafiigen Verlaufs der Himmelserscheinungen entgegen.
Dann wurde dieser Begriff mit immer wachsendem Erfolge auf
die Erscheinungen des Unbeiebten angewandt (Physik, Chemie),
dann auf das Belebte, schliefilich auch auf das Geistige.
Gepriift und unwiderruflich erwiesen kann der Begriff der Ge-
setzmafiigkeit nur an solchen Erscheinungen werden, die sich
quantitativ bestimmen lassen, die gemessen werden konnen.
Die Ausdehnung der Vorstellung der Notwendigkeit vom Stoffli-
chen auch auf das Geistige ist eine Annahme, der man, nach
Analogie mit dem Geschehen im Stofflichen, zwar eine gewisse
Wahrscheinlichkeit zusprechen kann, die aber nicht bewiesen
werden kann, weil der Prufstein der Mefibarkeit hier fehlt.
Zahlreiche, von urteilsfahigen Mannern der Wissenschaft gepriif-
te Tatsachen gestatten es keinem wahrheitssuchenden Menschen,
die Existenz geistiger Wesen zu leugnen, ohne den Nachweis zu
fiiihren, weshalb er die betreffenden Tatsachen und ihre Beweis-
kraft verwirft.
Die Grundlehren der Theosophie - Wiedergeburt und Karma -
widersprechen keiner wissenschaftlichen Tatsache, befriedigen
den Verstand und genugen, besser als andere Lehren, der
Grundlage jeder Sittlichkeit - der Forderung nach Gerechtig-
keit.
Der Glaube an diese Grundannahmen mufi den Menschen zum
Ertragen unerwiinschter Lebensschicksale starken und das Stre-
ben nach dem Guten in ihm fordern.
Nun, meine lieben Freunde, so steht diese Broschiire vor uns als
ein Dokument unserer Zek, als der Ausdruck eines Menschen, der in
der Durcharbeitung wissenschaftlicher Methoden fest darinnensteht
und Zeugnis ablegen will dafiir, dafi man ein guter, vollbewulker
Wissenschafter sein kann und gerade - nicht trotzdem, sondern
eben deshalb - zu einer den Geist anerkennenden Weltanschau-
ung kommen mull.
Sie werden gerade aus den letzten Kapiteln der Broschiire des
Herrn von Wrangell ersehen haben, dafi er sich noch nicht sehr tief
befafit hat mit der Geisteswissenschaft, daft er nicht an den Unter-
schied herangetreten ist zwischen dem, was die Geisteswissenschaft
will, und der dilettierenden Theosophie. Und daher ist es um so
wich tiger zu sehen, wie jemand, der wissenschaftlich geschult ist,
nach dem verlangt, was nur durch die Geisteswissenschaft wirklich
gegeben werden kann, so dafi man sagen kann: man hat durch eine
solche Broschiire kennengelernt, wie ein vorurteilsloser Wissen-
schafter sich zu einer Geist anerkennenden Anschauung stellen
kann.
Man kann noch andere Faden ziehen und wir werden das gele-
gentlich tun. Wir werden uns dadurch weiter in die Sache hineinbe-
geben, um nicht nur in egoistischer Weise die Geisteswissenschaft zu
pflegen, sondern sie wirklich als ein Kulturferment anzusehen und
durch sie an dem Entwickelungsgange der Menschheit mitzuarbei-
ten. Das ist das aufierordentlich Wichtige, dafi wir uns angewohnen,
wirklich in allem mitzugehen.
Manchmal kann man in unseren Reihen eine bestimmte Erfah-
rung machen. Seien Sie nicht bose, wenn ich von dieser Erfahrung
spreche, aber sie kann wirklich gemacht werden. Es gibt namlich in
unseren Reihen gewisse Mitglieder, die sagen: Offentliche Vortrage,
die sind fur uns nicht wichtig -, und sie sagen das in einer Weise, aus
der man sieht, wie sie nicht recht mitgehen. Sie sagen, die offentli-
chen Vortrage, das ist nicht das Allerwichtigste; die Zweigvortrage ja,
die sind fur uns, aber iiber das, was die offentlichen Vortrage geben,
sind wir hinaus. - Und dabei ist es gerade so, dafi die offentlichen
Vortrage eingerichtet sind fur diejenigen, die einen Zusammenhang
mit der Auftenwelt haben. Und viel mehr wird Bezug genommen
auf die zeitgenossische Wissenschaft in den offentlichen Vortragen
als in den Privatvortragen, die zeigen, wie sehr haufig zarte Riick-
sicht genommen werden mufi darauf, dafl man es nicht liebt, streng
wissenschaftliche Fragen zugrunde zu legen. Und dieses Zarte-Riick-
sicht-Nehmen wird oftmals so interpretiert, dafi man sagt: die
offentlichen Vortrage sind nicht so wichtig.
In Wahrheit liegt etwas anderes vor. Es liegt auch diesen Dingen
nur eine bestimmte Art von Egoismus zugrunde. Ich will keine Lan-
ze brechen fur die offentlichen Vortrage, ich will nur das Haltlose
anfechten, das viele Leute als Meinung haben. Man wird vielleicht in
den Zweigvortragen da oder dort leichter dieses oder jenes Zwischen-
glied vermissen konnen; aber die offentlichen Vortrage mussen Glied
fur Glied gestaltet werden. Das lieben viele nicht, die mit ihrer
Arbeit nicht in dem gesamten Kulturprozesse unserer Zeit darinnen-
stehen. Aber auf dieses Sich-Hineinstellen in den Kulturprozef] der
Zeit, auf dieses Nicht-sich-Abschliefkn kommt es gerade an.
Es ist natiirlich auch leichter, von Engeln, Luzifer und Ahriman
zu reden als von Elektronen, Ionen und so weiter. Aber nicht wahr,
wir mussen uns schon einmal auch zum Bewufltsein bringen, daft wir
die Faden nach der gegenwartigen Kultur hin durchaus ziehen miis-
sen. Ich bitte Sie aber , die Sache nkht wieder einseitig zu nehmen,
so als wenn ich Sie auffordern wollte, Sie sollen sich morgen die gan-
2e wissenschaftliche Sammlung Goschen kaufen und sich hinsetzen,
um alles das nach und nach zusammenzuochsen, wie die Studenten
sagen wurden. Das meine ich durchaus nicht. Ich meine nur, daft
da, wo man mafigebend reden will iiber die Stellung der Geisteswis-
senschaft zu unserer Kultur, man auch ein Bewufitsein davon haben
mufi und namentlich nicht in den Fehler verf alien soil, zu sagen:
diese auflere Wissenschaft ist ein blauer Dunst. Man kann ja als Ein-
zelner sagen, man habe keine Zeit, sich damit zu befassen; aber der
ganzen Einrichtung, dem ganzen Betriebe sollte durch das, was ich
gesagt habe, eine gewisse Richtung gegeben werden. Und es sollte
nicht Verwunderung erregen, daft die geisteswissenschaftliche Hoch-
schule einzelne Zweige der Wissenschaft so betreiben will, daft sie
nach und nach zur Geisteswissenschaft hinfuhren werden. Wir be-
diirfen doch drauften der materialistischen Kultur. Und diejenigen
der Anthroposophen tun Unrecht, die sagen: Was schert mich die
materialistische Kultur, die geht mich nichts an, die ist fur grob-
klotzige Materialisten; ich pflege dasjenige, was man erlebt, wenn
man traumt, wenn man nicht ganz recht bei vollem Bewufitsein ist;
das andere geht mich nichts an, ich habe die Lehren von Reinkar-
nation und Karma und so weiter. - Auf der anderen Seite ist die
Welt da drauften, die sagt: Wir haben die reale Wissenschaft, die
ernsten und wiirdigen Methoden, und da kommen nun die Anthro-
posophen mit ihrer Geisteswissenschaft; das sind ja die reinsten
Narren.
Bei diesem Gegensatz darf es nicht bleiben, und von drauften
kann nicht erwartet werden, daft die Vermittlung kommt. Die Ver-
mittlung mufi von innen kommen. Wir miissen verstehen und diir-
fen uns nicht aufs Faulbett legen und sagen: Wenn wir in die gei-
stige Welt erst hinaufklettern miissen durch die Wissenschaft, das
ist uns viel zu muhsam.
Von der Bedeutung der materialistischen Kultur wollte ich spre-
chen und Sie auf dieselbe aufmerksam machen, denn ich habe es
oftmals betont: der Materialismus kommt von Ahriman, aber Ahri-
man mufi man kennen, geradeso wie man Luzifer kennen und mit
ihm rechnen mui Und die Trinitat, die wir gestern am Modell an-
schauen konnten, ist dasjenige, mit dem sich die Menschheit wird
bekanntmachen miissen.
Ich mochte noch einmal wiederholen: Versuchen Sie nicht die
Auftenwelt zu argern dadurch, daft Sie von einer neuen Religion
sprechen. Wenn wir von der Gruppe als «Christus-Statue» sprachen,
so wiirde das ein grofier Fehler sein. Es geniigt zu sagen: Da steht der
Reprasentant der Menschheit. Jeder kann sehen, was da gemeint ist.
Es ist wichtig, daft wir immer die richtigen Worte finden, das heiftt,
daft wir bedenken, wie wir uns hineinstellen sollen in die ganze Kul-
turwelt und dazu kommen wollen, die Sache mit den richtigen Wor-
ten zu bezeichnen. Das ist dasjenige, was immer wieder gesagt wer-
den mufi. Wir wollen nicht zu anderen sprechen: Da haben wir
erst den richtigen Christus dargestellt. - Das mogen wir wissen und
fur uns behalten. Fur uns ist es wichtig, den ganzen Segen der
materialistischen Kultur einzusehen, sonst begehen wir denselben
Fehler, den die anderen begehen, die nicht priifen.
Fragen wir uns, ob wir es nicht mit den anderen ebenso machen.
Wir brauchen zwar mit dem wahren Urteil nicht zuriickzuhalten,
aber miissen verstehen, was drauften vorgeht. Dann werden wir auch
in den richtigen Worten dem entgegentreten konnen, was drauften
ist. Aber, meine lieben Freunde, wir werden viel, viel zu tun bekom-
men nach dieser Richtung, denn die Tragheit, von der ich heute ge-
sprochen habe, ist sehr, sehr verbreitet und wir miissen den Mut fin-
den, den Leuten zu sagen: Zu trage seid ihr, um euch in die Aktivi-
tat des Denkens zu begeben.
Wenn wir verstehen, was drauften ist, dann diirfen wir auch Star-
ke Worte benutzen, einen energischen Kampf aufnehmen. Aber wir
miissen uns bekanntmachen damit und die Faden zu der aufteren
Kultur ziehen. Deshalb wollte ich auch ein Beispiel geben an der
sehr verdienstvollen Wrangellschen Broschiire, die zeigt, wie jemand
stark als Wissenschafter ist, aber sich nicht geniigend mit der gei-
steswissenschaftlichen Weltanschauung befaftt hat, jedoch durch die
ganze Richtung seiner Seele zur Geisteswissenschaft hinneigt.
Wir haben das Fadenziehen oft, zumeist an konkreten Person-
lichkeken gezeigt, und ich rate Ihnen, da, wo Zweige sind, das audi
in Zusammenarbeit zu tun. Selbstverstandlich kann das nicht die
Arbeit von einem einzigen sein; da wiirde man nicht fertig werden.
Sondern da mufi einer sein, der meinetwillen eine Broschiire iiber
die Euckensche Weltanschauung iibernimmt und ein anderer
nimmt eine Broschiire, die das Brut-, Muskel- und Nervensystem
und so weiter zum Gegenstande hat und arbeitet sie mit den ande-
ren durch. Das kann Zweigarbeit sein. Das kann dann so eingerich-
tet werden, daft man an einem Zweigabend rein geisteswissenschaft-
lich arbeitet und am nachsten dann eine solche Sache durchnimmt.
Wenn der eine es an einem Tage getan hat, so kann es das andere
Mai ein anderer tun. Es kann jeder an irgend etwas anknupfen, was
ihm irgendwie naheliegt. Und warum sollte einer, der gar keine wis-
senschaftliche Bildung hat, nicht auch an das oder jenes anknupfen
konnen? Es gibt Fragen des Leben, die auch an solche Dinge ange-
kniipft werden konnen. Es ist viel nutzlicher, die Zeit zu solchen Stu-
dien zu beniitzen, als allerlei okkulte Vertracktheiten und Material
aus Traumen herauszuholen, und das den Leu ten zu erzahlen. Es ist
auch das nicht einseitig gemeint. Es soli nicht gesagt sein, dafl man
niemals von okkulten Erlebnissen sprechen konne; aber es handelt
sich darum, die richtige Verbindungslinie zu ziehen. Es handelt sich
nicht darum, die Wissenschaft der Sinne zu verachten, sondern sie
zu beherrschen. Die Wissenschaft der Sinne soli nicht totgetreten
oder vernichtet, sondern beherrscht werden.
SECHSTER VORTRAG
Dornach, 9. Oktober 1915
Wir haben anhand der Wrangellschen Broschure iiber «Wissen-
schaft und Theosophie» verschiedene Gedanken auseinander zusetzen
versucht, die zeigen, wie derjenige, der ganz feststehen will auf dem
Boden der modernen Wissenschaft, dennoch hingedrangt wird zur
Anerkennung einer Erkenntnis des geistigen Lebens. Und wie Sie
gesehen haben, haben wir gegen die Wrangellsche Broschure eigent-
lich weniger etwas einzuwenden, als vielmehr im Sinne der Geistes-
wissenschaft nur Erganzungen zu geben gehabt. Es liegt also in die-
ser Broschure ein, wie es zunachst scheint, subjektives Urteil vor dar-
iiber, wie der Weg des modernen Wissenschafters zur Geisteswis-
senschaft hin ist, wie man, mit anderen Worten, ganz gut moderner
Wissenschafter sein und dennoch den Weg zur Geisteswissenschaft
finden kann.
Es ist wichtig, gerade diesen Gedankengang einmal ins Auge zu
fassen, weil es mir durchaus notig erscheint, dafi von denjenigen, die
auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen, klar erkannt werde,
daft die Einwande von den sogenannten Wissenschaftern eben
durchaus nicht wirklich wissenschaftlich sind, sondern daher kom-
men, daft man eben heute ein ausgezeichneter Wissenschafter sein
kann, der die materialistischen wissenschaftlichen Methoden auf ir-
gendeinem Gebiete der Wissenschaft ganz gut zu handhaben ver-
steht und daneben in alien anderen Weltanschauungsfragen durch-
aus Dilettant sein kann.
Nun mochte ich heute - sozusagen in Fortsetzung der anhand
der Broschure entwickelten Gedanken - noch einige andere fur uns
wichtige Gedanken entwickeln. Ich mochte zeigen, wie die gegen-
wartige Entwickelung der Menschheit an einem Punkt angelangt ist,
der gerade dem einsichtigen Wissenschafter, dem, der es mit der
Wissenschaft wirklich ernst nimmt und sie zu wiirdigen weifi, es
nahelegen mufite, auf das geisteswissenschaftliche Studium einzu-
gehen und es nicht so zu machen, wie man es eben bisher vorzugs-
weise gemacht hat: es als etwas von vornherein Abzulehnendes zu
betrachten.
Ich habe ja - und manche von Ihnen werden sich dessen erin-
nern - den Betrachtungen, die an die Wrangellsche Broschtire an-
gekniipft worden sind, in gewisser Beziehung geradezu einen Lob-
gesang angestimmt auf die materialistische wissenschaftliche Methode .
Ich habe gesagt, dafi sie grofie und bedeutsame Ergebnisse in der
neueren Zeit gezeitigt hat, daft man nur einen richtigen Gesichts-
punkt zu gewinnen braucht gegeniiber dieser materialistischen wis-
senschaftlichen Methode und man wird sie schatzen und nicht un-
terschatzen. Man wird sich mit ihren Resultaten vertraut machen ge-
rade dann, wenn man notwendigerweise die Faden zwischen ihr und
der Geisteswissenschaft zu ziehen beabsichtigt.
Nun mochte ich zuerst ausgehen von einem gewissermaflen na-
turwissenschaftlichen Gedankengang, der uns zeigen kann, wie der
denkende Naturwissenschafter - gerade dann, wenn er sich selbst in
der richtigen Weise versteht - an die Tiire der Geisteswissenschaft
pochen sollte. Ich mochte auf ein Kapitel der modernen Naturwis-
senschaft aufmerksam machen, das auch in sozialethischer Bezie-
hung eine grofie Bedeutung hat, diese aber in einer menschlich be-
friedigenden Weise nicht gewinnen kann, solange eben die Natur-
wissenschaft den Weg zur Geisteswissenschaft nicht gefunden hat.
Ich mochte etwas eingehen auf einige Gedankengange der soge-
nannten Kriminalanthropologie.
Einer der grofien Forscher der Kriminalanthropologie ist der von
mir schon ofter genannte Professor Dr. Moriz Benedikt. Er hat als
einer der ersten in ganz moderner systematischer Weise Verbrecher-
gehirne untersucht, indem er Verbrecher, insbesondere Morder,
die zum Tode verurteilt worden waren, nachher seziert hat. Die Er-
gebnisse war en gegeniiber so mancherlei Anschauungen, die vordem
bestanden, in der Tat so iiberraschend, dafi er zunachst, nach den
ersten Untersuchungen, denken konnte, er habe es mit einer Art
wissenschaftlichem Abenteuer zu tun und durchaus nicht mit irgend
etwas auf der Fahrte der Wahrheit. Wenn er also Verbrechergehir-
ne untersuchte, so zeigten sich immer - das heifit fur denjenigen,
der mit der Konfiguration, mit der Plastik des normalen menschli-
chen Gehirns vertraut ist - ganz bestimmte innere Strukturen, mit
ganz bestimmten, von der Struktur des Gehirns eines Menschen, der
kein Verbrecher war, abweichenden Merkmalen. Und damit wir uns
nicht zu sehr verbreiten, will ich mich an das Hauptmerkmal halten.
Es zeigte sich, dafi ein bestimmter Teil des menschlichen Ge-
hirns, den man den Hinterhauptslappen nennt und der das Klein-
hirn bedeckt, bei den Verbrechern zu klein ist, so dafi er das Klein-
hirn, das er sonst ganz bedeckt, nur sparlich oder gar nicht bedeckt.
Nun denken Sie sich einmal, man seziert ein Verbrechergehirn
und findet, dafi dieses Verbrechergehirn sich von einem normalen
Gehirn so unterscheidet, dafi der Hinterhauptslappen das Kleinhirn
nicht ganz bedeckt, dann mufi man doch zu der Schlufifolgerung
kommen: Wenn man so geboren ist, dafi man unmoglich den Hin-
terhauptslappen so weit entwickeln kann, dafi er das Kleinhirn be-
deckt, dann kann man im Leben iiberhaupt tun was man will, man
wird eben ein Verbrecher und folglich konne man nichts dafur. -
Und wenn man nun Affengehirne untersucht, so zeigt sich die glei-
che Eigentiimlichkek: der Hinterhauptslappen bedeckt das Klein-
hirn nicht ganz. So dafi man sagen mufi: Bei den verschiedenen Fort-
entwickelungsmomenten auf dem Wege vom Affen zum Menschen
ist auch zu beachten, dafi der Mensch iiber die Affenentwickelung
hinausgekommen und ein vollkommeneres Wesen dadurch gewor-
den ist, dafi sein Hinterhauptslappen gewachsen ist und das Klein-
hirn vollig bedeckt. Das heifit also: Wenn der Mensch Verbrecher
wird, so fallt er zuriick in die Affenorganisation. Beim Verbrecher
haben wir es also mit einem ausgesprochenen Atavismus zu tun. Das
heifit nichts anderes, als dafi unter den Menschen solche Individuen
herumgehen, welche in der Gehirnstruktur atavistisch in das Affen-
bild zuriickgefallen sind. Diese atavistischen Individuen werden
eben Verbrecher.
Nun denken Sie an die ethischen und sozialen Folgen einer sol-
chen Anschauung und dann wissen Sie, was es unter den Auspizien
der gegenwartigen materialistischen Weltanschauung - ich meine
nicht die geltende Naturwissenschaft - heifit, sich diesen Tatsachen
fugen zu miissen. Denn die Tatsachen sind vorhanden und nur ein
Narr konnte sie ableugnen. Es steht also der, welcher sich von der
materialistischen Weltanschauung leiten lafit, vor der Aufforderung:
Sieh dir doch nur einmal Verbrechergehirne an, da kannst du sehen,
daft die Gehirnstruktur ins Affenhafte zuriickfallt. Also siehst du
doch deutlich, wie dasjenige, was sich im Menschen sittlich offen-
bart, einfach eine Folge der materiellen Organisation des Korperli-
chen ist. Da siehst du es doch augenscheinlich. Der Mensch, der die-
ses Gehirn gehabt hat, war ein Verbrecher geworden, gerade weil er
dieses Gehirn gehabt hat. Mit derselben Notwendigkeit, mit der das
Uhrwerk uns bedient, wenn es richtig geht, um den Zug um zehn
Uhr zu erreichen, wahrend ein falschgehendes Uhrwerk, das viel-
leicht erst sieben Uhr zeigt, uns zum Zug zu spat kommen lafit, mit
derselben Notwendigkeit zeigt ein Gehirn, das es nicht zur vollen
Ausbildung des Hinterhauptslappens gebracht hat, einen verbreche-
rischen Menschen an, der zuruckgeblieben ist. Da du dich sicherlich
nicht wirst entschliefien konnen, einen Damon in die Uhr hineinzu-
phantasieren, der die Zeiger herumtreibt, so wirst du dich auch
nicht entschliefien konnen, den Damon «Seele» in das Gehirn hin-
einzutraumen.
Wollte man sich gegen die gesicherten Ergebnisse der kriminal-
anthropologischen Untersuchungen von Verbrechergehirnen so
ohne weiteres strauben, so bedeutet das Vogel-Straufl-Politik in der
Wissenschaft betreiben, bedeutete einfach, mit denjenigen Dingen,
die absolut erforscht sind, nicht rechnen zu wollen.
Nun gibt es, wie Sie wissen, aufier der materialistischen Wissen-
schaft noch eine Philosophic Aber wenn Sie diese Philosophic be-
trachten, vielleicht gerade bei denen, die heute oft zu deren bedeu-
tendsten Vertretern gezahlt werden, so werden Sie flnden, dafi diese
Philosophie gegeniiber den materialistischen Methoden vollstandig
machtlos ist. Die Begriffe, die die Philosophen gewinnen, laufen ent-
weder darauf hinaus so zu sagen, wie ich es Ihnen an Otto Liebmann
gezeigt habe, der ein sehr scharfsinniger Mensch ist und der sagt,
dafi man iiber gewisse Punkte nicht hinauskomme, dafi man gewisse
Grenzen nicht uberschreiten konne. Ich habe Ihnen das Beispiel
vom Hiihnerei angefuhrt. Oder nehmen Sie die Philosophie Rudolf
Euckens in Jena, so konnen Sie sehen, wie herumgeredet wird und
die Worte schon frisiert werden, aber wie die Begriffe, die da ent-
wickek werden, an die materiaiistischen Methoden nicht heran kon-
nen. Sie sind wie das Tun eines Menschen, der hier an einem Ufer
des Flusses steht und alle moglichen Anstrengungen macht, um ans
andere Ufer hiniiberzukommen, aber nichr hiniiberkommen kann. *
Driiben ist die materialistische naturwissenschaftliche Methode, aber
er kommt nicht hinuber; daher bleibt das Philosophieren nur ein
Herumreden.
Was liegt da eigentlich vor? Nun, gehen wir einmal zuruck auf
etwas uns lange Bekanntes; gehen wir zuruck auf die Gliederung des
Menschen in physischen Leib, Atherleib, Astralleib und Ich. Diese
grobste Einteilung, wie sie sich uns geboten hat im Laufe unserer
geisteswissenschaftlichen Untersuchungen, nehmen wir zunachst und
fragen uns einmal: Was geschieht denn, wenn wir irgend etwas
auflerlich Sinnliches betrachten - und ein Verbrechergehirn ist
durchaus auch etwas aufierlich Sinnliches -, was geschieht da? Da
wirkt das aufiere Sinnliche auf unsere Sinnesorgane. Die sind im
physischen Leibe. Da kommt die sinnliche Wahrnehmung zustande.
Die leugnet niemand ab. Wir waren Toren, wenn wir sie als Geistes-
wissenschafter ableugnen wiirden. Es ware Stumpfsinn, wenn wir
uns mit solchen Ergebnissen, wie ich sie aus der Kriminalanthropo-
logie angefuhrt habe, nicht befassen wiirden. Wir durfen auch ihre
Tragkraft nicht leugnen, denn sie beweisen durchaus, daft der Ver-
brecher mit einem Affengehirn herumgeht und der normale Mensch
dieses Affengehirn nicht mehr hat. Wenn wir also philosophieren,
so wie es die heutigen Philosophen tun, was machen wir dann? In
welchen Regionen des menschlichen Wesens bewegen wir uns denn
dann? Dann bewegen wir uns in der Sphare des Ich. Da sind heute
alle philosophischen Begriffe. Und gerade bei denjenigen, die heute
am scharfsinnigsten philosophieren, werden Sie iiberall sehen kon-
nen, daft sie in der Region des Ich gleichsam nur so herumschwim-
* Hier wurde offensichtlich an die Tafel gezeichnet; die Zeichnung ist jedoch nicht uber-
liefert worden.
men. Einen wissenschaftlichen Beweis dafur konnen Sie in dem Ein-
leitungskapitel meiner «Ratsel der Philosophie» finden, wo ich ge-
zeigt habe, wie in unserer Zeit die Philosophic dahin tendiert, dafi
das wesentHche ein Schwimmen im Ich ist. Aber zwischen der Natur-
wissenschaft und der Philosophic ist ein weiter Abstand, das ist der
Flufi, uber den die Philosophic nicht hinuberkommen kann, das
heifit, dafi die philosophischen Begriffe auf der einen Seite - inner-
lich im Menschen - sind, und alle sinnlichen Wahrnehmungen drau-
fien, auf der anderen Seite.
Ich habe einmal symptomatisch, aber nur symptomatisch, meine
lieben Ereunde, diesen Abgrund zwischen dem Philosophieren und
dem naturwissenschaftlichen Wahrnehmen recht anschaulich vor
mir gehabt - aber ich bitte zu beachten, dafi dies nur symptomatisch
gemeint ist -, als der sechzigste Geburtstag von Ernst Haeckel gefei-
ert wurde. Da habe ich an der Feier in Jena teilgenommen. Es haben
da die verschiedensten Leute gesprochen, Anhanger Haeckels und so
weiter. Nun war es mir interessant zu erfahren, was herauskommen
wiirde, wenn auch die philosophischen Kollegen Haeckels, unter de-
nen auch Dr. Rudolf Eucken war, wahrend des Mittagsmahles, wie
das so ublich ist, einen sogenannten Toast ausbringen wiirden.
Denn dann hatte man irgendwie sehen konnen, wie sich die Vertre-
ter der Philosophic einer Universitat zu den Vertretern der Naturwis-
senschaft und der sinnlichen Wahrnehmung stellen. Der Toast - er
wurde von Eucken ausgebracht - hatte ungefahr folgenden Inhalt;
ich gebe nur den Hauptgedanken. Eucken sagte etwa: Bei einer Ge-
burtstagsfeier wie der heutigen ist es ublich, daft man sagen mufi,
was das Geburtstagskind besonders charakterisiert. Nun habe ich
versucht nachzudenken, was unser Geburtstagskind besonders cha-
rakterisieren konnte, aber ich habe in meinem eigenen Denken
nichts besonderes gefunden. Da habe ich bei der Tochter unseres Ju-
bilars angefragt und sie hat mir gesagt, dafi es zu den charakteristi-
schen Eigentumlichkeiten unseres Jubilars gehore, dafi er zum Bei-
spiel mit seinem Schlips nicht zurechtkomme, wenn er ihn umlegen
will. - In diesem Ton ging der Toast weiter.
Nun, ich sagte schon, symptomatisch trat mir da entgegen, was
die Philosophic -Vertreter einer Universitat iiber den Vertreter der
sinnlichen, naturwissenschaftlichen Wahrnehmungen zu sagen hat-
ten. Es ist wirklich symptomatisch, denn es gibt zwischen der heuti-
gen Philosophic und der Naturwissenschaft keine wirkliche Briicke,
weil die Begriffe der Philosophen ganz diinn sind und die sinnlichen
Tatsachen, welche die Naturwissenschaft zutage fordert, jenseits ih-
res Ufers sind. Man kommt mit den philosophischen Begriffen nicht
hiniiber.
Nun habe ich Sie schon darauf aufmerksam gemacht, daft es eine
Moglichkeit gibt, die naturwissenschaftlichen Tatsachen in Flufi zu
bringen, richtig in Flufi zu bringen. Diese Moglichkeit besteht darin,
daft man sich auf den Geist der Goetheschen naturwissenschaftli-
chen Betrachtungen wirklich einlafit. Erinnern Sie sich nur, daft ich
Ihnen auseinandergesetzt habe, wie Goethe darauf gekommen ist,
die Schadelknochen, trotzdem sie in der aufieren Form ganz abwei-
chen von den Wirbelknochen, dennoch als umgewandelte Riicken-
wirbelknochen anzusehen. Ich habe Sie auf diese Umwandlungstheo-
rie aufmerksam gemacht, als ich Ihnen davon gesprochen habe,
daft unser Heizhaus nur eine Umwandlung unseres Hauptbaues ist,
indem es einesteils vergrofiert und andernteils verkummert ist. Ich
habe Sie auch bei einem anderen Vortrag darauf aufmerksam ge-
macht, daft wenn man von gewohnlichen Begriffen zu geisteswissen-
schaftlichen Begriffen aufsteigt, man die Begriffe in Bewegung zu
bringen hat. Ich habe dazu empfohlen, die Gedichte von Goethe
iiber die Metamorphose der Pflanzen und der Tiere zu lesen. Da
werden Sie sehen, wie beweglich die Begriffe sind, und wie er das
alles geformt hat.
Wenn Sie das, was ich bei den verschiedenen Gelegenheiten ge-
sagt habe, zusammennehmen mit dem, worauf wir heute gefiihrt
werden miissen, dann werden Sie sich sagen: Wenn ich unmittelbar
die sinnlichen Wahrnehmungen nehme, so sind sie starker begrenzt,
gehe ich aber zur Goetheschen Weltanschauung iiber, dann er-
scheint mir ein solcher Ruckenwirbelknochen so, daft er elastischer,
weicher ist, so daft allmahlich ein Teil des Schadels daraus wird. Ich
schaue so hinein in die schaffende Natur. Ich sehe, wie zum Beispiel
noch bei den Fischen die einzelnen Schadelknochen sehr ahnlich
sind den Ruckenwirbelknochen, wie dann die Heraufbildung zum
Menschen geschieht, indem die Ruckenwirbelknochen heraufgebil-
det werden zum Schadelknochen
Das konnen Sie allerdings nur geistig verfolgen; das konnen Sie
nicht sinnlich anschauen. Wollten Sie es sinnlich anschauen, so
miiBten Sie Tausende, Millionen von Jahren lang beobachten, wie
das eine in das andere iibergeht. Also man muft die Anschauung,
die sinnliche Wahrnehmung vergeistigen.
Sehen Sie, diese Vergeistigung der sinnlichen Wahrnehmung hat
Goethe instinktiv richtig gemacht. Ich habe ofter auf jenes bedeu-
tungsvolle Gesprach zwischen ihm und Schiller aufmerksam ge-
macht, als sie einmal zusammen nach einer Vorlesung des Botani-
kers Batsch aus der Naturforschenden Gesellschaft in Jena hinaus-
gingen. Schiller sagte da, er habe bei Batsch alles nur so nebeneinan-
der gefunden. Daraufhin zeichnete Goethe seine Urpflanze auf, die
man bekommt, wenn man von der einen Pflanzenform zu der an-
dern iibergeht. Da sagte Schiller: Das ist aber keine Wahrnehmung,
das ist eine Idee - und Goethe erwiderte: Dann habe ich meine
Ideen vor Augen. - Er war sich bewufit, daft er nicht nur die einzel-
nen Verwandlungen sah, sondern daft er in alien Pflanzenteilen eine
Pflanze sah. Dem liegt zugrunde, daft Goethe instinktiv alles so be-
trachtete, wie man nicht nur betrachten kann mit den physischen
Sinnen, sondern wenn man die physische Wahrnehmung sogleich
einfangt in die Betrachtung des Atherleibes. Das heifit, Goethe
nimmt die metamorphosierende Wahrnehmung - und diese ist eine
fortwahrend bewegliche Wahrnehmung - hinein in seine Naturan-
schauung. Dadurch kommt ihm die ganze Sinneswelt in Bewegung.
Das Einzelne ist dann nur ein Spezialausdruck eines ganz Allgemei-
nen, aber nicht eines so Allgemeinen, wie es die abstrakten Philoso-
phen machen, sondern eines Allgemeinen, das sich hindurchschlan-
gelt durch die einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen. Da sehen Sie
ein Heraufheben der sinnlichen Wahrnehmung in das Imaginative,
das im Menschen entsteht, wenn man es nicht verschmaht, seinen
Atherleib zu der sinnlichen Wahrnehmung hinzuzunehmen.
Man versteht nicht, was Goethe iiber Tiere und Pflanzen ge-
schrieben hat, wenn man nicht ins Auge faftt, dafi er den Atherleib
mitgenommen hat. Jetzt haben Sie das schon etwas hoher gescho-
ben. Wir wiirden nun etwas getan haben, wenn wir auch noch die
philosophischen Begriffe hier herubergeschoben hatten, so dafi sie
sich [den Wahrnehmungen] nahern konnten (. . . *).
Nun nehmen Sie das, was wir im Laufe der Jahre oft betrachtet
haben - es gehort dies zur ersten Stufe dessen, was in «Wie erlangt
man Erkenntnisse der hoheren Welten?» steht, dafi man die physi-
sche, die gegenstandliche Anschauung auf eine hohere Stufe, in die
imaginative Anschauung heraufheben kann. Aber erinnern Sie sich
an die Charakteristik, die ich immer und immer wieder gegeben ha-
be - in unzahligen Stellen unserer Zyklen steht das -, worin diese
imaginative Anschauung besteht. Sie besteht darin, dafi durch das
Ich wieder in den atherischen Leib zuriickgearbeitet wird. Solange
man nur gegenstandliche Begriffe formt, wie es der Philosoph auch
tut - denn daft er im Geist arbeitet, ist nur sein Groflenwahn -,
kommt man nicht weiter. Man mufi dazu iibergehen, dafi man vom
gegenstandlichen zum imaginativen Erkennen aufsteigt, das heifk,
sobald Leben in die Begriffe hineinkommt, kommt man aus dem
bloflen Ich in den atherischen Leib zuriick. Man bearbeitet den
astralischen Leib zum Geistselbst, das heifk, man kann sagen,
die philosophischen Begriffe werden zu imaginativen Begriffen
oder Vorstellungen, wenn man das Wort «Begriff» da noch an-
wenden kann.
Aber jetzt haben sich die Dinge geeinigt: Die imaginativen Be-
griffe sind nicht mehr durch eine Kluft von den sich metamorpho-
sierenden Wahrnehmungen getrennt, sondern sie sind unmittelbar
anschliefiend.
Wir werden nun sehen, dafi, wahrend Philosophic und Sinnes-
wahrnehmung durch eine Kluft getrennt sind und nicht zusammen-
kommen konnen, weil die physische Wahrnehmung im physischen
Leib ihren Prozefi hat und der Philosoph im Ich seinen Prozefi hat,
* Hier folgen im Originalstenogramm noch einige likkenhafte Zeilen, die keinen zusammen-
hangenden Sinn erkennen lassen.
hier aber [es wurde offenbar wieder gezeichnet] die imaginativen Be-
griffe und die Wahrnehmungen zusammenkommen, weil der ge-
genstandliche Begriff im physischen Leib ist und die metamorpho-
sierten Begriffe im Atherleib sind. Es ist also eine Vertiefung nach
beiden Richtungen. Nach der einen Seite mufi man mit dem ganzen
Menschen an die Welt herankommen und auf der andern Seite mufi
man die Begriffe vertiefen, indem sie lebendig werden, indem sie zu
Imaginationen werden.
Das wollen die Philosophen vermeiden. Sie konnen sich nicht
einlassen auf den Begriff der Imagination, und die Naturwissen-
schafter nicht auf ein Ergreifen der sich metamorphosierenden
Wahrnehmung. Das wird aber durch die Geisteswissenschaft herbei-
gefuhrt. Unsere ganze Geisteswissenschaft ist eben eine Antwort auf
die Frage: Wie nimmt der vernunftige, in seinem astralischen Leibe
lebende Mensch die in seinem Atherleibe lebenden und sich meta-
morphosierenden Wahrnehmungen wahr? Wie denkt er sie? Das ist
es, was so wichtig ist, dafi wir wirklich wissen, dafi wir die Aufienwelt
der Innenwelt naherbringen, dafi sie skh einander nahern, dafi wir
sie zusammenfiihren.
Jetzt konnen wir erst einen Lichtblick gewinnen in bezug darauf ,
was es eigentlich mit so etwas, wie der Realitat der Kriminalanthro-
pologie auf sich hat. Selbstverstandlich wird einer, der so geboren
ist, dafi er in seinem Wachstum gerade das hat, dafi der Hinter-
hauptslappen nicht ordentlich das Kleinhirn bedeckt, das ganze Le-
ben mit einem solchen affenhaften Hinterhauptslappen herumlau-
fen. Aber woher kommt denn ein solcher affenhafter Hinterhaupts-
lappen? Ein solcher ergibt sich geisteswissenschaftlich als die Folge
des vorhergegangenen Lebens, denn an seiner Leibesbildung schafft
von innen heraus das, was der Mensch fruher gewesen ist. So schafft
er sich seine Struktur des Leibes und des Gehirns und so auch seines
Hinterhauptlappens. Wir konnen also sagen: Wenn ein Mensch mit
einem verkummerten Hinterhauptslappen herumlauft, so hat er im
vorigen Leben sich nicht genug Krafte errungen, um den Hinter-
hauptslappen normal zu bilden. Ein Trost ist dies zwar nicht, denn
immer bleibt die Moglichkeit bestehen, dafi ein solcher Mensch zum
Yerbrecher werden wird, denn vergrofiert kann der Hinterhauptslap-
pen ja nicht werden. Da konnte man nun sagen: Die Menschen sind
dann ja in zwei Teile geteilt, in solche, die einen zu kleinen Hinter-
hauptslappen haben und die sind zu Verbrechern geboren, und in
solche, die einen voll ausgebildeten Hinterhauptslappen haben, die
nicht Verbrecher werden. - Fur die materialistische Weltanschauung
gibt es da kaum einen Irrtum. Sie wird zu diesem Schlufi kommen.
Fur die Geisteswissenschaft gibt es theoretisch auch keine andere
Antwort, aber da sie weifi, dafi der physische Leib nicht der einzige
Leib ist, sondern auch noch einen Atherleib in sich tragt, so andert
sich fur sie die Situation. Denn wenn ein Mensch mit einem verkum-
merten Hinterhauptslappen, also mit einer ungiinstigen Veranla-
gung zur Welt kommt, dann konnen wir diesen Menschen immer
noch ordentlich erziehen. Wir konnen die Erziehung so gestalten,
dafi wir ihm entsprechende moralisch-ethische Begriffe beibringen.
Dadurch kann zwar in der gegenwartigen Inkarnation der physische
Leib nicht geandert werden, wohl aber der Atherteil des Hinter-
hauptlappens. Der kann vergrofiert werden durch dasjenige, was
man durch die richtige Erziehung dem Menschen beibringt. Man
kann also sehr wohl einem Menschen, welcher auf Grund der vorher-
gegangenen Inkarnation einen zu kurzen Hinterhauptslappen hat,
durch eine geeignete Erziehung etwas helfen. Dadurch, daft wir ei-
nen solchen Menschen richtig erziehen, machen wir den Atherteil
des Hinterhauptlappens grdfier und der betreffende Mensch kann
dadurch vor dem Verbrechertum bewahrt werden.
Nun mufite man aber zu der Tatsache, dafi man bei denen, die
zu Verbrechern geworden sind, einen zu kurzen Hinterhauptslap-
pen findet, auch das umgekehrte Experiment machen. Man miifite
normale Menschen sezieren und beweisen, dafi sie alle normal ent-
wickelte Hinterhauptslappen hatten; und dabei konnte man dann
entdecken, dafi es selbst bei normal entwickelten Menschen vor-
kommt, dafi sie einen zu kleinen Hinterhauptslappen haben, aber
trotzdem keine Verbrecher geworden sind, weil eben durch entspre-
chende Erziehung der atherische Hinterhauptslappen grofier gewor-
den ist.
Die ethische Erziehung fugt also der atherischen, nicht der physi-
schen Konstitution etwas hinzu. Die Erziehung rnufi jedoch so ein-
gerichtet werden, dafi sie den geistigen Gesetzen entspricht. Neh-
men Sie das, was als ein Erziehungsprinzip entwickelt worden ist in
der kleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte
der Geisteswissenschaft», so werden Sie flnden, dafi den Prinzipien
der Entwickelung von sieben zu sieben Jahren nachgegangen worden
ist. Wenn man anfangt, diese Gesetze zu ergreifen und sie in ent-
sprechende Mafinahmen umzusetzen, dann greift man defer ein als
mit den rein rationalistischen Erziehungsmethoden, wie sie seit lan-
gem gang und gabe sind. Man kommt auch nicht weiter mit dem,
was als Frobelismus heraufgekommen ist. Mit alle dem, was man
heute an Erziehungsmethoden betreibt, kommt man nur an das Ich
heran. Solange man aber nur an das Ich herankommt, kann man
nichts machen, da bleibt der Hinterhauptslappen zu klein. Wenn
Sie aber dem geistigen Dasein die Geheimnisse ablauschen und Er-
ziehungsmafinahmen daraus machen, so kommen Sie in den atheri-
schen Leib hinein. Da machen Sie wirklich den atherischen Leib nor-
mal, das heifit, sie gewinnen mit der Geisteswissenschaft machtige
Begriffe, Begriffe, die wirklich eine Macht haben liber den Men-
schen, die ihn umandern konnen. Wenn Sie die Begriffe nehmen,
die heute gewonnen werden konnen - sei es auf der einen Seite aus
der Beobachtung der sinnlichen Wahrnehmungswelt, sei es auf der
anderen Seite aus dem abstrakten Gerede, das nur aus dem Ich
stammt -, so bekommen Sie keine Erziehungsprinzipien und auch
keine Prinzipien fur das soziale Leben, die wirklich in den Menschen
eingreifen. Die Begriffe bleiben machtlos. Sie konnen ganze Biblio-
theken durchforschen - und es wird geniigend geschrieben iiber das
Erziehungswesen -, aber alles das ist ein Regelnwollen aus dem Ich
heraus, ganz gleich, ob Sie glauben, mehr theoretisch oder sonstwie
zu erziehen. Solange es nicht dem Geheimnis der Menschennatur
und den geistigen Erziehungsprinzipien abgelauscht ist und da-
durch bis in den atherischen Leib hinein wirksam gemacht wird, so
lange bleiben die Begriffe machtlos gegenuber dem, was im Men-
schen heranwachst. So nahern wir uns mit den Begriffen, die mach-
tiger werden, auch dem, was wird und wachst in der Welt, so dafi wir
uns praktisch nichts Theoretisches eingliedern. Wenn wir von philo-
sophischen zu imaginativen Begriffen gehen, wie das die Geisteswis-
senschaft macht, und wenn Sie vom sinnlichen Wahrnehmen zu
dem sich metamorphosierenden Wahrnehmen iibergehen, so na-
hern wir unsere Grundsatze dem Geistigen an, und dann werden wir
aus der Geisteswissenschaft entsprechende Mafinahmen und Grund-
satze gewinnen.
Aus dem, was ich gesagt habe, ersehen Sie, wie richtig, wie not-
wendig es in unserer Zeit ist - nachdem gerade durch eine jahrhun-
dertelange Entwickelung die Welt hingewiesen worden ist auf die
blofie Sinneswahrnehmung und dadurch zurikkgedrangt worden ist
zum blofien Begreifen im Ich -, wie notwendig es ist, aufiere Wahr-
nehmung und inneres Seelenleben wieder einander zu nahern, so-
wohl fur die Betrachtung wie auch fur das praktische Leben. Mit der
Geisteswissenschaft gewinnen wir machtige, in das Leben eingreifen-
de Begriffe, Begriffe, welche wirklich mit dem Leben etwas zu tun
haben. Solche Begriffe wie die der Euckenschen Philosophie greifen
nie in das wirkliche Leben ein. Mit der Geisteswissenschaft fassen wir
das Wirkliche an, wir fassen es da an, wo es wirklicher ist als die Sin-
neswahrnehmung .
Wenn wir mit unseren gewohnlichen Begriffen, mit der gewohn-
lichen sinnlichen Wahrnehmung an das Wirkliche herangehen, dann
schauen wir das an, was an der Oberflache ist; da schauen wir mit un-
seren sinnlichen Werkzeugen. Da schauen wir zum Beispiel den Berg
mit seiner Pflanzenwelt an. Und nun gibt es diese zweierlei Leute:
Die einen schauen den Berg mit seiner Pflanzenwelt an und vergessen
sich selbst (Haeckel), die anderen schauen nichts an von der Auften-
welt, sondern reden nur in Begriffen herum und starren ins Leere; da-
durch wird die Philosophie leer (Euckensche Philosophie). Die Gei-
steswissenschaft geht an das Wirkliche heran mit dem sich metamor-
phosierenden Wahrnehmen und schaut dadurch etwas an, was sich
nicht an der Oberflache ausspricht, sondern etwas, was darunter
liegt. Aber auch, wenn sie den Menschen anschaut, geht sie von der
blofien Sinneswahrnehmung der physischen Sinnesorgane zuriick zum
metamorphosierenden Wahrnehmen (Atherleib) und von dem blo-
fien philosophischen Begriff zum imaginativen Vorstellen und hat da-
durch etwas wie eine Art unterirdischen Kanal zwischen der blofien
Sinneswahrnehmung (physischen Sinnesorganen) und dem blofien
philosophischen Begriff (Ich). Jetzt werden Sie auch verstehen, dafi
eine trostlose Weltanschauung auftreten mufi, wenn nicht die Gei-
steswissenschaft Platz greift, denn die Philosophic wird selbstver-
standlich mit ihren Begriffen ganz ohnmachtig werden gegeniiber
dem Menschen, man wird ihr nicht glauben, das entwickelt sich auch
schon. Die sinnliche Wahrnehmung kann man ja nicht ableugnen;
sie wird man immer weniger ableugnen konnen. So ist es selbstver-
standlich, dafi die materialistische Weltanschauung sagen wird: Was
kann man dafiir, dafi man ein Verbrecher wird? Was kann man da-
fur, dafi man einen zu kurzen Hinterhauptslappen hat? - Denken Sie
sich, was dadurch aus dem Begriff e der Verantwortung und aus den
juristischen Begriffen werden mufi! Diese Perspektive mufi man sich
vor Augen fuhren. Es ist feige, sie sich nicht vor Augen zu fuhren.
Es gibt aber eine Moglichkeit, dartiber hinauszufiihren, wenn
man den Atherleib von innen durch entsprechend gute Erziehung
bearbeitet, so dafi dadurch der atherische Hinterhauptslappen ent-
wickelt wird. Diese Erziehung mufi aber eine Herzens- und Liebes-
erziehung sein, wie sie in der Schrift «Die Erziehung des Kindes vom
Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» gezeigt worden ist. Wenn
man das einsieht, dann sagt man sich: Gewifi, ein solcher Mensch
mit einem zu kurzen Hinterhauptslappen wird sein ganzes Leben
mit dem verkiirzten Hinterhauptslappen herumlaufen und in Ver-
suchung kommen. Aber durch die Entwickelung des atherischen Hin-
terhauptlappens wird er immer das notige Gleichgewicht flnden
konnen. So wird die Geisteswissenschaft ein grofier Faktor werden,
wenn die, welche nur die Errungenschaften der materialistischen
Weltanschauung kennen, an die Pforte der Geisteswissenschaft
klopfen.
Als zweites mochte ich Ihnen eine andere Sache, die man dem
seelischen Leben entnehmen kann, vorfuhren. Gerade in unserer
heutigen Zeit haben wir ja die Moglichkeit, zu sehen, dafi sich iiber
ganze Volksgemeinschaften Gefiihle ausbreiten, zum Beispiel Ge-
fiihle des Hasses. Nun wird derjenige, der auf dem Standpunkt ei-
ner naiven Weltanschauung noch steht, wenn man ihn fragt: Warum
hassest du? - selbstverstandlich weifi derjenige nicht genau, warum
etwas hassenswert ist, weil er noch die naive Weltanschauung hat -,
er wird vielleicht sagen: Ich hasse, weil ich es hassenswert finde. -
Nun gibt es heute eine psycho logische Weltanschauung, die iiber
diese Naivitat hinaus ist, die mehr weifi, als dafi man etwas hafit,
weil es hassenswert ist, ebenso wie der Kriminalanthropologe mehr
weifi als der, der glaubt, dafi ein Mensch Verbrecher geworden ist,
weil er ein schlechter Kerl war und nicht besser geworden ist; denn
der Kriminalanthropologe weifi, dafi der Betreffende einen zu klei-
nen Hinterhauptslappen hat. Und so ist auch das ein naives Urteil,
wenn man sagt: Ich hasse dies oder das, weil es hassenswert ist.
Nun, auch da haben sich schon Menschen aufgeschwungen zu ei-
nem richtigen Urteil. Wer die Menschennatur naher betrachtet,
sieht, wie die Gefuhle, die in der Seele entwickelt wer den, zu dem
Riistzeug, zu den Lebensbedingungen der Seele gehoren. Und wenn
man nicht naiv, sondern mit wirklicher Beobachtung der Tatsachen
heute die Seelenwelt betrachtet, kommt man darauf, dafi in dem
Menschen latent aufgespeichert ist, ohne dafi es sichtbar wird, ein
gewisses Quantum von Hassensnotwendigkeit. Er mufi hassen. Und
wenn so viel Hafi sich angesammelt hat, dafi gewissermafien das Fafi
ubergeht, so sucht er sich ein Objekt seiner Hassenskraft.
Betrachten Sie nun einmal die Art und Weise, wie der Mensch zu
einer Weltanschauung kommt. Wir bemiihen uns zu zeigen, wie man
zu einer geisteswissenschaftlichen Weltanschauung kommen soil
in einer objektiven Weise. Aber so kommt man nicht immer zu ei-
ner geisteswissenschaftlichen, auch nicht zu einer materialistischen
Weltanschauung, sondern weil man dazu gefuhlsmafiig pradesti-
niert ist. Was logisch fur eine Weltanschauung spricht, kommt erst
in zweiter oder gar dritter Beziehung in Betracht. Gehen Sie zum
Beispiel durch die Versammlungen der Kommunisten oder Materia-
listen und priifen Sie, was sie vorbringen, um logisch ihre Weltan-
schauung zu fundieren, dann konnen Sie bemerken, dafi nicht ihre
Logik, sondern ihr Gefuhl dafur pradestiniert ist. Und so 1st es auch
mit der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung. Vielleicht haben
Sie die mystische Weltanschauung aus Ihrem Gefuhl heraus, weil sie
Ihnen mehr wohl tut als eine materialistische Weltanschauung. Der
Gefuhls-, der Affektfaktor spielt da eine ungeheuere Rolle. Ebenso
ist es auch mit dem Hafi gegeniiber der Aufienwelt. Wenn der
Mensch etwas hafit, so wird der Psychologe nicht fragen: Wie ist das
Objekt?, sondern er wird fragen: Wie ist der Mensch? - Das Hafibe-
diirfnis ist in ihm und das Objekt ergibt skh einem dann von selbst.
Er mufi hassen, wie man zu bestimmten Zeiten essen mufl. Das ist
eine Erkenntnis, zu der es die gegenwartige Psychologie schon ge-
bracht hat.
Ich habe in der Hand ein Heft der Zeitschrift «Die Zukunft» vom
25. September 1915. Darin fmdet sich ein Aufsatz «Wahrheiten»
von Franz Blei. Da wird so etwas auseinandergesetzt, wie ich es jetzt
getan habe. Dann wird ausgefuhrt, was Avenarius - Franz Blei ist
ein Schiiler des Avenarius - begriindet hat in seinem empirischen
Kritizismus. Das wird in einzelnen Satzen zusammengefafit und da
finden Sie in diesen Satzen sehr schon ausgedruckt, was heute schon
als psychologische Forschungsergebnisse aufgefalk werden kann:
«Reine Gefuhle sind als den mit ideellen Komponenten befrachte-
ten Gefiihlen praexistent theoretisch anzunehmen und nicht erfahr-
bar. Praktisch kennen wir kein Gefuhl, das keinen ideellen Kompo-
nenten hat.» - Dieser Satz betrifft nicht gerade dasjenige, was wir
brauchen, daher wollen wir uns bei diesem Satze nicht weiter aufhal-
ten. Es ist nicht notig, dafi wir ihn auseinanderschalen, sonst miifiten
wir auf die Begriffe eingehen, die da gebraucht worden sind. Aber
ein anderer Satz kann fur uns schon wichtiger sein, namlich der:
«Reine Ideen sind als den menschlich gedachten Ideen praexistent
theoretisch anzunehmen und nicht rein erfahrbar. Praktisch kennen
wir keine Idee (Gedanke, Bild), die nicht schon als Komponente zu
einem Gefuhl gedient hat.»
Also, wenn eine Idee in uns auftaucht, so mussen wir uns fragen:
Welches Gefuhl hat uns zu dieser Idee getrieben? In dem einen
taucht die Idee auf: Die Welt ist auflosbar in Atome. - Welches Ge-
fiihl hat ihn dazu getrieben? In einem anderen taucht die Idee auf:
Die Welt hat eine Hierarchie, eine Stufenleiter. - Welches Gefuhl
trieb ihn dazu? Also die Komponente des Gefuhls ist iiberall darin-
nen. Und wenn einer hafit, welches Gefuhl drangt ihn dazu? Blei
sagt: «Nicht Ideen rufen Gefiihle hervor, sondern die reinen Gefuh-
le bemachtigen sich der Ideen, die diese Gefiihle befriedigen kon-
nen.» Zum Beispiel: Der Sozialdemokrat hafit den Bourgeois. Er hafit
ihn deshalb, weil ihm ein Quantum von Hafl notwendig ist und das
wendet er dem Bourgeois zu. Oder der Antisemit hat Hafi notwen-
dig und dazu bietet sich ihm der Jude dar. Franz Blei sagt in Punkt
8: «Nicht die Wahrheit einer Idee an sich entscheidet fiir ihre An-
nahme durch die Menschen, sondern ihr affektiver Gehalt.»
Also sehen Sie, das weifi der auch schon! Ein materialistischer
Monist wird man nicht, weil man die Wahrheit einsieht, sondern
weil man durch sein Gefuhl dafur pradestiniert ist und ein Spiritua-
list wird man nicht, weil es wahr ist, sondern weil man durch das Ge-
fuhl dazu pradestiniert ist.
Weiter heifit es in diesem Aufsatz: «Ideen werden angenommen,
deren Wahrscheinlichkeit Null ist, andere wieder zusammen und
zugleich mit solchen, die der ersten Gegenteil sind. Man denke an
die Vielfachheit des <Du sollst nicht toten!> . Hier ist nur dem Glau-
bigen ein Einwand gestattet, dem einst Hegel den Ausdruck von der
<List der Idee> gegeben hat, die sich unserer Leidenschaften zu ihrer
Realisierung bediene, indem die Menschen meinen, fur sich zu
arbeiten, wahrend sie es in Wirklichkeit fiir den <Weltgeist> tun.
Der Christglaubige spricht von der Unerforschlichkeit der Wege
Gottes.»
Der ganze Aufsatz handelt also davon, dafi es nicht die Ideen, die
sogenannten Wahrheiten sind, die den Menschen ergreifen, sondern
der Gefiihlsgehalt.
Wer die Welt heute betrachtet, wie sie sich nach und nach ent-
wickelt hat, der wird das ganz richtig finden und es ist sehr bedeut-
sam, dafi eine Philosophenschule wie die des Avenarius dahinter-
gekommen ist, dafi der Sozialdemokrat nicht den Bourgeois hafit,
weil er ihn hassenswert flndet, sondern weil er selbst ein bestimmtes
Quantum Hafi notwendig hat. Dahinter ist also die Philosophen-
schule des Avenarius heute schon gekommen.
Aber bedenken wir, was das wiederum fur eine soziale Konse-
quenz hat. Stellen Sie sich nur einmal auf den Standpunkt - und
man mdchte sagen, dieser Standpunkt mufi sich, wenn man iiber-
haupt noch ein wirkliches Gefuhl hat, zu der allerbittersten Seelen-
pille verwandeln -, dafi Sie diese Dinge im Ernste als Wahrheiten
nehmen, so werden Sie sich sagen miissen: Da entscheidet die
Wahrheit iiber gar nichts mehr, sondern die AfFekte entscheiden.
Ich werde zwar in eine Weltanschauung hineingebracht, aber nur
deshalb, weil ich die Wahrheit nicht kenne. Das fuhrt dann in die
absolute Trostlosigkeit hinein. Da gibt es kein Entrinnen. So wie
es auch in der Kriminalanthropologie kein Entrinnen gibt gegen-
iiber dem Zugeben dessen, dafi ein zu kurzer Hinterhauptslappen
einen Verbrecher gibt, so gibt es auch gegeniiber der aufieren
Psychologie kein Entrinnen gegeniiber der Tatsache, dafi die Men-
schen durch ihre AfTekte zu dem getrieben werden, was sie Wahr-
heit nennen.
Am klarsten, hochst bedeutend und einleuchtend hat das Fried-
rich Nietzsche in den verschiedensten Varianten seiner Weltan-
schauung darzustellen versucht. Dem ganzen Nietzscheanismus
liegt das zugrunde. Ich habe die Stelle selbst angefuhrt in meinem
Buche «Friedrich Nietzsche, ein Kampfer gegen seine Zeit». Es han-
delt sich da um die Frage: Was ist Wahrheit? Und weil Nietzsche die
Richtigkeit dieses Satzes nicht angenommen hat wegen der Wahr-
heit, sondern ihn abgelehnt hat wegen der ganzen Praparierung der
menschlichen Subjektivitat, deshalb wollte Nietzsche Schlufi ma-
chen mit der Phantasie [vom Willen zur Wahrheit], das heifit also
auch mit dem Christentum, Daher schrieb er den «Antichrist», das
nachste sollte sein «Die Immoralisten» und das Ganze sollte dann
«Der Wille zur Macht» sein.
Trostlosigkeit, absoluter Nihilismus ist es, zu dem gerade solche
Philosophenschulen fuhren mit ihrer Erkenntnis, dafi wer dazu ver-
anlagt ist, dafi er glaubt, am besten in ein Verhaltnis zur Welt zu
kommen dadurch, dafi er sich an die Materie halt, Materialist wird;
und wer glaubt, dafi er durch eine Abhangigkeit von der geistigen
Welt lebt, Spiritualist wird aus seinem Affekt heraus.
Nun, meine lieben Freunde, dagegen braucht man nur eines zu
nehmen, man braucht nur aufzuschlagen das letzte Kapkel der
«Theosophie», wo der Weg zur Erkenntnis geschildert wird und die
Tatsache nehmen, wovon da ausgegangen wird. Es wird da namlich
gar nicht ausgegangen davon, dalS man logisch spintisieren soil, um
zu diesen Wahrheiten zu kommen, sondern es wird ausgegangen da-
von, dafi es notig ist, die ganze affektive Welt des Menschen, die
Gefuhlsrichtung in einer bestimmten Weise zu bilden und zu ge-
stalten. Da wird auf dasjenige eingegangen, was dem Suchen nach
der Wahrheit zugrunde liegt. Da wird das in Angriff genommen,
worauf die Psychologie hindeutet, womit sie aber nichts anzufangen
weifi. Warum wird von uns nicht der Materialismus mit logischen
Griinden widerlegt, warum wird nicht der Spiritualismus mit logi-
schen Griinden begrundet? Weil das alles nichts heifit. Es ist viel-
mehr etwas anderes zu zeigen. Es ist zu zeigen: Das und das mufit
du mit deinen Affekten machen, so dafi du nicht mehr durch das
Subjektive gefiihrt wirst, sondern . . . [Lticke].
Nehmen Sie dieses Kapitel der «Theosophie» und Sie werden se-
hen, dal$ alles auf ein Objektivieren des affektiven Lebens ankommt
und dann konnen Sie sehen, wie hierdurch eingegriffen wird in die
Sackgasse der modernen Weltanschauung . . . [Die Schlufisatze sind
im Stenogramm nicht mehr zu entziffern.]
Ill
Episodische Betrachtung uber
Raum, Zeit, Bewegung
EPISODISCHE BETRACHTUNG UBER
RAUM, ZEIT, BEWEGUNG
Dornach, 20. August 1915
Ich dachte, es wiirden heute hochstens ein Dutzend da sein und
wollte, wie es ja auch geschehen soli, etwas sagen, das gan2 episo-
disch etwas gar nicht zu unseren sonstigen Betrachtungen Gehoriges
sein soli, das aber fur einige, die sich in die Sache etwas hineinleben
konnen, wichtig sein kann zur Beurteilung von manchem, was in be-
zug au£ gewisse Auffassungen von Raum und Zeit und Bewegung
zur Zeit eine Rolle spielt.
Es gibt heute namlich theoretische Physiker, die der Meinung
sind, daft sich mit Bezug auf die einfachsten Weltvorstellungen eine
tiefgehende Umwalzung vollziehe. Unter diesen einfachen Weltvor-
stellungen, die der theoretischen Physik zugrunde Hegen, wollen wir
eben heute ein klein wenig etwas betrachten, was sich auf Zeit,
Raum und Bewegung bezieht. Es wird dies die Grundlage abgeben
zu einer in der nachsten Zeit anzustellenden weitergehenden Be-
trachtung, die uns tiefer hineinfuhren kann in das, was man gerade
in der Gegenwart bei grundlegenden physikalischen Betrachtungen
anstreben will.
Sie werden ja gewifi alle schon davon gehort haben, daft sich in
der Gegenwart dasjenige geltend macht, was man die Relativitats-
theorie der neueren Physik nennt. Die Relativitatstheorie - es gibt da
auch mancherlei Schattierungen - wird heute von zahllosen theoreti-
schen Physikern vertreten. Man verspricht sich von ihr einen volligen
Umschwung aller Begriffe, die von den Physikern, wenn sie eben
elementare theoretische Betrachtungen angestellt haben, bisher als
richtig anerkannt wurden und die ja im wesentlichen zuriickgehen
auf Newton. Nun glauben die neueren theoretischen Physiker von
heute, daft alle diese Newtonschen Begriffe, die noch zu unserer Stu-
dentenzeit als ganz unumstofilich aufgenommen worden sind, eine
Umwalzung erfahren mussen, ja, daft gewissermaften die ganze theo-
retische Grundlage der Physik, wie sie geglaubt worden ist und noch
geglaubt wird, eigentlich falsch sei. Nun, warum ich die Betrach-
tung, die ich anstellen will, in Zusammenhang bringen mufi mit
dieser neu auftauchenden Relativitatstheorie, das wird sich spater er-
geben.
Damit nun das, was ich zu sagen habe, nicht ganz unverstandlich
bleibe, mochte kh von ganz einfachen, elementaren Begriffen aus-
gehen, um Ihnen durch dieselben gleich vorzufiihren, was fur eine
Vorstellung man mit dem Zeitbegriff verbinden kann. Gehen wir,
wie gesagt, von ganz elementaren Dingen aus. Nehmen wir einmal
an, irgendein Objekt, das ich meinetwillen a nennen will, eine rol-
lende Kugel oder dergleichen, bewege sich in einer Richtung, die ich
durch diese Linie andeuten will; also a bewegt sich langs der Gera-
den in der Richtung nach b\
a > b
Nun wissen Sie ja alle, dafi man den Weg, die Weglange, welche
ein solches Bewegtes in einer Sekunde zuriicklegt, die Geschwindig-
keit nennt. Nehmen wir also an, a kame in einer Sekunde bis hier-
her, bis ai, dann wiirde man diese Wegstrecke a bis a\ in der Physik
die Geschwindigkeit nennen und mit c bezeichnen. Und wenn wir
des weiteren annehmen, dafi das sich Bewegende durch die folgen-
den Sekunden weitergehe, so wiirde es, wenn es eine gleichformige
Bewegung vollfuhren wiirde - und nur von einer solchen wollen wir
reden -, am Ende der zweiten Sekunde bei a 2 sein, wobei aai = aia 2
ist, das heifit, mit derselben Geschwindigkeit c geht in der zweiten
Sekunde das sich Bewegende von a>\ nach a 2 , in der dritten Sekun-
de von a 2 nach <z 3 , in der vierten Sekunde von a$ nach a± und so
weiter fort. Nehmen wir nun an, wir betrachteten diese Bewegung
eine gewisse Zeit hindurch und unser Bewegliches kame eine be-
stimmte Strecke weit, nehmen wir an bis a$
I I I I ! I
a (Z\ az a$ #4 <#5
dann nennt man, wenn dieses Bewegliche von a nach a$ gerollt ist,
das Stiick des Raumes - den wir hier in seiner einen Dimension auf-
fassen - den Weg; so daft a bis a$ der Weg ist, den es zuriickgelegt
hat; c ist die Geschwindigkeit; den Weg bezeichnet man mit s; und
man sagt: das Bewegliche a habe den Weg s mit einer Geschwindig-
keit c in einer bestimmten Zeit - hier fiinf Sekunden - durchlaufen.
Diese Durchlaufszeit bezeichnet man mit t.
Nun gibt es eine bestimmte Beziehung zwischen Weg, Zeit und
Geschwindigkeit. Die einfachste Beziehung, die man gefunden hat,
ist die, daft man hier sagen wurde: s - der Weg - ist funfmal von a bis
a u das heifit, einmal den Weg a bis a\ mal 5, das sind 5 Sekunden,
das ist also die Zeit; also miissen wir das, was wir die Geschwindig-
keit genannt haben - dieses Stiick aa\ - mit 5 multiplizieren, dann
bekommen wir den Weg s = c* t (Weg = Geschwindigkeit • Zeit).
Es stecken also drei Begriffe in dieser Formel: s, c, t.
Nun wissen Sie ja, daft iiber die Zeit von einer Anzahl von Philo-
sophen, Mathematikern und auch theoretischen Mechanikern un-
endlich viel geschrieben worden ist. Die Menschen glauben zwar,
von der Zeit eine Vorstellung, einen Begriff zu haben, aber es wurde
jeder, wenn er erklaren miifite und nachdenken wiirde, was er unter
Zeit versteht, sehr bald einsehen, daft er doch keine rechte Vorstel-
lung von diesem Begriff der Zeit hat, der zu den allergangbarsten
Begriff en gehort, die man in der Mechanik anwendet. Um nun ir-
gend etwas iiber den Zeitbegriff studieren zu konnen, wollen wir uns
an diese Formel halten, die ja zunachst den Zeitbegriff in eine
gleichformige, gradlmige Bewegung hineinversetzt. Aber wenn
auch diese Formel in jedem Physikbuch steht, so ist sie in der Physik
doch umspielt von einer ganzen Menge, ich will nicht sagen Unklar-
heiten, aber von mangelnder Klarheit, von wenig Willen, defer in
die Sache hineinzugehen. Und das ruhrt namentlich davon her, daft
in unseren Schulen der Unterricht in bezug auf etwas, das wir alle
lernen, uns nicht gewisse Unterscheidungen beibringt, die aber
wichtig sind, wenn man zu genaueren Begriff en in einer gewissen
Richtung kommen will. Wir lernen ja in unseren Schulen von vier
Rechnungsarten reden: von Addition, Subtraktion, Multiplikation
und Division. Aber bei der Division werden wir, ich glaube, nicht
oft darauf aufmerksam gemacht, daft in der gewohnlichen Rech-
nungsoperation eigentlich zwei total verschiedene Dinge stecken.
Ich will Ihnen das in ganz einfacher Weise zeigen.
Nehmen wir an, wir hatten einen gewohnlichen Apfel und teilen
diesen. Wir konnen ihn in fiinf, in zehn Teile teilen und so weiter,
dann bekommen wir, wenn wir ihn geteilt haben, einen so- und so-
vielten Teil des Apfels. Wollen wir die Teile verteilen, so ist das, was
wir verteilen, eben ein Stuck des Apfels. Wir fuhren hier wirklich
eine Division aus. Ich will es als Bruch schreiben, denn das ist dassel-
be wie eine Division. Ich kann sagen: Ein Apfel wird, sagen wir in
zehn Teile geteilt, dann bekommen wir als Resultat ein Zehntel Ap-
fel. Sehen Sie sich jetzt einmal an, was ich auf die Tafel geschrieben
habe:
In dem Zahler oder Dividenden haben wir eine Qualitat, irgend et-
was Dingliches; im Divisor oder Nenner haben wir nichts Dingli-
ches, sondern eine blofie Zahl; 10 ist hier eine blofle Zahl; und im
Quotienten haben wir wiederum etwas Dingliches: ein Zehntel
Diese Sache andert sich nicht, wenn wir statt einem Apfel zwan-
zig Apfel teilen. Nehmen wir an, wir teilen 20 Apfel durch 10, so
bekommen wir statt ein Zehntel Apfel 2 Apfel:
Die 20 Apfel sind wiederum ein Dingliches; unten ist blofi die Zahl
und als Quotient bekommen wir wiederum ein Dingliches. Das ist
eine Division.
Aber das Dividieren kann noch einen ganz anderen Sinn haben.
Ich kann oben im Dividenden 20 Apfel haben, aber unten als Nen-
ner oder Divisor, sagen wir 2 Apfel, dann habe ich oben und unten
1 Apfel (Dingliches) _ J_
10 (Zahl) ~ 10
Apfel (Dingliches)
Apfel.
20 Apfel
10
2 Apfel
ein Dingliches. Was bekomme ich da als Resultat? Dann bekomme
ich als Resultat kein Dingliches, sondern ich bekomme heraus, wie
oft 2 Apfel in 20 Apfel enthalten sind, ich bekomme 10, das heiftt,
ich bekomme eine Zahl:
20 Apfel (Dingliches) _
2 Apfel (Dingliches) " 10 ^ >
Wiederum habe ich es mit einer Division zu tun, aber diese hat jetzt
einen ganz anderen Sinn als die Division im ersten Fall. Im ersten
Fall teile ich ein Dingliches und bekomme wieder ein Dingliches, im
zweiten Fall teile ich gar nicht, sondern stelle mir die Aufgabe, zu er-
forschen, wie oft ein Dingliches in einem anderen Dinglichen ent-
halten ist und da bekomme ich eine Zahl heraus.
Wir konnen also sagen: Division ist nicht immer Dividieren, son-
dern es gibt zwei Arten von Divisionen, die sich streng voneinander
unterscheiden. Man miifite also beim Unterrichten immer auseinan-
dersetzen, dafi man zwei Arten von Divisionen hat. Bei der ersten
stellt sich mir die Aufgabe, zu erforschen, was herauskommt, wenn
man ein Dingliches teilt; bei der zweiten stellt sich die Aufgabe, zu
erforschen, wie oft ein Dingliches in einem gleichartigen Dinglichen
enthalten ist - sie miissen gleichartig sein, denn man kann natiirlich
nicht fragen, wie oft 2 Apfel in 20 Birnen enthalten sind - und dann
bekommen wir eine Zahl heraus.
Dies mufi man ins Auge fassen, wenn man die Formel s = c* t
studieren will.
Nun kann diese Formel auch anders geschrieben werden. Ich
brauche nicht immer das j- zu suchen, sondern ich kann auch das c
oder t suchen, dann andert sich die Formel. Suche ich das c, dann
bekomme ich es, indem ich das s dividiere durch t. Indem ich den
ganzen Raum durch / dividiere, bekomme ich den Raum, der in 5
Sekunden durchmessen worden ist, durch 5 , also die Geschwindig-
keit c\
_ s
Ebenso konnen Sie aber t bekommen: die Zeit. Nehmen wir an, dafi
Sie s dividieren durch c. Wenn Sie fragen: Wie oft ist in dem ganzen
Weg der Weg von einer Sekunde enthalten, so ist er funfmal ent-
halten. Da bekommen Sie die Zeit:
Sehen wir uns diese Formeln genauer an. Nehmen wir zunachst die
zweke und vergleichen wir: s, das ist der Weg hier, die Lange a bis
a 5 , das haben wir in dem Zahler; hier im Nenner haben wir das c.
Was ist das c? Nun, das ist der Weg in einer Sekunde. Wege sind
das: j - ist ein Weg, c ist ein Weg. Welcher Form von Division gleicht
denn das? Nun, das gleicht dieser Form (20 Apfel : 2 Apfel = 10).
Hier (im Zahler) haben Sie Apfel und hier (im Nenner) haben
Sie Apfel; hier (im Zahler von-^-) haben Sie Weg und hier (im
Nenner) haben Sie Weg. Was mufi denn da vorne stehen? Blofi eine
Zahl. Das heifit, t kommt beiunseren physikalischen Betrachtungen
als nichts anderes heraus denn als eine Zahl. Denn wenn ich s und c
betrachte als Weg, also als ein Dingliches - beide sind ja Weg oder
ein Stuck von einem Weg -, dann kann aus der Natur der Teilung
die Zeit t nur figurieren als eine Zahl. Geradeso wie die Zahl 10
(20 Apfel : 2 Apfel = 10) eine Zahl ist und nichts weniger oder mehr,
so kann in dieser Division die Zeit, auch nichts anderes als eine
Zahl sein.
Sie konnen auch die Divisionsform nehmen (1 Apfel : 10= jq
Apfel), dann gleicht diese der Formel c = -j-. Wird dagegen Ding-
liches dividiert durch Dingliches, was muli herauskommen? Eine
Zahl wie hier (/ = ■— ), wo wir es bei t mit einer blofien Zahl zu tun
haben. Das heiflt, beide Formeln weisen darauf hin, daft - insofern
wir bei der Physik stehenbleiben - wir fur die Zeit nach der Natur
der Teilung nichts anderes herausbekommen als eine Zahl. Und
zwar handelt es sich hier (20 Apfel : 2 Apfel = 10) um eine Zahl,
die sich auf Apfel bezieht und zeigt, wie oft 2 Apfel in 20 Apfeln
enthalten sind, und hier bei der Zeit {— = f) um eine Zahl, die
zeigt, wie oft die Geschwindigkeit im Raume enthalten ist.
Nun wird wohl niemand von Ihnen in der Zahl als solcher ein
Dingliches sehen. Wenn Sie irgendeinem Buben oder Madchen
nicht 3 Apfel geben, sondern blofi 3 als Zahl, so werden sie nicht
satt. Also in der Zahl kann man nicht ein Dingliches sehen, sondern
eben eine blofie Abstraktion, etwas, was blofi gewissermaflen Bezie-
hungen angibt in der aufteren Welt.
Aus dieser Betrachtung konnen wir ersehen, dafi uns die Zeit
durch die physikalische Betrachtung selber aus der Hand ent-
schlupft; sie schrumpft uns zu einer blofien Zahl zusammen. Eben-
sowenig wie wir uber die Zahl philosophieren konnen, konnen wir
auch nicht uber die Zeit philosophieren, das heifit, sie hat sich auf
die Vorstellung einer Zahl reduziert. Darum konnen wir auch die
Zeit in den Dingen nicht finden, wenn wir noch so lange iiberall
suchen, weil sie blofi als Zahl flguriert. Womit hangt das zusammen?
Nun, ich glaube, ein Bub oder ein Madchen braucht nicht besonders
alt zu sein, um eine aus gesundem Gefuhl hervorgehende Antwort
zu geben, wenn man fragt: Was interessiert dich, die Apfel oder die
Zahl? Gewifi konnte jemand sophistisch reden und sagen, mich
interessiert die Zahl, denn mir sind 8 Apfel lieber als 6; aber das ist
doch nur, weil 8 Apfel mehr sind als 6. Also die Zahl ist gar nicht
das, um was es sich ihm dabei handelt, sondern die Apfel sind es,
das Dingliche ist es.
Daraus aber folgt, dafi wir uns iiberhaupt an das Dingliche halten
miissen und uns nicht an die Zahl halten diirfen, wenn wir von Zeit,
Raum und Geschwindigkeit sprechen. Und wenn wir nun das Ding-
liche ins Auge fassen, so fallt die Zeit von vornherein weg, das heifit,
sie ist Zahl und nicht Dingliches. Sie werden sich also sagen konnen:
Wir haben s, den Raum, das Stuck des Raumes, das unser Beweg-
liches durchlauft. Wenn das nun weiter rollt, so kann es noch viel,
viel Raum durchmessen. Der Raum ist ja draufien etwas Dingliches.
Das ist aber nicht das, worauf es zunachst ankommt, denn man kann
sich den Raum als immer weitergehend denken. Aber etwas anderes
hat sehr viel mit dem zu tun, worauf es uns ankommt, das ist das c.
Denn wie das a den Raum durchlauft, das hangt ganz davon ab, ob
es in einer Sekunde, sagen wir, 20 oder 25 oder 50cm und so weiter
durchlauft, und wiederum, wieviel es durchlauft, das hangt davon
ab, wie schnell es lauft. Aber wie schnell es lauft, das hat es im
Innern, das ist ihm im Innern eigentumlich. Und von dem, was dem
Beweglichen im Innern eigentumlich ist, hangt iiberhaupt der ganze
Vorgang ab. Also auf die Geschwindigkeit des Beweglichen kommt
es an, die gehort dem Beweglichen als solchem an, ist eine innere
Qualitat des Beweglichen. Und wenn wir die Welt anschauen, in-
sofern wir sie auf mechanische Vorgange hin betrachten, dann mus-
sen wir, wenn wir von der Realitat sprechen, von der innerlichen
Geschwindigkeit der Korper oder Atome oder Molekule sprechen.
Und der ganze Vorgang zwingt uns, von der innerlichen Geschwin-
digkeit als von zu den Dingen zugehorig zu sprechen, so wie der
Rose die rote Farbe zugehorig ist.
Also der Fundamentalbegriff ist die Geschwindigkeit; sie ist das,
worauf es ankommt. Darauf folgt, dafi wir uns nicht an die Formel
halten diirfen, die hier c hat (c= -j-), und nicht glauben diirfen,
daft wir mit Raum und Zeit irgend etwas besonders Reales haben,
sondern was real ist in den Dingen, das ist die Geschwindigkeit,
nicht die Zeit. Die Zeit ist wiederum erst abstrahiert von dem Begriff
der Geschwindigkeit, weil die Dinge verschiedene Geschwindig-
keit haben. Blicken wir auf die verschiedenen Geschwindigkeiten
und wollen sie auf ein Gemeinsames reduzieren, so bekommen wir
den Begriff der Zeit. Dieser ist eine Abstraktion, ebenso wie der
Gattungsbegriff «Apfel» eine Abstraktion ist und real nur der beson-
dere, der konkrete Apfel ist. Wenn wir also auf das mechanisch Reale
der Dinge eingehen, so miissen wir auf die Geschwindigkeit ein-
gehen und diirfen nicht glauben, daft wir den Zeitbegriff in den
Vordergrund stellen konnen. Das ist der grofle Fehler, der iiberall in
der Physik gemacht wird, dafi man nicht beachtet, dafi man von der
Geschwindigkeit ausgehen mufi, die innen in den Dingen ist, die zu
ihnen so gehort, wie das Leben zu den lebendigen Korpern.
Also halten Sie fest, meine lieben Freunde: nicht die Zeit, son-
dern die Geschwindigkeit ist dasjenige, was der Mechanik zugrunde
liegen mufi. Sie konnten nun sagen, das sind ja Spintisierereien,
diese Unterschiede zu machen. Es sind aber keine Spintisierereien,
sondern diese Dinge sind zur Auffassung gewisser Verhaltnisse des
Wirklichen fundamental bedeutsam und ich will Sie gleich auf etwas
hinweisen, das zeigt, wie fundamental bedeutsam sie sind.
Bei den verschiedenen Diskussionen iiber die Relativitatstheorie
handelte es sich bei den Leuten gerade darum, mit dem Zeit- und
dem Geschwindigkeitsbegriff zurechtzukommen. Nun will ich Ihnen
an zwei Spekulationen zeigen, in welcher Art gewisse Menschen
denken, wie sie ihr Denken formulieren, wenn sie iiber Zeit und
Geschwindigkeit reden. Da mufi ich Ihnen eine merkwiirdige Per-
sdnlichkeit vorfuhren, Herrn Lumen, der bei der Relativitatstheorie
eine gewisse Rolle spielt. Was ist das fur ein merkwiirdiger Herr? Ja,
sehen Sie, das ist eine, ich mochte sagen, «Phantasie-Bekanntschaft»,
die Flammarion gemacht hat. Dieser Herr Lumen hat eine sehr
merkwiirdige Fahigkeit, die wir uns etwa in der folgenden Weise
klar machen konnen.
Sie wissen ja alle aus Ihrem Physikunterricht, dafi das Licht eine
gewisse Geschwindigkeit hat; es durchmifit in der Sekunde 300 000
km. c, also alles das, was dem Licht nach unserer Auffassung inner-
lich mechanisch angehort, das ist eine Geschwindigkeit von 300 000
km in der Sekunde. Nehmen wir zum Beispiel an, hier sei die Erde
und von den Gegenstanden und Vorkommnissen, die auf der Erde
geschehen, geht in den Weltraum der Lichtstrahl hinaus (wurde an
der Tafel schematisch angedeutet) und man sagt ja, weil das Licht
hinausgeht, sieht man die Dinge. Nehmen wir nun das Folgende an.
Wir haben hier jetzt diese etwas abstruse mathematisch-physikalische
Stunde, und, sagen wir von drei bis vier Uhr gab es eine Eurythmie-
stunde. Von alledem geht in den Weltraum das Licht hinaus und
man kann von draufien beobachten, was da hier geschieht. Und da
das Licht mit einer Geschwindigkeit von 300 000 km in der Sekunde
hinausgeht, so ging auch das, was heute nachmittag zwischen drei
bis vier Uhr hier geschehen ist, mit einer Geschwindigkeit von
300 000km in der Sekunde in den Raum hinaus, so dafi, wenn
Sie sich einen Beobachter denken, der 300 000 km weit weg ist,
dieser dasjenige, was auf der Erde hier geschieht, erst nach einer
Sekunde sieht.
Nun nimmt Flammarion von jenem Herrn Lumen an, dafi er
noch schneller als das Licht, namlich mit einer Geschwindigkeit von
400 000 km in der Sekunde in den Weltenraum hinaussaust. Was
wird die Folge davon sein? Er wird fortwahrend das Licht iiberholen,
denn nachdem das Licht eine Sekunde gegangen ist, ist er schon um
100 000 km weiter weg und er mufi, wenn er da so heraussaust und
zuriickschaut, zu den Kundgebungen des Lichtes kommen, wo er
das sieht, was hier jetzt und zwischen drei und vier Uhr geschehen
ist. Da er aber das Licht nicht nur einholt, sondern iiberholt, so mufi
daraus folgen, dafi er nicht zuerst die Eurythmiestunde und dann
unsere Stunde wahrnimmt, sondern alles umgekehrt, zuerst das
Ende und dann das Friihere. Es ist ein sonderbares Schauspiel, das
dieser Herr Lumen erlebt. Alles sieht er so, dafi er zuerst das Ende
und dann den Anfang sieht, denn er iiberholt ja das Licht.
Solche Vorstellungen haben, wie gesagt, eine gewisse Rolle gespielt
gerade bei den Diskussionen iiber die Relativitatstheorie. Noch eine
andere Vorstellung mochte ich Ihnen vorfiihren, die auch eine ge-
wisse Rolle gespielt hat und die sich der Naturforscher Baer gebildet
hat. Er hat sich gesagt: Man konnte sich vorstellen, dafi der Mensch
sein Leben nicht in etwa 70 oder 80 Jahren, sondern in 70 oder 80
Sekunden durchlebt. Sein Puis miifite einfach um soviel schneller
schlagen, dafi in einer Sekunde ein Jahr enthalten ware. Dadurch
konnte bewirkt werden, dafi der Mensch nicht einmal wie eine Ein-
tagsfliege, sondern wie ein 70-Sekunden-Tier ware, wenn nur sein
Puis entsprechend schnell schluge. Was wiirde die Folge sein? Solch
ein Mensch wiirde in 70 Sekunden Ungeheures durchleben. Wenn
er zum Beispiel eine Pflanze anschaut, die ihrer Art treu geblieben
ist, so wiirde er niemals zu der Anschauung kommen, dafi eine
Pflanze aus der Erde herauswachst, sondern er wiirde zu der An-
schauung kommen, dafi Pflanzen ewige Gebilde sind. Also ganz an-
ders wiirde ein solcher Mensch zur Welt stehen, einfach dadurch,
dafi die Geschwindigkeit seines Lebens in demselben Mafie vergro-
fiert zu denken ware wie die Geschwindigkeit seines Pulsschlages im
Vergleich zu uns anderen Menschen. Oder, sagt Baer, stellen wir uns
vor, der Mensch lebe nicht 80 Sekunden oder 80 Jahre, sondern
80000 Jahre und der Pulsschlag ginge um so viel langsamer, dann
wiirde die ganze Welt wiederum anders sein. Zum Beispiel wiirde
dann die Sonne, wahrend sie fur uns mit einer gewissen Geschwin-
digkeit geht, iiber den Himmel rasen wie ein feuriger Wind; nicht
die einzelne Sonne wiirde man unterscheiden, sondern sie wiirde
herumrasen wie ein rotliches Rad. Pflanzen wiirden flugs aufschie-
fien und mit rasender Geschwindigkeit wiederum vergehen und so
weiter.
Das hat Baer hingestellt als einen moglichen Gedanken, um zu
zeigen, wie das Weltbild von der subjektiven {Constitution des Orga-
nismus abhangt. Sie sehen, da kommt alles, alles ins Wanken.
Wenn man die Art des Denkens, die einer solchen Vorstellung
wie der Flammarions von Herrn Lumen oder der von Baer zugrunde
liegt, ins Auge fafit, so ist eines wichtig zu beachten. Nehmen wir
noch einmal den Herrn Lumen. Es wird vorausgesetzt, daft Herr Lu-
men in der Lage ware, 400 000km in der Sekunde zu fliegen, also
das Licht zu iiberholen und die spateren Lichtbilder einzuholen.
Aber nun nehmen Sie einmal dasjenige, was Sie als wirklich nehmen
konnen, wenn Sie auf unsere geisteswissenschaftlichen Begriffe defer
eingehen. Wir konnen sogar ganz absehen von dem groberen physi-
schen Leib und gleich auf den Atherleib eingehen. Ja, wenn wir auf
den Atherleib eingehen, was ist er denn? Er ist Ather, Lichtather, er
ist selber webendes Licht. Halten Sie das fest, denn was folgt daraus?
Es folgt daraus doch, daft, wenn wir uns im Raume bewegen, wir uns
im hochsten Falle mit der dem Licht eigentumlichen Geschwindig-
keit bewegen konnen. Wenn also jemand sagt, ein Mensch wie Herr
Lumen bewege sich mit einer Geschwindigkeit von 400 000 km in
der Sekunde, dann mussen wir fragen - ich will sogar den physischen
Leib auslassen und nur annehmen, daft sich ein Atherleib heraus-
bewegen konnte -, wie schnell konnte er sich nur bewegen? Nun,
hochstens mit einer Geschwindigkeit von 300 000 km in der Se-
kunde, mit der Lichtgeschwindigkeit. Vom Atherleib kann man
nicht sagen, daft er das Licht iiberholt, denn er ist selber bewegliches
Licht. Also der Herr Lumen darf nicht aus irgend etwas gewoben
sein, was es im Raum gibt; mit anderen Worten: Er ist eine unwirk-
liche Vorstellung, er ist em reines Phantasiegebilde. Denn dem
Dinglichen oder Wesenhaften in der Welt ist seine Geschwindigkeit
immanent oder inharent. Sie ist in ihm drinnen. Sie ist seine Eigen-
schaft. Wk konnen sie nicht herausreiften. Wir konnen gar nicht
sagen: Wir sondern von dem Ding seine Geschwindigkeit ab -, son-
dern diese ist eine Eigenschaft des Dinges. Wir konnen nicht von
einer Eigenschaft sprechen, die abgesondert aufterhalb des Ding-
lichen liegt. So rmissen wir auch gegenuber den Vorstellungen des
Baer sagen: In dem Augenblick, wo man begreift, daft die Ge-
schwindigkeit des Pulsschlages zum Dinglichen jedes Menschen ge-
hort, begreift man auch, daft wir keine andere Geschwindigkeit als
die unseres Pulsschlages haben konnen. Wir sind dadurch Mensch,
daft wir eine gewisse Geschwindigkeit des Pulsschlages haben und
wir konnen sie uns nicht beliebig denken, denn wir wiirden auf-
horen Mensch zu sein, wenn der Pulsschlag zum Beispiel tausend-
mal so schnell ware, als er in Wirklichkeit ist. Die Geschwindigkeit
gehort zum Dinglichen.
Es ist wichtig, zu sehen, wie Geisteswissenschaft zum Wesen-
haften der Dinge fiihrt, und wozu dasjenige Denken fiihrt, das sich
bis in unsere Zeit hinein entwickelt hat, ohne sich auf Geisteswissen-
schaft einzulassen. Es tuhrt dazu, daft man sich Vorstellungen bildet
wie die des Herrn Lumen oder die von dem tausendmal beschleunig-
ten Pulsschlag, die schlechterdings unmoglich oder unreal sind. Man
rechnet mit phantastischen Begriffen, wenn man nicht einsieht, daft
die Zeit eine blofte Zahl ist. So hat die sogenannte rationelle Mecha-
nik zu ganz irrealen Begriffen gefuhrt. Geisteswissenschaft fuhrt uns
dazu zu sagen: Ja, was ist denn ein solcher Herr Lumen, der 400 000
km rast, wahrend er hochstens 300 000 ... [Liicke in der Nach-
schrift] . . . Nichts anderes ist er als der beruhmte Herr, der sich an
seinem eigenen Schopf in die Hohe zieht.
Geisteswissenschaft ist also von diesem Gesichtspunkte aus dazu
da, um das Denken des Menschen, das in die Phantastik geraten ist,
wiederum in die Wirklichkeit zuruckzubringen, es nicht von der
Wirklichkeit abzubringen. Sie sehen, wahrend man der Geistes-
wissenschaft vorwirft, daft sie phantastisch ist, ist sie in Wahrheit
dazu da, um die phantastischen Vorstellungen und BegrifFe der Phy-
sik zur Wirklichkeit zumckzufuhren. Und es wird fur ein gesundes
Denken aufierordentlich wichtig sein, dafi in der Zukunft dem Ge-
mute der Kinder so etwas, wie die zwei Arten der Division wirklich
beigebracht wird, so dafi sie nicht mit allerlei Unklarheiten, sondern
mit bestimmten Begriffen rechnen. Zu Vorstellungen und Begrif-
fen, die eine Bedeutung fur die Wirklichkeit haben, kann man nicht
anders kommen, als daft man der Wirklichkeit eben wirklich gegen-
ubertritt, das heifit, dafi man mit Geisteswissenschaft denkt, denn
da gehen einem reale, nicht phantastische BegrifFe auf.
Die Physik hatte vor der Relativitatstheorie die Vorstellung New-
tons, dafi der Raum eine Leere ist, gleichsam ein Gefafi - unendlich
oder nicht, das wollen wir jetzt nicht untersuchen - und die Zeit so
dahinfliefit wie ein gleichformiger Strom; die Dinge sind im Raume
drinnen und die Vorgange verlaufen in der Zeit, und je nachdem ein
Ding diese oder jene Zeit braucht, um einen bestimmten Raum zu
durchmessen, erkennt man ihm eine gewisse Geschwindigkek zu. -
Diese Vorstellung ist unwahr, weil sie gar nicht auf das Wesenhafte
von Raum und Zeit sieht und dadurch die Geschwindigkeit, die
eigentlich eine innere Eigenschaft ist, auseinanderlegt in die zwei
irrealen Vorstellungen: Raum und Zeit. Die Geschwindigkeit ist
wirklich das Ursprungliche, wahrend die Physik die Geschwindigkeit
immer als eine Funktion von Raum und Zeit ansieht. Das was zu den
Dingen gehort, ist aber das Wesenhafte, und Geisteswissenschaft
zeigt, daft man gewisse Wege einschlagen mufi, um nicht zu Phan-
tasien uber Raum und Zeit - wie der vom unendlichen Raum oder
der von der Zeit als einem fortfliefienden Strom - zu kommen, son-
dern zum wirklich Realen der Geschwindigkeit zu gelangen. Die
ganze Mechanik, die wir in der Jugend aufgenommen haben als ein
ungeheuer Sicheres, als das Sicherste, was es in der Wissenschaft gibt
nach der Mathematik, sie operiert mit ganz vagen Begriffen, weil sie
nicht weifi, welches die Natur der Geschwindigkeit ist und nicht
weifi, diese als Fundamentales anzusehen.
Nun ist der Anstofi zur Relativitatstheorie von Minkowski, Ein-
stein, Planck, Poincare, dem verstorbenen Mathematiker und Phy-
siker und so weiter, gerade daher gekommen, weil sie nicht mehr
zurechtkamen mit dieser kindlichen Newtonschen Vorstellung von
dem leeren Raum und der regelmafiig fliefienden Zeit und den Din-
gen, die sich mit einer gewissen Geschwindigkeit bewegen. Es er-
gaben sich aus gewissen Experimenten BegrifFe, die nicht zusam-
menstimmten mit dem, was man als das Allersicherste angesehen
hatte.
Nun habe ich Ihnen in der letzten Zeit hier einen Begriff ent-
wickelt rein in Zusammenhang mit der Geisteswissenschaft, der viel-
leicht manchem iiberraschend gekommen sein mag. Ich habe den
Begriff entwickelt, dafi es gar nicht wahr ist, wenn man glaubt, in
dem Kopf sei das Wichtigste die Substanz, die Materie, weil gerade
da, wo wir Materie vermuten, es hohl ist und wir vom geisteswissen-
schaftlichen Standpunkte aus alle Hohlkopfe sind. Ich habe den
Vergleich gebraucht mit den Luftperlen in einer Flasche Selters-
wasser. Da ist es auch so, dafi da, wo wir glauben, etwas Reales,
Wirkhches wahrzunehmen, nichts ist. Ringsherum ist das geistig
Wirkliche und darin sind uberall Locher; die sieht man, so wie man
auch beim Selterswasser nur die Blasen sieht, die Luft sind, das Was-
ser sieht man nicht. Und wenn die Leute glauben, daft da, wo ich
anstofie an den Tisch, etwas sei, so stimmt das auch nicht, denn da
ist eigentlich nichts. Ich stofie an den Hohlraum an und weil da
nichts ist, darum kann ich eben nicht weiter.
Darauf sind wir aus geisteswissenschaftlichen Voraussetzungen
ganz systematisch gekommen. Auf anderem Weg sind nun gewisse
einsichtige und verstandige Physiker zu ahnlicher Ansicht gedrangt
worden, weil gewisse Vorgange in der Natur sich einfach nicht ver-
tragen mit den als so sicher geltenden Begriffen der Newtonschen
Mechanik, Und zu diesen Dingen gehoren zum Beispiel die Vor-
gange an den Ihnen ja wohl bekannten Kathode nstrahlen, die man,
wie Sie wissen, in gewissen evakuierten Glasrohren beobachten
kann. Da hat man es zu tun mit etwas, das als Bewegliches Ge-
schwindigkeit hat, mit Elektronen, bildlich gesprochen, mit flielkn-
der Elektrizitat. Und durch die Beobachtung, durch das Experi-
ment, zu dem die Physiker gekommen sind, indem sie in den Roh-
ren die Kathodenstrahlen beobachtet haben, die fliefiende Elektrizi-
tat sind, kamen sie zu sehr eigentiimlichen Vorstellungen. Und eine
solche Vorstellung mochte ich Ihnen vorlesen. Sie findet sich in
einem Vortrage von Voincare iiber «Die neue Mechanik». Er kniipft da
an die Vorstellungen an, die sich aus dem Kathodenstrahlen-Experi-
ment ergeben, weil dieses namentlich nicht zusammenstimmt mit
dem Newtonschen Begriff von Geschwindigkeit. Und da sieht er sich
nach ziemlich wirren Gedankengangen zu folgendem Zugestandnis
genotigt: . . . [Lucke in der Nachschrift] . . . , und da fuhlt sich der
Physiker bewogen, folgendes zu sagen:
«Die Materie ist jetzt ganz passiv geworden. Die Eigenschaft, den
Kraften, die ihre Bewegung zu andern suchen, Widerstand zu lei-
sten, kommt ihr im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr zu.
Wenn eine Kanonenkugel sich mit einer grofien Geschwindigkeit
bewegt und dadurch der Trager einer lebendigen Kraft, einer gewal-
tigen Energie wird, die Tod und Verderben ausstreut, so sind es
nicht mehr die Eisenmolekiile, die den Sitz dieser Energie bilden,
sondern dieser Sitz ist in dem Ather zu suchen, der die Molekiile
umgibt. Man kann beinahe sagen, es gibt keine Materie mehr, es
gibt nur noch Locher im Ather. » - Nun, was wollen Sie mehr, meine
lieben Freunde? - «Und soweit diese Locher eine aktive Rolle zu
spielen scheinen, besteht sie darin, daft diese Locher ihren Ort nicht
verandern kdnnen, ohne den umgebenden Ather zu beeinflussen,
der gegen dergleichen Veranderungen eine Reaktion ausiibt.»
Materie sind Locher im Ather! Die Physik ist also nach ihren heuti-
gen Erfahrungen genotigt, dies einzugestehen. Und an solche Erf ah -
rungen anknxipfend, hat ein anderer Physiker, Planck, einen Satz
ausgesprochen, der hochst merkwiirdig ist, namlich den Satz, der
besagt: Wir haben es erlebt in den vierzigerjahren des 19. Jahrhun-
derts, dafi Helmholtz ein gewisses Problem so angefafit hat - es war
nicht Helmholtz, sondern Julius Robert Mayer, aber auf diese wich-
tige Prioritatsfrage wollen wir uns jetzt nicht einlassen -, wie der es
tut, der nun das Pferd nicht am Schwanze, sondern am Kopf auf-
zaumt. Es hatten immer die Leute vorher gesagt, man mufi die Ver-
teilung der Krafte im Raum in einer gewissen Weise studieren.
Helmholtz hat die Sache umgedreht, er hat gesagt, man mufi das
Weltall so studieren, dafi immer nur das ganze Weltall ein perpetu-
um mobile sein kann, wahrend der einzelne Prozefi im Weltall nie-
mals ein perpetuum mobile sein kann. Die Leute vorher hatten
namlich versucht, das Weltbild ganz ohne perpetuum mobile zu er-
klaren. Nun aber sagt Planck, ein ebensolcher Vorgang miisse kom-
men beziiglich des Athers. liber den Ather gibt es unzahlige Theo-
rien, angefangen von der Vorstellung, die man fruher hatte, als man
sich den Ather als verdiinnte Materie vorstellte, bis zu der Vorstel-
lung von Lord Kelvin oder /. J. Thompson, die sich den Ather als ei-
ne starre Fliissigkeit vorstellten - es ist natiirlich nicht an eine Fliissig-
kek wie Wasser zu denken -, sind alle Zwischenstufen vertreten.
Und nun sagt Planck als Physiker: Die Physik wird erst dann gesund
werden, wenn man ausgeht von dem Obersatze: Keine Vorstellung
des Athers gibt eine haltbare Physik, welche dem Ather materielle
Eigenschaften beilegt. - Das ist der Satz, den einer der bedeutend-
sten Physiker der Gegenwart ausgesprochen hat. Das heifit also, dafi
dem Ather, wenn er eine haltbare Grundlage der Physik sein soil,
nur spirituelle Eigenschaften beigelegt werden diirfen. Und daraus
folgt also, dafi die heutigen Physiker gedrangt werden, die Materie als
Locher zu denken und ringsherum den Ather, der aber so vorgestellt
werden mufi, dafi er keine materiellen, sondern nur spirituelle Ei-
genschaften hat. Also: Locher, von spirituellem Ather umgeben, das
ist es, was zugrunde gelegt werden mufi, um zu einer haltbaren Phy-
sik zu kommen. Das bereitet sich heute vor; das gibt es.
Nun kann man die Frage aufwerfen: Ja, wo bleibt dann noch die
Moglichkeit, eine materialistische Weltauffassung zu begriinden,
wenn der Physiker davon redet, dafi die Materie aus Lochern besteht
und der Ather nur spirituelle Eigenschaften haben konne? Man mufi
also beinahe sagen: Es gibt keine Materie mehr, es gibt nur Locher
im spirituellen Ather und die Materie kann ihren Ort nicht veran-
dern, ohne einen Einflufi auf den umgebenden Ather auszuiiben,
eine Reaktion im spirituellen Ather. Das ist es, wozu die Physik
kommt.
Allerdings wird man eine scharfe Logik brauchen, wird sich nicht
scheuen durfen, solche Fragen anzugehen, wie der Begriff der Ge-
schwindigkeit wirklich zu fassen ist, wenn er nicht dem widerspre-
chen soli, was das Experiment ausdruckt.
Nehmen Sie diese Dinge als etwas, was gesagt werden sollte zum
Beweis dafur, daft die als so unwissenschaftlich geschmahte Geistes-
wissenschaft in ihren Fundamenten unendlich viel wissenschaftlicher
ist als dasjenige, was heute als Wissenschaft gilt, denn sie geht in
scharfster Logik den Dingen, ich mochte sagen, zu Leibe. Und das
ist es, was wir vor alien Dingen suchen mussen: ein scharfes Fassen
der Begriff e, ein bestimmtes Auffassen dessen, was sonst als Vages in
der Welt uns gegeniibertritt.
HINWEISE
Die in dicsem Band zusammengefafiten Vortrage wurden in der Zeit des Ersten Weltkrieges
vor einem durch die Kriegsverhaltnisse stark reduzierten Mitarbeiter- und Mitgliederkreis am
Goetheanum in Dornach gehalten, indem damals durch eine krankhafte Personlkhkeit einige
Verwirrung gestiftet worden war. Dieses Vorkommnis steht hinter gelegentlichen Andeutun-
gen in diesen Vortragen, deren strenger Duktus wohl dazu dienen sollte, diese Verwirrung zu
klaren. Aus diesem Grunde war wohl auch damals schon an einen Druck gedacht worden,
denn es finden sich in den maschinengeschriebenen Ausschriften der Vortrage 1 bis 5 iiber die
Broschure von F. von Wrangell einige Textkorrekturen von der Hand Rudolf Steiners und drei
von ihm eingefiigte Zekhnungen.
Zu den Textunterlagen: Die vier Vortrage von Teil I wurden offiziell mitstenographiert von
Franz Seiler, nkht-offiziell von Helene Finckh und Elisabeth Vreede. Der Erstdruck (Basel
1958) erfolgte aufgrund der Klartextubertragung von Finckh und Vreede. Fur die vorliegende
Ausgabe wurde dieser Text mit den Originalstenogrammen von Seiler und Finckh verglichen,
wodurch zahlreiche in den Erstdruck eingegangene Ubertragungsfehler berichtigt werden
konnten. Sinngemafie Erganzungen durch die Herausgeber wurden in eckige Klammern
gestellt.
Fur die sechs Vortrage von Tei/IIlkgt nur eine einzige Mitschrift vor: von Franz Seiler. Sei-
ne Klartextubertragung wurde ebenfalls am Originalstenogramm gepriift. Mangel bezw.
Liicken, insbesondere im 6. Vortrag, soweit sie aus dem Stenogramm erkennbar waren, wur-
den gekennzeichnet. Die Einfiigungen in runden Klammern finden sich so in der Nachschrift;
die Eintugungen in eckigen Klammern dagegen gehen auf die Herausgeber zuriick.
Fur die als Teil III aufgenommene episodische Betrachtung iiber Raum, Zeit und Bewe-
gung liegen zwei Mitschriften vor: von Elisabeth Vreede und Johanna Arnold. Die Klartext-
ubertragung von Elisabeth Vreede (Originalstenogramm liegt nicht vor) wurde mit dem Origi-
nalstenogramm von Johanna Arnold verglichen. Beide Mitschriften weisen gewisse Mangel
auf, weshalb der Text fur den Druck leicht bearbeitet werden mufite.
Zu den Zekhnungen: Alle im Text vorhandenen Zekhnungen wurden von Leonore Uhlig
nach Sldzzen in den Zuhorer-Mitschriften ausgefuhrt. Nicht alle Zekhnungen, die an die
Wandtafel gezeichnet wurden, sind von den Mitschreibern iiberliefert worden. Die drei
Zekhnungen im Vortrag vom 2. Oktober 1915 wurden nach den von Rudolf Steiner selbst
in die Nachschrift eingefugten wiedergegeben. Zur Figur auf Seite 164 vgl. den Hinweis zu
dieser Seite.
Der Titel des Bandes und die Inhaltsangaben stammen von den Herausgebern.
Werke Rudolf Steiners, welche in der Gesamtausgabe (GA) erschienen sind, werden in den
Hinweisen mit Bibliographienummer angefuhrt. Siehe auch die Ubersicht am Schlufi des
Bandes.
TEIL I
Zu Seite
15 im Laufe der letzten Vortrage: Siehe «2ufall, Notwendigkeit und Vorschung. Imagi-
native Erkenntnis und Vorgange nach dem Tode», GA Bibl.-Nr. 163.
16/17 Von Aristoteles riihrt der Satz her: Es ist nichts in der lntelligenz, was nicht in den
Sinnen ist. . . Leibniz sagt: Es ist nichts in der lntelligenz, was nicht in den Sinnen ist,
aufier der lntelligenz selbst: Vgl. hierzu auch Rudolf Steiners Darstellung in seiner
Schrift Won Seelenratseln» (1917) GA Bibl.-Nr. 21, 1976, Seite 103 f. und Hinweis auf
Seite 175. - Der Satz Aristoteles findet sich sinngemaS in dessen Schrift «De anima»,
Buch 3, Kap. 8; der des Leibniz in «Neue Abhandlungen iiber den menschlichen Ver-
stand», Buch II, Kap. I. Rudolf Steiner nahm aber den Wortlaut offensichtlich aus Vin-
cenz Knauers Werk «Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Entwicklung und
teilweisen Losung von Thales bis Hamerling* (1892), wo es in der 21. Vorlesung heifit:
«Ihren Anfang aber nimmt jede Erkenntnis mit dem durch die Sinne gegebenen, denn
nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu.s>
19 Wir haben ja dieselbe Sac he in den letzten Vortragen in einer anderen Art ausgedriickt:
In den Vortragen vom 30. August und 4. September 1915 in «Zufall, Notwendigkeit
und Vorsehung», GA Bibl.-Nr. 163.
24 in den Vortragen, die ich an verschiedenen Orten . . . gehalten habe: Z.B. die Vortrage
vom 26. November 1914 und 15. Januar 1915 in «Aus schicksaltragender Zeit», GA
Bibl.-Nr. 64.
29 was ich Ihnen gestern aufgezeichnet habe: Im Vortrag vom 16. September 1915 (noch
nicht erschienen).
31 Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten? (1904/05), GA Bibl.-Nr. 10.
38 in den letzten Tagen ja angedeuteten «Praktiken»: In den vorangegangenen (bisher
noch nicht erschienenen) Vortragen vom 12.-16. September 1915 war verschiedentlich
von Psychoanalyse die Rede gewesen.
40 Stelle in den Mysterien: In «Der Hiiter der Schwelle» (6. Bild), GA Bibl.-Nr. 14.
41 «Die geistige Fuhrung des Menschen und der Menschheit. Geisteswissenschaftliche Er-
gebnisse iiber die Menschheits-Entwickelung» (1911), GA Bibl.-Nr. 15.
43 von Hegel schon ausgesprochen: In seiner «Phanomenologie des Geistes» (1807).
ich habe das neulich einmal angedeutet, als ich am Geburtstag Hegels: Im Vortrag
Dornach 27. August 1915 in«Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung», GABibl.-Nr. 163.
44 meine Kommentare schrieb zu « Goethe s Naturwissenschaftlichen Schriftem : GA Bibl . -
NM.
45 Deshalb habe ich hingewiesen auf einen Satz, den Goethe: Die Einleitung Rudolf
Steiners zum 1 . Band von «Goethes Natunvissenschaftlichen Schriften* beginnt mit der
Zitierung dieses Satzes: «Am 18. August des Jahres 1787 schrieb Goethe von Italien aus
an Knebel: <Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pfianzen und Fischen gese-
hen habe, wiirde ich, wenn ich zehn Jahre j linger ware, sehr versucht sein, eine Reise
nach Indien zu machen, nicbt um Neues zu entdecken, sondern urn das Entdeckte nach
meiner Art anzusehen, > »
Haeckel und andere . . . haben sich sehr anerkennend iiber Goethes Metamorphose der
Pflanzen und der Tiere ausgesprochen: Siehe Haeckels «Die Weltratsel*, Bonn 1899
(5. Kap., Abschnitt Transformismus).
58 Satz . . . des Saint-Martin: Der von Rudolf Steiner an die Tafel geschriebene Satz stammt
aus dem Werk Saint-Martins «Le Nouvel Homme*, Paris o.J. (28. Kap.).
59 wir haben das schon von eineranderen Seite . . . dargestellt: Siehe z.B. Vortrag Dornach
27.3. 1915 in «Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung kunstlerischer Welt-
anschauung* , GA Bibl . - Nr . 1 6 1 .
60 Stelle, wo die Theodora auftritt: Siehe «Der Hiiter der Schwelle* (Personen, Gestalten
und Vorgange) in GA Bibl. -Nr. 14.
61 Esist einem Freund von uns die Anregung gegeben worden: Prof. Dr. med. h. c. Alfred
Gysi, 1864-1957, Professor und Direktor am Zahnarztlichen Institut der Universitat
Zurich, zu dessen Mitbegriindern er gehorte. Die Anregung ein embryologisches Werk
zu schreiben, wurde aber iiber gewisse Anfange hinaus nicht weitergefuhrt. Siehe auch
eine entsprechende Aufierung Rudolf Steiners im Vortrag vom 23.2.1924 in «Natur
und Mensch in geisteswissenschaftlicher Betrachtung*, GA Bibl. -Nr. 352.
62 Inspirationen beim Kunstler . . . kommen . . . aus der geistigen Welt des Sonnendaseins:
Siehe Vortrag Dornach, 30.1.1915 in «Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneue-
rung kunstlerischer Weltanschauung*, GA Bibl. -Nr. 161.
66 in einem satirischen Gedicht: Christian Morgenstern, «Das asthetische Wiesel» (vgl. Sei-
te 79 in diesem Band).
69 in dem einen unserer vier Mysterien: «Der Hiiter der Schwelle* (1. Bild), GA Bibl.-
Nr.14.
«Das Christentum a/s mystische Tatsache» (1902), GA Bibl. -Nr. 8.
72 Haager Zyklus: Siehe «Welche Bedeutung hat die okkulte Entwickelung des Menschen
fur seine Hiillen - physischer Leib, Atherleib, Astralleib und sein Selbst?*, GA Bibl.-
Nr. 145.
74 meine «Ratse/ der Philosophie» (1914), GA Bibl.-Nr. 18.
76 A/s ich Ihnen die Psychoanalyse dargelegt habe: In einigen Vortragen vom September
1915 (bisher ungedruckt.)
84 Spracbentwickelung: Vgl. «Geisteswissenschaftliche Sprachbetrachtungen», GA Bibl.-
Nr. 299, sowie Vortrag Dornach, 17. und 18.7.1915 in «Wege der geistigen Erkenntnis
und der Erneuerung kiinstlerischer Weltanschauung*, GA Bibl.-Nr.l6l.
85 «Faust»: Vgl. «Geisteswissenschaftliche Erlauterungen zu Goethes Faust* , GA Bibl.-
Nrn.272 und 273-
TEIL II
89 Broschiire tWissenschaft und Tbeosopbie» von F. von Wrangell: Baron Ferdinand von
Wrangell (auch Wrangel) aus dem Baltikum, russischer Staatsrat a.D., war Spezialist
fur Ozeanographie und Meteorologie, u.a. 5 Jahre (1873-78) Leiter der physikalischen
Erforschung des Schwarzen Meeres, 1901-06 Redakteur der russischen Annalen der Hy-
drographie. Von 1907 an lebte er in Ascona in der Schweiz. Er war auch ein bekannter
Pazifist und gehorte als solcher mit zu denen, die Rudolf Steiners «Aufruf an das Deut-
sche Volk und an die KulturweltU (1919) unterzeichneten. Da er ein Exemplar seiner
Broschiire «Wissenschaft und Theosophie» Adolf Arenson, einem fuhrenden Anthropo-
sophen in Stuttgart widmete «mit Dank fur erteilten Unterricht», ist anzunehmen, dafi
er eine lose Verbindung zu Mitgliedem der Anthroposophischen Gesellschaft gehabt
hat.
93 in verschiedenen Vortragen, die ich gehalten babe: 2.B. Vortrag Dornach, 31.12.1918
in «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden? Das dreifache Schattendasein
unserer Zeit und das neue Christus-Licht», GA Bibl.-Nr. 187.
96f. Du Bois-Reymond. . . Rede Uber das Naturerkennen: «Uber die Grenzen des Natur-
erkennens*, Vortrag gehalten auf der 2. Sitzung der 45. Versammlung deutscher Natur-
forscher und Arzte, Leipzig 14. August 1872. 1. Auflage Leipzig 1872. Die von Rudolf
Steiner darin angestrichene Stelle lautet wortlich:
Denken wir uns alle Veranderungen in der Korperwelt in Bewegungen von Atomen
aufgelost, die durch deren constante Centralkrafte bewirkt werden, so ware das Weltall
naturwissenschaftlich erkannt. Der Zustand der Welt wahrend eines Zeitdifferentiales
erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zustandes wahrend des vorigen und als un-
mittelbare Ursach ihres Zustandes wahrend des folgenden Zeitdifferentiales. Gesetz
und Zufall waren nur noch andere Namen fur mechanische Nothwendigkeit. Ja es lasst
eine Stufe der Naturerkenntniss sich denken, auf welcher der ganze Weltvorgang durch
Eine mathematische Formel vorgestellt wurde, durch Ein unermessliches System simul-
taner Differentialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwin-
digkeit jedes Atomes im Weltall zu jeder Zeit ergabe. «Ein Geist», sagt Laplace, «der fur
einen gegebenen Augenblick alle Krafte kennte, welche in der Natur wirksam sind,
und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend
genug ware, um diese Angaben der Analysis zu unterwerfen, wiirde in derselben For-
mel die Bewegungen der grossten Weltkorper und des leichtesten Atoms begreifen:
nichts ware ungewiss fur ihn, und Zukunft wie Vergangenheit ware seinem Blicke
gegenwartig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astrono-
mie zu geben gewusst hat, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar.»
100 Aufsatz, von einem der Lehrer verfajSt: Heinrich Schramm, Leiter der Oberrealschule
Wiener-Neustadt. Der Aufsatz erschien 1873 im 8. Jahresbericht der Schule unter dem
Titel «Die Anziehungskraft betrachtet als Wirkung der Bewegung». Vgl. Rudolf Steiner
«Mein Lebensgang* (2. Kap.), GA Bibl.-Nr. 28.
101 Erinnern Sie sich, dajS ich auch einmal von dem gesprochen habe: Es war nicht festzu-
stellen, auf welchen Vortrag sich diese Bemerkung bezieht; u.U. konnte es sich um den
Vortrag Dornach, 20.8.1915 (in diesem Band) handeln.
Ausdruck des Scbwaben-Vischers, «Die Stoffhuben: «Stoffhuber» und «Sinnhuber» wur-
den von Vischer die zwei Hauptgruppen der «sich zu Tode erklart habenden Erklarer
des Faust* genannt. Die Stoffhuber sind die, «welche jetzt die Frankfurter Kirchen-
biicher durchforschen, ob Frau Marthe Schwertlein drinsteht; und die Sinnhuber, die
uberall eine Allegorie wittern, fur die alles Allegorie ist». Vgl. Friedrich Theodor
Vischer, Ausgewahlte Werke in acht Teilen, herausgegeben und eingeleitet von Theo-
dor Kappstein. Vierter Teil-. Faust. Der Tragodie dritter Teil. - Pro Domo, Hesse &
Becker Verlag, Leipzig o. J.
Ostwald. . .: Begriinder der energetischen Weltanschauung; iibernahm um 1912 auf
Veranlassung Haeckels die Fiihrung des deutschen Monistenbundes. Sein angefuhrter
Vortrag «Die Uberwindung des wissenschaftlichen Materialismus» wurde in der 3. allge-
meinen Sitzung der Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Arzte
zu Lubeck am 20. September 1895 gehalten und im gleichen Jahr gedruckt. Die von
Rudolf Steiner frei wiedergegebene Stelle lautet wortlich: «. . . Denken Sie sich, Sie be-
kamen einen Schlag mit einem Stocke! Was fuhlen Sie dann, den Stock oder seine
Energie? Die Antwort kann nur eine sein: Die Energie. Denn der Stock ist das harmlo-
seste Ding von der Welt, solange er nicht geschwungen wird. Aber wir konnen uns auch
an einem ruhenden Stocke stofien! Ganz richtig: was wir empfinden, sind, wie schon
betont, Unterschiede der Energiezustande gegen unsere Sinnesapparate, und daher ist
es gleichgiiltig, ob sich der Stock gegen uns oder wir uns gegen den Stock bewegen.»
103 Vortrag «Das Erbe des 19. Jahrhunderts»: Berlin, 10. April 1913 in «Ergebnisse der
Geistesforschung», GA Bibl.-Nr. 62.
107 delle Grazie. . . «Ein schmutziger Wirbelist das Daseim: Frei wiedergegebene Zeile aus
dem 4. Teil der Gedichte «Um Mitternacht*.
109 ich habe friiher schon einmal etwas wie eine Anekdote erzahlt: Zum Beispiel im Vor-
trag Stuttgart, 13. November 1909 in «Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswer-
dens im Lichte der Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117; vgl. auch «Mein Lebensgang», GA
Bibl.-Nr. 28.
Ill kleinen Vortragszyklus: Vier Vortrage iiber Anthroposophie in Berlin, 23.-27. Oktober
1909 in « Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie», GA Bibl.-Nr. 115.
112 Lesen Sie nach in «Luzifer-Gnosis»: So hiefi die Zeitschrift, die Rudolf Steiner von 1903
bis 1908 herausgab. Seine darin erschienenen Aufsatze sind gesammelt in dem Band
«Luzifer-Gnosis», GA Bibl.-Nr. 34.
122 ihr Erzieher wurde ein hatholiscber Priester: Marie Eugenie delle Grazie wurde von Pro-
fessor Laurenz Mullner erzogen. Vgl. «Mein Lebensgang*, GA Bibl.-Nr. 28.
die Genialitdt der delle Grazie gab sich dadurch kund, dafi sie bereits in ihrem 16., 17.
Jahre geschrieben hat. . .: «Gedichte» Leipzig 1882; «Hermann», ein deutsches Hel-
dengedicht in zwolf Gesangen, Wien 1883; «Saul», Tragodie in 5 Akten, 1885; «Die Zi-
geunerin*, Erzahlung Wien 1885. Vgl. auch «Mein Lebensgang*, GA Bibl.-Nr. 28.
123 Epos «Robespierre»: Von delle Grazie, Wien 1894.
125 dafiich einmal in einer Stadt einen Vortrag gehalten habe: In Colmar am 19- Novem-
ber 1905, wovon jedoch keine Nachschrift existiert.
130 iiber die letzten Szenen des «Faust» zu Ihnen zu sprechen: Vgl. «Geisteswissenschaftli-
che Erlauterungen zu Goethes Faust*, GA Bibl.-Nrn. 272 und 273.
132f. Goethes Aufsatz «Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt* . . . was
ich als Erganzung zu diesem Aufsatz veroffentlichen konnte . . . was ich in meinen Ein-
leitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in Kiirschners ^Deutsche Na-
tional-Literatun gesagt habe . . . nachkonstruierten Aufsatz: Siehe « Goethes Naturwis-
senschaftliche Schriften*, herausgegeben und erlautert von Rudolf Steiner, 5 Bande
1883-1897, Nachdruck Dornach 1975, GA Bibl.-Nr. la-e.
134 Ich kam dann in das Goethe- Archiv: Vgl. «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28.
134f. zWahrkeit und Wissenschaft» (1892), GA Bibl.-Nr. 3.
139 Vortrag von der Geschwindigkeit, den ich hier einmal gehalten habe: Dornach, 20.
August 1915 (in diesem Band).
142 Ich horte einmal einen Professor vortragen: Der Name ist nicht bekannt.
143 von mystischer Verschrobenheit gesprochen worden ist: In den neben diesen Vortragen
hergehenden Verhandlungen iiber gesellschaftsinterne Vorgange.
150 Vortrage, die ich in Berlin gehalten habe: «Der menschliche und der kosmische Gedan-
ke», GA Bibl.-Nr. 131.
156 daji auch die Erde sich gleichmafeig um ihre Achse dreht: Neuere Messungen haben er-
geben, dafi die Erdrotation nicht ganz genau gleichmafiig erfolgt.
159 im Jahre 1842 hat Julius Robert Mayer. . . zuerst aufmerksam darauf gemacht: In der
Abhandlung «Bemerkungen iiber die Krafte in der unbelebten Natur», Liebigs «Anna-
len» Band 42, 1842. Mayer fand fur das Warmeaquivalent den Wert 1 kcal = 365 mkg
statt 427 mkg. Das lag nicht an einem unrichtigen Gedanken, sondern an zu wenig ge-
nauen Mefiwerten, welche er aus der Literatur iibernahm. Bis dahin hatte niemand hin-
ter diesen Mefiwerten eine derart grundlegende Gesetzmafiigkeit geahnt, etwa hinter
dem Unterschied der spezifischen Warrnen Cp und Cy .
159 Helmholtz, der sich um die Prioritat der Entdeckung gestritten hat: Schrieb 1847 «Uber
die Erhaltung der Kraft* und uber «Robert Mayers Prioritat* in «Uber die Wechselwir-
kung der Naturkrafte* in «Vortrage und Reden von Hermann von Helmholtz*, 1 . Band
(5. Auflage Braunschweig 1903).
161 Geozentrisch war das friihere Weltsystem . . .: Vgl. hierzu Vortrag Stuttgart, 13. Januar
1921 in «Das Verhaltnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astro-
nomies (13. Vortrag), GA Bibl.-Nr. 323.
162 dajS die Kirche erst im Jahre 1822 erlaubte: Das sechsbandige Hauptwerk von Koperni-
kus «De revolutionibus orbium coelestium libri VI», erschienen 1543, kam 1615 auf den
Index, von dem es erst 1822 gestrichen wurde, als das Sanctum Officium erklarte, dafi
die Herausgabe von Werken, welche von der Bewegung der Erde und dem Stillstand
der Sonne handeln, nicht verboten seien.
163 die beriihrnte Apfelanekdote von Newton: Es wird erzahlt, dafi Newton 1666 dutch
einen vom Baum fallenden Apfel das Gravitationsgesetz entdeckte.
164 Zu der Zeichnung Rudolf Steiners fiber die Bewegung des Mondes um die Erde: Die Fi-
gur ist von Rudolf Steiner eigenhandig an den Rand der maschinengeschriebenen Aus-
schrtft der Vortragsnachschrift hingezeichnet worden. Sie ist ungewohnlich. Die land-
laufige Figur hat AB parallel zum Beriihrungsradius der Tangente. Dadurch gilt sie ei-
gentlich nur fur eine infinitesimale Bewegung, und man zekhnet etwas Widerspriichli-
ches, wenn man, wie es unumgiinglich ist, eine endliche Figur in den Kreis hineinzeich-
net. Die vorliegende Figur gilt im Endlichen. Sie ist die Verallgemeinerung der Zeich-
nung zum horizontalen Wurf, wo man auch nach der totalen Verschiebung AB fragt,
welche durch die Anziehungskraft bewirkt ist, wenn der Korper durch den Anfangsim-
puls allein bis nach A gelangt ware. Nur bleibt beim Wurf AB zu sich parallel, wahrend
es hier sich dreht, langsamer aller dings als der Radius des Punktes B, namlich nach der
Formel tan v = (u - sin u) : (1 - cos u), u = Drehwinkel von B, v = Drehung, die AB dabei
vollfuhrt, u = Bogenmafi von u. In Rudolf Steiners Figur ist u = 37,8°, v = 26,1°,
wahrend der rechnerische Wert fur v nur 12,6° ausmachen wurde. Das Schief-Werden
von AB ist, ohne dafi sonst etwas gesagt wurde, deutlich betont.
165 Abhandlung im Schulprogramm: Vgl. Hinweis zu Seite 100.
166 andere sagten, dafi ein Korper da ist, wo er wirkt: Zum Beispiel Schelling. Vgl. hierzu
in «Die Ratsel der Philosophies, GA Bibl.-Nr. 18 und «Geisteswissenschaftliche Impulse
zur Entwickelung der Physik - Erster naturwissenschaftlicher Kurs», GA Bibl.-Nr. 320.
Schramm sagt: Vgl. Hinweis zu Seite 100.
167 Von Pau/Du Bois-Reymond . . . eine Abhandlung . . . in der mathematisch bewiesen wor-
den ist: Es konnte sich um die Abhandlung «Uber die Lebenskraft* handeln. Vgl.
«Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Banden», 1. Band Leipzig 1912.
167 Ich habe schon darauf hingewiesen: Vgl. Hinweis zu Seite 101.
168 Unzerstbrbarkeit von Masse und Energie: Heute gilt nur noch Unzerstorbarkeit der
Energie, wahrend Masse verschwinden und entstehen kann.
170 Cohn hat bei der Naturforscherversammlung in Berlin betont: Vgl. «Lebensfragen. Re-
de gehalten am 22. September 1886 in der 2. allgemeinen Sitzung der 59- Versamm-
lung deutscher Naturforscher und Arzte», Berlin 1887.
Julius Wiesner, Osterreichischer Botaniker, Mitbegriinder der Lehre von den pflanz-
lichen Rohstoffen.
172 so versuchte Rubner nachzuweisen, wieviel Warmeenergien in der Nabrung enthalten
sind: In den Schriften «Die Gesetze des Energieverbrauchs bei der Ernahrung», Leipzig
und Wien 1902; «Kraft und Stoff im Haushalte der Natur», Leipzig 1909.
173 Du Bois-Reymond . . . wenn man von einer Weltseele sprechen wolle, so miisse man
nachweisen, wo das Weltgehirn ist: In «Uber die Grenzen des Naturerkennens» (vgl.
Hinweis zu Seite 96) heifit es wortlich: «Wo es an den materiellen Bedingungen fur gei-
stige Tatigkeit in Gestalt eines Nervensystems gebricht, wie in den Pflanzen, kann der
Naturforscher ein Seelenleben nicht zugeben, und nur selten stofit er hierin auf Wider-
spruch. Was aber ware ihm zu erwidern, wenn er, bevor er in die Annahme einer Welt-
seele willigte, verlangte, dafi ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit
warmem arteriellem Blut unter richtigem Drucke gespeist, ein dem geistigen Vermogen
solcher Seele an Umfang entsprechendes Convolut von Ganglienzellen und Nervenfa-
sern gezeigt wiirde?»
186 Vortragszyklus dnneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer
Geburt», GA Bibl.-Nr. 153.
188 von unserem Bau: Das seit dem Jahre 1913 in Bau befindliche erste Goetheanum, das
in der Silvesternacht 1922/23 durch Brand vernichtet wurde.
1 89 Elmau ist eine Griindung von Dr. Muller: Schlofi Elmau in Oberbayern ist von Johannes
Miiller als «Freistatte personlichen Lebens» gegriindet worden.
192 «Die Ratsel der ?hilosophie» (1914), GA Bibl.-Nr. 18.
197 die katholische Kirche hat erst im Jahre 1822 erlaubt: Vgl. Hinweis zu Seite 162.
Luther sagte: In «Tischreden», 4. Band Nr. 4638 der kritischen Gesamtausgabe Weimar
1916.
198 Milliner . . . iiber Galilei: In der Inaugurationsrede Wien 8. November 1894 «Die Be-
deutung Galileis fur die Philosophies abgedruckt in der Zeitschrift «Die Drei», 16. Jg.
1933/34.
199 Lessings Ansicht von der Wiedergeburt: In «Die Erziehung des Menschengeschlechts»,
erschienen 1780.
203 Ich habe offers davon gesprochen: Vgl. «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 28.
208 «Haeckel und seine Gegnen: Erschien 1900. Innerhalb der Gesamtausgabe in «Metho-
dische Grundlagen der Anthroposophie», GA Bibl.-Nr. 30.
209 «Grundlinien einer Erkenntnistbeorie der Goetheschen Weltanschauung* (1886), GA
Bibl.-Nr. 6 (14. Kapitel).
218f. was ich das Bauchhellsehen genannt habe: Vgl. VortragDornach, 27. Marzund 1. Mai
1915 in «Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung kunstlerischer Welt-
anschauung*, GA Bibl.-Nr. 161.
228 die Trinitat, die wir gestern am Modell anschauen konnten: Bezieht sich auf das erste
groflere Gesamtmodell fur die Holzplastik «Der Menschheitsreprasentant zwischen
Luzifer und Ahriman», das damals entstanden ist.
231 Moriz Benedikt hat als einer der ersten . . . Verbrechergehirne untersucht: Siehe «Ana-
tomische Studien an Verbrecher-Gehirnen. Fur Anthropologen, Mediciner, Juristen
und Psychologen bearbeitet*, von Moriz Benedikt, Wien 1879-
233 me ich es Ihnen an Otto Liebmann gezeigt habe: Vortrag Dornach, 1. Mai 1915 in
«Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung kunstlerischer Weltanschauung*,
GA Bibl.-Nr. 161.
236 als ich Ihnen davon gesprochen habe: Vortrag Dornach, 4. Januar 1915 in «Kunst im
Lichte der Mysterienweisheit», GA Bibl.-Nr. 275.
bei einem andern Vortrag: Dornach, 18. September 1915 (in diesem Band).
237 bedeutungsvolle Gesprach zwischen ihm (Goethe) und Schiller: Das Gesprach aus dem
Juni 1794 berichtet Goethe in seinen «Naturwissenschaftlichen Schriften*, siehe 1. Band
(Bildung und Umbildung organischer Naturen, Aufsatz «Gluckliches Ereignis*), GA
Bibl.-Nr. la, S.8ff.
24lf. in derkleinen Schrift «Die Erziehung des Kindes. . .»: Einzelbroschiire. Innerhalb der
Gesamtausgabe in dem Band «Luzifer- Gnosis* , GA Bibl.-Nr. 34. Uber die Bedeutung
der Erziehung bei einem zu kurzen Hinterhauptslappen siehe auch den Vortrag Berlin, 7.
Marz 1916 in «Gegenwartiges und Vergangenes im Menschengeiste*, GA Bibl.-Nr. 167.
241 Frobelismus: Eine durch Friedrich Frobel (1782-1852) begriindete, an Pestalozzi orien-
tierte padagogische Anschauung, die die allseitige Forderung aller Menschenkrafte be-
tont, z.B. durch «Beschaftigungsspiele» fur Kinder. Hauptwerk «Die Menschenerzie-
hung» 1826. 1837 griindete Frobel den ersten Kindergarten und ein Seminar fur Kin-
dergartnerinnen .
245 Zeitschrift «Die Zukunft»: Herausgegeben von Maximilian Harden, XXIII. Jg. Nr. 52,
Berlin 25. September 1915.
247 Ich habe die S telle selbst angefuhrt: In «Friedrich Nietzsche, ein Kampfer gegen seine
Zeit» (1897), 1. Kapitel, GA Bibl.-Nr. 5.
248 « Theosophie» ( 1 904) , GA Bibl . -Nr . 9 .
TEIL III
251 Es gibt heute namlich theoretische Physiker: In erstet Linie Max Planck, der im Jahre
1911 auf der Naturforscherversarnmlung in Konigsberg «ohne auf Widerspruch zu sto-
fien (darauf hinwies), dafi sich mit der Aufstellung des Rclativitatsprinzips und durch
die Ergebnisse der neueren Forschungen iiber die Konstitution der Materie z.B. in unse-
rer physikalischen Weltanschauung eine Wandlung vorbereitet, und eine Bewegung
von so radikaler, umwalzender Art eingesetzt hat, wie wir sie bisher wohl nur einmal in
der Geschichte der Physik erlebt haben, als namlich vor jetzt 300 Jahren die heftigsten
wissenschaftlichen Kampfe ausgefochten wurden mit dem Feldgeschrei: Hie
Kopernikanisches-, hie Ptolemaisches Weltsystem.» Zitiert nach F. Himstedts Vortrag
iiber «Neuere Anschauungen iiber Zeit, Raum und Materie* bei der ersten Festsitzung
der Freiburger wissenschaftlichen Gesellschaft am 26. Oktober 1912, Freiburg i.Br. und
Leipzig 1913 (in der Bibliothek Rudolf Steiners).
Es wird dies die Grundlage abgeben zu einerin dernachsten Zeit anzustellenden . . . Be-
trachtung: Vermutlich sind damit die Vortrage iiber die Broschiire von F. von Wrangell
«Wissenschaft und Theosophie* gemeint (in diesem Band).
256 so kann in dieser Division t, die Zeit, auch nichts anderes als eine Zahl sein: Dieser und
der ganzen vorstehenden Ausfuhrung steht der Dimensionskalkiil der Physik entgegen,
in welchen jeder Physiker und Ingenieur eingeschult ist. Diese Schulung sollte aber
nicht dariiber hinwegtauschen, dafi die Beziehung Geschwindigkeit = Weg : Zeit kei-
ne wirkliche Gleichung ist. Was auf der rechten Seite steht, ist keine ausfuhrbare Ope-
ration und hat nur die Form, nicht den Inhalt einer Division. Die rechte Seite ist also
nicht durch sich selber erklart. Das ist in diesen Ausfuhrungen mit gesagt. - Es ist nun
nicht die Aufgabe, den Sinn des Dimensionskalkiils naher zu untersuchen. Er hat sich
selbstverstandlich in seiner Art bewahrt, trotzdem kein Mensch Operationen wie
Weg : Zeit wirklich zu vollziehen imstande ist. Wie wenig denknotwendig andererseits
dieser Kalkiil ist, zeigt das praktische Leben, zum Beispiel in der Zinsrechnung. Hier
denkt niemand daran, die Zeit anders denn als reine Zahl zu nehmen, etwa in der Formel
Zins = Kapital • • t. ist, wie der Zinsfaktor q = 1 + zeiet, eine reine
* 100 100 M 100 6
Zahl, und was den Zins anbelangt, so hat niemand prinzipielle Schwierigkeiten, ihn
zum Kapital zu schlagen, womit fur t nur die dimensionslose Zeit verbleibt.
259 HerrLumen . . . ist eine . . . «Phantasie-Bekanntschaft», die Flammarion gemacht bat:He\
dieser Schilderung stiitzte sich Rudolf Steiner nicht direkt auf Flammarions Schrift
«Lumen», obwohl sie sich in seiner Bibliothek befindet, sondern auf die Darstellung
von Henri Poincare in dessen kleiner Schrift «Die neue Mechanik*, Leipzig und Berlin
1913 (2. Auflage, S.8/9).
260 Vorstellungen, . . . die sich der Naturforscher Boer gebildet hat: Professor der Anatomie
in Konigsberg und Petersburg. Gilt als Begriinder der modernen Entwicklungsgeschich-
te. Seine von Rudolf Steiner angefuhrte Vorstellung findet sich in der Rede aus dem
Jahre 1860 «Welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige?». Neu erschienen
in Karl Baer, «Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur. Schriften des friihen
Goetheanismus», Stuttgart 1983.
264 Es ergaben sich aus gewissen Experimenten Begriffe: Gemeint ist wohl der Versuch von
Michelson, der die Lichtgeschwindigkeit als unabhangig vom Bewegungszustand des
Systems, in welchem er ausgefuhrt wild, erwiesen hat.
265 Vortrag von Poincare fiber «Die neue Mechanik»: Vgl. Hinweis zu Seite 259- Das ange-
fuhrte Zitat findet sich auf Seite 18/19.
hat . . . Planck einen Satz ausgesprochen: Er findet sich in Plancks Vortrag, gehalten am 23 .
September 1910 auf der 82, Versammlung Deutscher Naturforscher und Arzte in Ko-
nigsberg: «In seinem von mir eingangs erwahnten Konigsberger Vortrag hat Helmboltz
mit besonderem Nachdruck betont, dafi der erste Schritt zur Entdeckung des Energie-
prinzips geschehen war, als zuerst die Frage auftauchte: Welche Beziehungen miissen
zwischen den Naturkraften bestehen, wenn es unmoglich sein soli, ein Perpetuum mo-
bile zu bauen? Ebenso kann man gewifi mit Recht behaupten, dafi der erste Schritt zur
Entdeckung des Prinzips der Relativitat zusammenfallt mit der Frage: Welche Bezie-
hungen miissen zwischen den Naturkraften bestehen, wenn es unmoglich sein soli, an
dem Lichtather irgendwelche stofflkhe Eigenschaften nachzuweisen? Wenn also die
Lichtwellen sich, ohne uberhaupt an einem materiellen Trager zu haften, durch den
Raum fortpflanzen? Dann wurde natiirlich die Geschwindigkeit eines bewegten Kor-
pers in bezug auf den Lichtather gar nicht definierbar, geschweige denn mefibar sein.
Ich brauche nicht hervorzuheben, dafi mit dieser Auffassung die mechanische Natur-
anschauung schlechterdings unvereinbar ist.» («Die Stellung der neueren Physik zur
mechanischen Naturanschauung*, Physikal. Zeitschr. 11, S. 922-932, 1910; Max
Planck: Physikalische Abhandlungen und Vortrage, Braunschweig 1958, Bd. 3.
S. 30-46).
PERSONENREGISTER
(Die kursiv gesetzte Zahl gibt jeweils die Seite an, zu der ein Hinweis besteht.)
Altmann, Max (Lebensdaten nicht bekannt)
89
Aristoteles (384 - 322 v.Chr.) 16, 17, 18
Avenarius, Richard (1843 - 1896) 245, 246
Baer, Karl Ernst von (1792 - 1876) 260,
261, 262
Batsch, August Johann (1761 - 1802) 237
Beethoven, Ludwig van (1770 - 1827) 176
Benedikt, Moriz (1835 - 1920) 231
Besant, Annie (1847-1933) 187, 196
Blavatsky, Helena Petrowna (1831 - 1891)
179, 181, 187
Blei, Franz (1871 - 1942) 245, 246
Bohme, Jakob 1 (1575 - 1624) 56, 58
Boisseree, Sulpiz (1783 - 1854) 224
Biichner, Ludwig (1824- 1899) 101, 201
Bunge, Gustav (1844- 1920) 170
Butlerow, Alexander (1828 - 1886) 217
Casar, Gaius Julius (100-44 v.Chr.) 99
Christus (s. auch unter Jesus) 69, 74, 125,
178, 180, 188, 197, 220, 228
Clausius, Rudolf (1822 - 1888) 98
Cohn, Ferdinand (1828 - 1898) 170
Crookes, William (1832 - 1919) 217
Delle Grazie, Marie Eugenie (1864 - 1931)
107, 116, 122, 123, 124, 198
Dilthey, Wilhelm (1833 - 1911) 74
Du Bois-Reymond, Emil (1818 - 1896) 96,
97-100, 133, 146, 173
Du Bois-Reymond, Paul (1831- 1889) 167
Eckermann, Johann Peter (1792 - 1854)
224
Einstein, Albert (1879 - 1955) 263
Eucken, Rudolf (1846 - 1926) 192, 229,
234, 235, 242
Flammarion, Camille (1842- 1925) 217,
259, 260, 261
Frobel, Friedrich Wilhelm (1782- 1852)
241
Galilei, Galileo (1564- 1642) 109, 137,
163, 198, 202
Goschen, Georg Joachim (1752 - 1828)
227
Goethe, Johann Wolfgang von (1749 -
1832)39, 44, 45, 46, 47, 49, 56, 64, 67,
72, 76, 80, 132, 133, 134, 137, 224,
236, 237
Gysi, Alfred (1864 - 1957) 61 (ohne Na-
mensnennung)
Haeckel, Ernst (1834-1919) 45, 46 , 92,
101, 116, 208; 235, 242
Hartmann, Eduard von (1842 - 1906) 172
Hartmann, Franz (1838- 1912) 187
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 -
1831) 43, 197 , 246
Helmholtz, Hermann (1821 -1894) 98,
159, 265, 266
Herbart, Johann Friedrich (1776- 1841)
122
Homer (um 750 - urn 650 v.Chr.) 80, 81
Hume, David (1711 - 1776) 136
Husserl, Edmund (1859- 1938) 112
Hyrtl, Joseph (1811 - 1894) 210
James, William (1842 - 1910) 217
Jesus (s. auch unter Christus) 41, 42, 178,
180, 220
Joule, James (1818 - 1889) 98
Justinian, Flavius Petrus Sabbatius (482 -
565) 222
Kant, Immanuel (1724- 1804) 90, 94,
129, 195, 224
Kelvin, William Thomson Lord (1824-
1907) 266
Kepler, Johannes (1571 - 1630) 163
Kolumbus, Christoph (um 1447-1506)
198
Kopernikus, Nikolaus (1473 - 1543) 161,
162, 197, 198
Kiirschner, Joseph (1853 - 1902) 132
Langer, Karl (1819 - 1887) 210
Laplace, Pierre Simon Marquis de (1749 -
1827) 97-100, 103, 109, 116, 146, 195
Lavoisier, Antoine Laurent (1743 - 1794)
202
Leadbeater, Charles Webster (1847 - 1934)
187
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646 - 1716)
16, 17, 18
Lessing, Gotthold Ephraim (1729- 1781)
142, 199, 222, 223
Liebmann, Otto (1840-1912) 233
Lipps, Theodor (1851 - 1914) 112
Lodge, Oliver (1851 - 1940) 217
Luther, Martin (1483 - 1546) 197
Mayer, Julius Robert von (1814 - 1878) 98,
159, 265
Minkowski, Hermann (1864-1909) 263
Morgenstern, Christian (1871 - 1914) 79
Morselli, Enrico (1852 - 1929) 217
Miiller, Johannes (1864 - 1949) 189
Milliner, Laurenz (1848- 1911) 123, 198
Newton, Isaak (1643- 1727) 163, 164,
165, 251, 263-265
Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900) 247
Ochorowicz, Julian (1850 - 1917) 217
Ostwald, Wilhelm (1853 - 1932) 101, 167
Planck, Max (1858- 1947) 263, 265, 266
Plato (427-347 v.Chr.) 16
Poincare, Henri (1854 - 1912) 263, 265
Prel, Karl du (1839- 1899) 217
Ptolomaus, Claudius (um 100 - um 160)
161, 163
Raffael, Santi (1483 - 1520) 206
Redi, Francesco (1626 - 1697) 170
Rittelmeyer, Friedrich (1872- 1938) 188,
190
Rochas d'Aiglun, Eugene-Auguste-Albert
de (1837 - 1914) 114, 217
Rubner, Max (1854- 1932) 172, 111
Saint-Martin, Louis Claude de (1743 -
1803) -55, 59
Scheler, Max (1874 - 1928) 112
Schiaparelli, Giovanni Virginio (1835 -
1910) 217
Schiller, Friedrich (1759 - 1805) 47, 49,
237
Schramm, Heinrich (Lebensdaten nicht be-
kannt) 100, 165 (jeweils ohne Namens-
nennung), 166, 167
Sokrates (um 470 - 399 v.Chr.) 80
Steiner, Rudolf (1861 - 1925) 187, 188, 196
Thompson, Joseph John (1856 - 1940) 266
Tyndall, John (1820 - 1892) 98
Vischer, Friedrich Theodor («Schwaben-
Fischer*; 1807 - 1887) 101
Wallace, Alfred Russell (1823 - 1913) 217
Wiesner, Julius Ritter von (1838 - 1916)
170
Wrangell, Ferdinand von (1849 - 1919)
87, 89, 96, 100, 103-114, 116, 125-131,
134, 139, 144, 145, 148, 150, 171, 177,
180, 182, 184, 187, 190, 195, 200, 202,
214, 217, 221, 222, 224, 225, 228, 230,
231
Zimmermann, Robert (1824 - 1898) 122
Zollner, Friedrich (1834 - 1882) 217
REGISTER DER WERKE
(Die kursiv gesetzte Zahl gibt jeweils die Seite an, zu der ein Hinweis besteht.)
Blei, Franz
Wahrheiten 245
Delle Grazie, Marie Eugenie
Gedichte 117-121
Um Mitternacht 117
Robespierre 123
Satanide 123
Goethe, Johann Wolfgang von
Faust 85, 130
Italienische Reise 45
Metamorphose der Pflanzen 39, 45, 46,
64, 236
Metamorphose der Tiere 39, 45, 46, 64,
236
Prometheus 49
Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt
und Objekt 132
Wilhelm Meister 49, 64
Kant, Immanuel
Vorlesungen iiber Psychologie 224
Lessing, Gotthold Ephraim
Erziehung des Menschengeschlechts 222
Nathan 223
Nietzsche, Friedrich
Antichrist 247
Die Immoralisten 247
Der Wille zur Macht 247
Rittelmeyer, Friedrich
Zwei Bauten deutscher Zukunft 189
Steiner, Rudolf
Das Christentum als mystische Tatsache 69
Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte
der Geisteswissenschaft 241, 243
Friedrich Nietzsche, ein Kampfer gegen
seine Zeit 247
Geheimwissenschaft 61, 62, 77, 186
Die geistige Fuhrung des Menschen und
der Menschheit 41
Goethes Naturwissenschaftliche Schriften
44, 132, 134
Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung 209
Haeckel und seine Gegner 208
Mysteriendramen 40, 60, 69
Ratsel der Philosophic 74, 103 , 1 13 , 192,
235
Theosophie 248
Wahrheit und Wissenschaft 134, 136
Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren
Welten? 31, 34, 35, 38-40, 43, 80, 175-
177, 184, 218, 238
Wrangell, Ferdinand von
Wissenschaft und Theosophie 87,59, 145,
148, 180, 230
Zimmermann, Robert
Aesthetik 122
Geschichte der Aesthetik 122
UBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN
Aus Rudolf Steiners Autobiographie
«Mein Lebensgang» (33. Kap., 1925)
Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse
vor; erstens meine vor aller Welt veroffentlichten Biicher, zweitens eine
grofle Reihe von Kursen, die zunachst als Privatdruck gedacht und verkauf-
lich nur an Mitglieder der Theosophischen (spater Anthroposophischen)
Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei den Vor-
tragen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die - wegen man-
gelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir ware es am
liebsten gewesen, wenn miindlich gesprochenes Wort miindlich gespro-
chenes Wort geblieben ware. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck
der Kurse. Und so kam er zustande. Hatte ich Zeit gehabt, die Dinge zu
korrigieren, so hatte vom Anfange an die Einschrankung «Nur fur Mit-
glieder* nicht zu bestehen gebraucht. )etzt ist sie seit mehr als einem
Jahre ja fallen gelassen.
Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, wie
sich die beiden: meine veroffentlichten Biicher und diese Privatdrucke in
das einfugen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.
Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten fiir das Hinsteilen der
Anthroposophie vor das Bewufitsein der gegenwartigen Zeit verfolgen will,
der mufi das an Hand der allgemein veroffentlichten Schriften tun. In
ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnis-
streben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in «geistigem
Schauen» immer mehr gestaltete, was zum Gebaude der Anthroposophie -
allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art - wurde.
Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und da-
bei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der
Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu iibergeben hat, trat
nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der Mit-
gliedschaft heraus als Seelenbedurfnis, als Geistessehnsucht sichoffenbarte.
Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien und
den Schrift-Inhalt der Bibel iiberhaupt in dem Lichte dargestellt zu horen,
das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursen
liber diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen horen.
Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten
wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vortragen waren nur Mit-
glieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposophie be-
kannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorgeschrittenen auf
dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser internen Vortrage
war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein konnte, die ganz fur die
Offentlichkeit bestimmt waren.
Ich durfte in internen Kreisen in einer Art iiber Dinge sprechen, die
ich fur die offentliche Darstellung, wenn sie fur sie von Anfang an be-
stimmt gewesen waren, hatte anders gestalten milssen.
So liegt in der Zweiheit, den ofFentlichen und den privaten Schriften, in
der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergriinden stammt. Die
ganz offentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang und
arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft mit. Ich
hore auf die Schwingungen im Seelenleben der Mkgliedschaft, und in
meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da hore, entsteht die
Haltung der Vortrage.
Es ist nirgends auch nur in geringstem Mafie etwas gesagt, was nicht
reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie ware. Von irgend
einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mitgliedschaft
kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann sie im vollsten
Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalb
konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach dieser Richtung zu
drangend wurden, von der Einrichtung abgegangen werden, diese Drucke
nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hinge-
nommen werden miissen, daft in den von mir nicht nachgesehenen Vor-
lagen sich Fehlerhaftes findet.
Ein Urteil iiber den In halt eines solchen Privatdruckes wird ja allerdings
nur demjenigen zugestanden werden konnen, der kennt, was als Urteils-
Voraussetzung angenommen wird. Und das ist fur die allermeisten dieser
Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des
Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird, und
dessen, was als « anthroposophische Geschichte» in den Mitteilungen aus
der Geist-Welt sich findet.